22.03.2023 A: Sozialrecht Schweigler: Beitrag A4-2023

Abschied vom Sachleistungssurrogat oder Bärendienst für Leistungsberechtigte? – Anmerkung zu Urteil des BSG vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R

Die Autorin Daniela Schweigler bespricht in diesem Beitrag das Urteil des 8. Senats des BSG vom 11. August 2022  (B 8 SO 3/21 R). Das BSG hatte entschieden, dass Leistungen der Eingliederungshilfe, die rechtmäßig begünstigend in Form eines Persönlichen Budgets bewilligt worden sind, nicht nach § 47 Abs 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden dürfen. Die Vorschrift lasse den Widerruf für die Vergangenheit nur für Leistungen zu, deren Zweck im Verwaltungsakt oder in einbezogenen untergesetzlichen Regelungen bestimmt ist. Das Persönliche Budget als Leistungsform sei aber an die gesetzlichen Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe gebunden. Über den gesetzlich vorgegebenen Anspruchsinhalt hinaus seien durch den bewilligenden Verwaltungsakt lediglich Präzisierungen und Konkretisierungen zulässig, die aber weder eine originäre Zweckbestimmung noch daraus resultierende Verhaltenspflichten des Leistungsempfängers begründen können.

Die Autorin kritisiert insbesondere, dass sich der 8. Senat mit dieser Entscheidung in Widerspruch zur Konzeption des Persönlichen Budgets als Sachleistungssurrogat (Sachleistungsersatz) mit strikter Zweckbindung setzt, auch wenn er vorgibt, daran im Grundsatz festzuhalten. Indem die Entscheidung nicht klar zwischen den allgemeinen (Eingliederungs-)Zielen der Sozialleistung einerseits und der Zweckbestimmung im Sinne der konkreten Budgetverwendung andererseits unterscheide, komme sie zu nicht überzeugenden Schlüssen.

(Zitiervorschlag: Schweigler: Abschied vom Sachleistungssurrogat oder Bärendienst für Leistungsberechtigte? – Anmerkung zu Urteil des BSG vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R; Beitrag A4-2023 unter www.reha-recht.de; 22.03.2023)

I. Thesen der Autorin

  1. Der 8. Senat des BSG setzt sich mit dieser Entscheidung in Widerspruch zur Konzeption des Persönlichen Budgets als Sachleistungssurrogat (Sachleistungsersatz) mit strikter Zweckbindung, auch wenn er vorgibt, an der „strikten Zweckbindung“ im Grundsatz festzuhalten.
  2. Indem die Entscheidung nicht klar zwischen den allgemeinen (Eingliederungs-)Zielen der Sozialleistung einerseits und der Zweckbestimmung im Sinne der konkreten Budgetverwendung andererseits unterscheidet, kommt sie zu nicht überzeugenden Schlüssen.
  3. Durch die Entscheidung entstehen neue Inkonsistenzen, die vermeidbar gewesen wären, wenn das BSG sich auf die Frage der Bestimmtheit der Zweckfestlegung im konkreten Fall konzentriert hätte.
  4. Die Entscheidung dürfte wenig zur Klärung der vielen Streitfragen rund um das Persönliche Budget beitragen – im Gegenteil.
  5. Es muss damit gerechnet werden, dass Sozialleistungsträger künftig umso mehr auf eine sehr eng definierte Zweckbestimmung achten, um so doch noch den Anwendungsbereich von § 47 Abs. 2 SGB X potenziell offen zu halten. Den Leistungsberechtigten hätte das BSG damit einen Bärendienst erwiesen.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Die Aufhebung einer Leistungsbewilligung für die Vergangenheit auf der Grundlage von § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB X setzt voraus, dass der Leistungszweck im Bewilligungsbescheid bestimmt ist. Der Bescheid muss eine originäre verhaltenssteuernde Zweckbestimmung in dem Sinne enthalten, dass er von der oder dem Begünstigten ein bestimmtes Verhalten fordert.
  2. Dies ist bei der Bewilligung einer Teilhabeleistung in Form eines Persönlichen Budgets nicht der Fall, weil deren Leistungszwecke sich abschließend aus dem Gesetz ergeben. Die Bewilligung eines Persönlichen Budgets hat nicht zur Folge, dass der gesetzliche Leistungszweck verändert oder die Verantwortung für die Erreichung der Eingliederungsziele auf die leistungsberechtigte Person verlagert würde.
  3. Soweit der Bewilligungsbescheid und/oder die Zielvereinbarung (§ 29 Abs. 4 SGB IX) Näheres über die Verwendung des Budgets und den Nachweis der Mittelverwendung regelt, handelt es sich dabei lediglich um Konkretisierungen der gesetzlichen Zweckbestimmung und nicht um eine originäre Zweckbestimmung durch Verwaltungsakt.
  4. Wegen eines fehlenden Verwendungsnachweises kommt daher eine rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligung gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB X nicht in Betracht.
  5. Der Leistungsträger hat sich stattdessen auf die Regelungen zur Mitwirkung in §§ 60, 66 SGB I zu stützen, um die zweckentsprechende Mittelverwendung im Rahmen der Amtsermittlung zu prüfen und gegebenenfalls das Persönliche Budget zu versagen oder zu entziehen.

