19.12.2017 A: Sozialrecht Grigoryan: Beitrag A6-2017

Der Fall Çam gegen die Türkei, Anmerkungen zu EGMR 23.02.2016 51500/08

Review Çam v. Turkey, Annotations to EGMR 23.02.2016 – 51500/08

Im vorliegenden Beitrag setzt sich Lilit Grigoryan mit der o.g. Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auseinander. Sie benennt wesentliche Punkte des Falles und der Entscheidung und gibt einen Überblick über mögliche Kritikpunkte.

In dem zugrundeliegenden Fall geht es um eine Schülerin, welcher die Zulassung zu einer Musik-Akademie in der Türkei aufgrund ihrer Sehbehinderung verweigert wurde. Der EGMR stellte eine Verletzung des Art 14. EMRK i. V. m. Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK fest, da die Schülerin aufgrund ihrer Blindheit diskriminiert worden sei, und ihr eine Zulassung verweigert wurde, ohne dass geprüft worden sei, ob geeignete Vorkehrungen ihr eine Ausbildung hätten ermöglichen können.

Diese Entscheidung des EGMR stellt einen wichtigen Schritt für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrem Verbot der Diskriminierung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention dar. Gleichwohl hätte das Gericht der Autorin nach ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 4 UN-BRK feststellen können, wonach der Staat alle geeigneten Maßnahmen zu treffen hat, um Diskriminierung zu verhindern und die Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundrechte zu fördern.

Der Beitrag wurde in englischer Sprache verfasst und auf deutsch übersetzt. Die englische wie deutsche Version stehen auch zum Download als PDF bereit.

(Zitiervorschlag: Grigoryan: Der Fall Çam gegen die Türkei – Anmerkung zu EGMR v. 23.02.2016, Az. 51500/08; Beitrag A6-2017 unter www.reha-recht.de; 19.12.2017. Suggested citation: Grigoryan: Review Çam v. Turkey, Annotations to EGMR 23.02.2016 – 51500/08 in www.reha-recht.de; 19.12.2017)

I. Thesen der Autorin

  • Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stellt einen wichtigen Schritt hinsichtlich der Auslegung des Diskriminierungsverbotes der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) dar.
  • Das Gericht hätte einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 UN-BRK kritisieren müssen, der die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Im Fall Çam gegen die Türkei urteilte der EGMR im Fall einer jungen Frau mit Sehbehinderung, der der Zugang zu einer Ausbildung am türkischen Musikkonservatorium (im Folgenden Konservatorium) verweigert wurde.

Das Gericht setzte sich mit der Diskriminierung (Art. 14 EMRK) in mehreren Dimensionen auseinander. Im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot betont der EGMR die Bedeutung von angemessenen Vorkehrungen, um Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden mit Behinderungen einen diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung zu gewährleisten.

Der EGMR stellt fest, dass die Verweigerung, die Beschwerdeführerin ins Konservatorium aufzunehmen, einzig auf der Tatsache basierte, dass sie blind ist und dass die inländischen Behörden zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass mit Hilfe angemessener Vorkehrungen ihre Unterrichtung