III. Der Sachverhalt

1. Ausgangslage und Leistungsbewilligung

Der 2003 geborene Kläger lebte bei seinen Eltern. Sein umfassender Unterstützungsbedarf wurde zunächst hauptsächlich durch seine Mutter gedeckt. Nachdem zunächst ab 2009 ein Persönliches Budget zur Ergänzung und Unterstützung der elterlichen Pflege- und Betreuungsleistungen gewährt worden war, gewährte der Träger der Eingliederungshilfe – seinerzeit noch auf der Grundlage des SGB XII – mit Bescheid vom 2. Oktober 2012 das streitgegenständliche Persönliche Budget in Höhe von monatlich 7.750 Euro. Der Bewilligungsbescheid nahm Bezug auf die zuvor abgeschlossene Zielvereinbarung vom 27. September 2012.

2. Zielvereinbarung

In deren Ziffer 1 waren die individuellen Förder- und Leistungsziele[1] umschrieben, wobei als übergeordnete Ziele der Verbleib im Haushalt der Eltern und die Ermöglichung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft festgehalten wurden.[2] Ziffer 3 der Zielvereinbarung befasste sich mit der Mittelverwendung und dem Verwendungsnachweis.[3] Dort war festgehalten, dass die Geldleistungen dafür zu verwenden seien, „geeignete Unterstützungsleistungen einzukaufen“ sowie dass die Eltern beabsichtigten, dazu in erster Linie den – vom Vater des Kläger mitgegründeten – Verein L e.V. in Anspruch zu nehmen. Eine detaillierte Festlegung der zulässigen Mittelverwendung – etwa durch die verbindliche Benennung konkreter Dienstleistungen eines konkreten Leistungserbringers – enthielt die Zielvereinbarung nicht. Zum Verwendungsnachweis wurde unter Ziffer 3 der Zielvereinbarung festgelegt, dass die „zweckentsprechende Verwendung der Mittel […] durch die Vorlage der Abrechnungen des leistungserbringenden Vereins L e.V. oder anderer Leistungserbringer nachzuweisen“ war.[4]

3. Aufhebungsbescheid und Rückforderung

Nachdem der Träger der Eingliederungshilfe ein Jahr nach der Bewilligung (02.10.2013) erstmals die Eltern des Klägers aufgefordert hatte, die zweckentsprechende Mittelverwendung durch Vorlage von Nachweisen zu dokumentieren, entwickelte sich ein längerer Schriftwechsel zwischen dem Leistungsträger und dem Vater des Klägers. Dieser Schriftwechsel zog sich über fast zwei Jahre hin, es folgten auch – letztlich fruchtlose – Nachforschungen beim L e.V., ein Hausbesuch beim Kläger, telefonische und persönliche Gespräche mit dessen Eltern sowie ein Amtshilfeersuchen bei der Pflegekasse.[5] Nachdem der Träger der Eingliederungshilfe nach alledem die zweckentsprechende Mittelverwendung nicht als nachgewiesen ansah, widerrief er nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 15. Juni 2016 die Bewilligung des Persönlichen Budgets für den Zeitraum von September 2012 bis Mai 2015 gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X und forderte zugleich den Kläger zur Rückzahlung der gewährten Leistungen im Umfang von 250.800 Euro auf.

IV. Die Entscheidung

Nachdem die Klage gegen den Aufhebungsbescheid beim SG Koblenz[6] und beim LSG Rheinland-Pfalz[7] erfolglos geblieben war, gab das BSG der Revision mit Urteil vom 11. August 2022 statt und hob die Urteile der Instanzgerichte sowie den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid auf.

Der beklagte Träger der Eingliederungshilfe habe den Bewilligungsbescheid nicht auf der Grundlage von § 47 Abs. 2 Satz 1 SGB X widerrufen können. Diese Vorschrift sei nur anwendbar auf Fälle, in denen der Leistungsbescheid eine originäre, konkrete Zweckbestimmung im Sinne einer Aufforderung des Adressaten zu einem bestimmten Verhalten enthalte. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weil auf die gewährte Leistung ein gesetzlicher Anspruch bestehe, der der Behörde lediglich Raum für Präzisierungen und Konkretisierungen, nicht aber für eine originäre Zweckbestimmung lasse. Welche Rechtsnatur der Zielvereinbarung zukommt und in welchem Verhältnis sie zum Bewilligungsbescheid steht, könne offenbleiben, weil es jedenfalls an einer Regelungswirkung fehle.

Im Ergebnis sei daher eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung wegen fehlender Verwendungsnachweise nicht möglich. Der Leistungsträger sei zur Nachhaltung der Zielerreichung vielmehr darauf verwiesen, nach den allgemeinen Regeln der Amtsermittlung und der Mitwirkungspflichten (§§ 60 ff. SGB I) Belege vom Leistungsempfänger zu fordern und gegebenenfalls die Leistung auf der Grundlage von § 66 SGB I zu versagen oder zu entziehen.

V. Würdigung/Kritik

Die Entscheidung mag im Ergebnis im konkreten Fall richtig sein. Die Begründung überzeugt indes dogmatisch nicht. Indem es nicht klar zwischen den (Eingliederungs-)Zielen der Sozialleistung einerseits und der Zweckbestimmung im Sinne der konkreten Budgetverwendung andererseits unterscheidet, vermischt das BSG zwei Ebenen, die zwingend zu trennen sind (dazu 1.). Es überzeugt auch nicht, wenn das BSG allein aus dem Rechtsanspruch auf die Unzulässigkeit eines behördlich bestimmten Verwendungszwecks schließt (dazu 2.). Damit setzt es sich auch in Widerspruch zur (BSG-)Rechtsprechung, wonach das Persönliche Budget als Sachleistungssurrogat einer „strikten Zweckbindung“ unterliegt (dazu 3.). Für die Praxis stellen sich nun Fragen nach den zulässigen Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung und zu den Folgen für Budgetempfängerinnen und -empfänger (dazu 4.).

1. Allgemeine Gesetzesziele versus Zweckbindung einer Geldleistung

Das BSG betont in seiner Entscheidung im Grundsatz zutreffend, dass § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X nur solche Leistungsbewilligungen erfasst, die eine konkrete Zweckbestimmung enthalten, die über die gesetzliche Zweckbestimmung hinausgeht, diese also nicht lediglich wiederholt, präzisiert oder durch eine Nebenbestimmung ergänzt.[8] Um diese Aussage zu untermauern, zitiert das BSG zwei Entscheidungen, die bei genauerem Hinsehen eher geeignet gewesen wären, zu anderen Schlussfolgerungen zu kommen:

Im Urteil des BSG vom 14. Dezember 2000[9] ging es um Leistungen an Arbeitgeber zur Förderung der Einstellung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen.[10] Das BSG unterschied dort ausdrücklich zwischen den „mittelbar mit der Zuschußgewährung verfolgten Ziele[n]“ und einer „die Verwendung der gezahlten Zuschüsse betreffende[n] Bestimmung, daß der Kläger den Arbeitsentgeltzuschuß zB nur zur Zahlung des Nettolohnes, der Lohnsteuer des Arbeitnehmers oder dessen Sozialversicherungsbeiträge verwenden darf“.[11] Letzteres war aber im konkreten Fall dem Bewilligungsbescheid nicht zu entnehmen, weshalb die Aufhebung nicht auf § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X gestützt werden konnte.

Auch in der zweiten zitierten Entscheidung[12] betonte das BSG diese Unterscheidung: Eine allgemeine Zweck- und Zielsetzung einer Sozialleistung – im konkreten Fall: Elterngeld – eröffnet danach den Anwendungsbereich von § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X nicht. Dieser sei nur eröffnet bei „Verwaltungsakte[n], die das erkennbare Ziel haben, vom Begünstigten ein bestimmtes Verhalten einzufordern“, was aber bei der Bewilligung von Elterngeld nicht in Betracht komme.[13]

Diese präzise Unterscheidung lässt die Entscheidung vom 11. August 2022 vermissen. Wenn das BSG dort betont, dass die Bewilligung des Persönlichen Budgets nicht zur Folge habe, dass die „Verantwortung für die Erreichung der vom Gesetz vorgegebenen Eingliederungsziele […] auf den Leistungsempfänger verlagert würde“, ist dies zwar richtig. Allerdings geht es darum nicht. So werden beispielsweise auch bei der Gewährung von Finanzhilfen an Kindertagesstätten deren Träger nicht im Sinne einer Zielerreichung dafür verantwortlich gemacht, im Ergebnis etwa „den natürlichen Wissensdrang des Kindes und seine Freude am Lernen zu stärken“[14] – sehr wohl aber für die zweckentsprechende Mittelverwendung von Finanzhilfen für Personalausgaben.[15]

Entscheidend für die Anwendbarkeit von § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X ist also, ob der Bewilligungsbescheid zulässigerweise eine hinreichend bestimmte[16] Zweckbestimmung im Sinne einer Regelung über die konkrete Mittelverwendung enthält.

Im konkreten Fall war tatsächlich zweifelhaft, ob die in den Bewilligungsbescheid einbezogene Zielvereinbarung hinsichtlich der zulässigen Mittelverwendung hinreichend konkret war. Insbesondere war unter deren Ziffer 3 weder verbindlich bestimmt, welche Leistungen genau mit dem Budget „eingekauft“ werden dürften, noch bei welchem Leistungserbringer. Insofern hätten gute Gründe vorgelegen, das Vorliegen einer Zweckbestimmung mangels hinreichender Bestimmtheit zu verneinen und aus diesem Grund im konkreten Fall den Widerrufsbescheid aufzuheben.

2. Rechtsanspruch versus „originäre Zweckbestimmung“

Darüber ging das BSG aber in den Entscheidungsgründen ohne Not weit hinaus, indem es generell die Zulässigkeit einer originären Zweckbestimmung verneinte, die zu einer Anwendung von § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X führen könnte: Weil bei Erfüllung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen ein Rechtsanspruch bestehe, sei kein Raum für eine „originäre Zweckbestimmung“ im Bewilligungsbescheid.[17]

Damit setzt sich das BSG in Widerspruch zu der von ihm selbst zitierten Begründung im Regierungsentwurf zu § 49 VwVfG, dem § 47 SGB X nachgebildet ist[18]: Dort wird ausdrücklich betont, in § 49 Abs. 3 VwVfG einbezogen werden sollten auch „Leistungen, auf die der Empfänger einen dem Grund und der Höhe nach unmittelbar durch Rechtsvorschriften begründeten Anspruch hat“. Es gehe auch um „Fälle, in denen zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks unmittelbar auf Grund gesetzlicher Regelung eine Leistung gewährt […] wird“.[19]

Auch hier kann das Beispiel der Personalkostenzuschüsse an Kindertagesstätten dienen: Auf diese besteht in der Regel bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen ein gebundener Anspruch.[20] Dennoch dürfte niemand in Zweifel ziehen, dass die Behörde den konkreten Verwendungszweck (etwa: Deckung von Personalkosten in einer bestimmten Einrichtung in einem bestimmten Zeitraum) bestimmen darf (und tunlichst sollte).

Der Umstand, dass auf die Teilhabeleistung selbst und auf ihre Ausführung als Persönliches Budget ein Rechtsanspruch besteht, hindert also nicht von vornherein eine Zweckbestimmung im Bescheid, die auch den Anwendungsbereich von § 47 Abs. 2 SGB X eröffnen kann.

3. Sachleistungssurrogat und „strikte Zweckbindung“

Der 1. Senat des BSG hat bereits 2016 betont, dass das Persönliche Budget einer „strikten Zweckbindung“ unterliege.[21] Auf diese Entscheidung bezieht sich der 8. Senat auch im Rahmen des Urteils vom 11. August 2022, meint aber, diese „strikte Zweckbindung“ folge aus dem Gesetz und könne dementsprechend nicht originär durch den Bewilligungsbescheid – gegebenenfalls in der Zusammenschau mit der Zielvereinbarung – festgelegt werden.[22]

Diese Ausführungen überzeugen dogmatisch nicht. Sie passen insbesondere nicht zur Konzeption des Persönlichen Budgets als Sachleistungssurrogat, die maßgeblich durch das BSG mit ausbuchstabiert wurde und im Kern davon ausgeht, dass das Persönliche Budget eine bestimmte, ansonsten zu gewährende Sachleistung ersetzt.[23] Die „strikte Zweckbindung“ besteht nach diesem Verständnis darin, dass das Budget nur in der im Bescheid bzw. der Zielvereinbarung festgelegten Weise verwendet werden darf und gerade keine zur (mehr oder weniger) freien Verwendung offene Pauschalleistung ist wie etwa das Landesblindengeld und wohl auch die „pauschale Geldleistung“ nach § 105 Abs. 3 SGB IX[24]. Die konkrete Zweckfestsetzung – verstanden als konkret zulässige Verwendungsweise – kann aber erst im Bescheid erfolgen. Ebenso wie bei der Sachleistung, die das Budget ersetzen soll, kann erst im konkreten Einzelfall – und damit nicht auf gesetzlicher Ebene – bestimmt werden, durch welche konkreten Dienstleistungen welches konkreten Leistungserbringers der festgestellte Bedarf gedeckt werden soll. Ob diese Zweckfestsetzung jeweils im konkreten Fall den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots[25] genügt, ist auf der Einzelfallebene zu prüfen.

Dieses Verständnis klingt auch in Rn. 18 des Urteils vom 11. August 2022 an, wo der 8. Senat – im Widerspruch zu den übrigen Entscheidungsgründen – andeutet, dass er die Festlegung auf einen „bestimmten Leistungserbringer“ bzw. einen „ganz konkreten Leistungsinhalt“ als Begründung einer originären Verhaltenspflicht und damit als Zweckbestimmung im Sinne von § 47 Abs. 2 SGB X angesehen hätte, die lediglich im konkreten Fall fehlte.

Es gibt durchaus gute Gründe, die Konzeption des Persönlichen Budgets als Sachleistungssurrogat mit strikter Zweckbindung zu kritisieren.[26] Der 8. Senat des BSG scheint aber im Urteil vom 11. August 2022 davon im Grundsatz nicht abrücken zu wollen. Vor diesem Hintergrund entstehen durch die vorliegende Entscheidung neue Inkonsistenzen, die vermeidbar gewesen wären, wenn das BSG sich auf den konkreten Fall und die Frage der Bestimmtheit der dortigen Zweckfestlegung konzentriert und auf die darüberhinausgehenden Ausführungen verzichtet hätte.

4. Mögliche Folgen für die Praxis

Die Entscheidung dürfte wenig zur Klärung der vielen Streitfragen rund um das Persönliche Budget beitragen – im Gegenteil.

Etwas voreilig wurde bereits am Tag der BSG-Entscheidung der Schluss gezogen, „dass Leistungsberechtigte, die ein persönliches Budget in Anspruch nehmen, keinen Verwendungsnachweis über die Verwendung der Mittel erbringen müssen.“[27] Dies lässt sich allerdings den Entscheidungsgründen keinesfalls entnehmen, denn der 8. Senat hält an der – wie auch immer genau verstandenen – „strikten Zweckbindung“ fest. Die Auffassung, wonach Sozialleistungsträgern nur die Möglichkeit bleibe, die Vorlage von Belegen auf Basis der allgemeinen Mitwirkungspflichten (§§ 60 ff. SGB I) von den Leistungsempfängerinnen zu verlangen[28], würde allerdings die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung erheblich verengen, denn eine Entziehung der Leistung nach § 66 Abs. 1 SGB I ist nur zukunftsbezogen möglich.[29] Die Sachverhaltsermittlung kann – wie nicht zuletzt dieser Fall zeigt – lange Zeit in Anspruch nehmen.

Es muss daher damit gerechnet werden, dass die Sozialleistungsträger unter Berufung auf Randnummer 18 der Entscheidungsgründe künftig umso mehr auf eine sehr eng definierte Zweckbestimmung im Sinne „der Beauftragung eines bestimmten Leistungserbringers“ und „eines ganz konkreten Leistungsinhalts“ achten, um so doch noch den Anwendungsbereich von § 47 Absatz 2 SGB X potenziell offen zu halten. Dem Zweck des Persönlichen Budgets, den Leistungsberechtigten eine möglichst große Flexibilität zu belassen, hätte das BSG damit einen Bärendienst erwiesen.

In diesen Fällen dürfte es dann auch weiterhin Kontroversen darüber geben, wie die Rechtslage ist, wenn keine Einigkeit über die Formulierung der Zielvereinbarung erreicht werden kann. Nach der neueren Formel des BSG von der Zielvereinbarung als „allenfalls formale Voraussetzung“[30] für den Erlass des Bewilligungsbescheids dürfte die Praxis dahin gehen, die Zielvereinbarung unter Vorbehalt zu unterschreiben und die Streitigkeit im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren um den Bescheid auszutragen. Jedenfalls im Hinblick auf die Feststellung des Bedarfs und die Höhe des Budgets dürfte dies nach der Entscheidung des BSG vom 28. Januar 2021 der naheliegende Weg sein, da das BSG insoweit eine materielle Bindungswirkung der Zielvereinbarung verneint.[31] Fraglich bleibt, ob Leistungsberechtigte auch im Hinblick auf eine Klausel zum Verwendungszweck so vorgehen sollten. Versteht man die Bindung des Budgets an die Verwendung für konkrete Leistungen eines konkreten Leistungserbringers im Sinne des Sachleistungssurrogats als Spiegelbild des Auswahlermessens (§§ 28, 36 Abs. 2 SGB IX[32]), könnte § 53 Abs. 2 SGB X hier zu einer anderen Bewertung führen.

Das BSG dürfte also früher oder später erneut Gelegenheit bekommen, sich zur Rechtsqualität der Zielvereinbarung und zur Zulässigkeit von Verwendungsvorgaben zu positionieren.

Beitrag von Prof. Dr. Daniela Schweigler, Universität Duisburg-Essen

Fußnoten

[1] Vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BudgetV.

[2] Für Einzelheiten vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 26.11.2020 – L 1 SO 91/19, juris Rn. 8.

[3] Vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BudgetV.

[4] Für Einzelheiten vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 26.11.2020 – L 1 SO 91/19, juris Rn. 10.

[5] Für Einzelheiten vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 26.11.2020 – L 1 SO 91/19, juris
Rn. 15–32.

[6] SG Koblenz Urteil vom 03.04.2019– S 1 SO 164/17.

[7] LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.11.2020 – L 1 SO 91/19.

[8] BSG, Urteil vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R, juris Rn. 15.

[9] Az. B 11 AL 63/00 R.

[10] Rechtsgrundlage war § 33 Abs. 2 SchwbG.

[11] BSG, Urteil vom 14.12.2000 – B 11 AL 63/00 R, BSGE 87, 219, juris Rn. 19.

[12] BSG, Urteil vom 21.02.2013 - B 10 EG 12/12 R.

[13] BSG, Urteil vom 21.02.2013 – B 10 EG 12/12 R, juris Rn. 38.

[14] Vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 Niedersächsisches Kindertagesstättengesetz.

[15] Vgl. § 24 Niedersächsisches Kindertagesstättengesetz.

[16] Dazu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 49 Rn. 101; Schoch, in: Schoch/Schneider, 3. EL August 2022, VwVfG § 49 Rn. 169, jeweils m. w. N.

[17] BSG, Urteil vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R, juris Rn. 16.

[18] Bundestags-Drucksache 13/1534, S. 8.

[19] Bundestags-Drucksache 13/1534, S. 6; ebenso im Hinblick auf das Bedürfnis, dies im SGB X parallel zu regeln: Bundestags-Drucksache 13/1534, S. 8.

[20] Vgl. z.B. § 24 Abs. 1 Satz 1 Niedersächsisches Kindertagesstättengesetz; § 32 Abs. 1 Satz 1 Hessisches Kinder- und Jugendhilfegesetzbuch.

[21] BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 19/15 R, juris Rn. 19 ff.

[22] BSG, Urteil vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R, juris Rn. 19.

[23] Vgl. BSG, Urteil v. 31.01.2012 – B 2 U 1/11 R, juris Rn. 40; BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 19/15 R, juris Rn. 19 ff.; auch noch in BSG, Urteil vom 28.1.2021 – B 8 SO 9/19 R, juris Rn. 35: „Das PB als Form der Leistung folgt vielmehr den Regelungen über die Leistung selbst“; ausführlich: Schweigler, SGb 2019, 661–668.

[24] Vgl. dazu Rosenow, in: Fuchs/Ritz/Rosenow, 7. Aufl. 2021, SGB IX § 116 Rn. 18.

[25] Dazu Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 49 Rn. 101; Schoch, in: Schoch/Schneider, 3. EL August 2022, VwVfG § 49 Rn. 169, jeweils m. w. N.

[26] Ausführlich: Schweigler, SGb 2019, 661–668.

[27] Rosenow, Eingliederungshilfe: Kein Widerruf der Bewilligung eines persönlichen Budgets, Meldung vom 11.08.2022, abrufbar unter https://sozialrecht-rosenow.de/aktuelles.html?month=202208, zuletzt abgerufen am 21.03.2023.

[28] BSG, Urteil vom 11.08.2022 – B 8 SO 3/21 R, juris Rn. 21.

[29] Vgl. Mrozynski, SGB I, 6. Aufl. 2019, SGB I § 66 Rn. 17.

[30] BSG, Urteil vom 28.01.2021 – B 8 SO 9/19 R, juris Rn. 27.

[31] BSG, Urteil vom 28.01.2021 – B 8 SO 9/19 R, juris Rn. 28.

[32] Vgl. Luik in: SWK Behindertenrecht, 3. Aufl. 2022, Teilhabe am Arbeitsleben Rn. 113; O'Sullivan in: jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 36 SGB IX (Stand: 15.01.2018), Rn. 28.


Stichwörter:

Persönliches Budget, Zielvereinbarung, Eingliederungshilfe


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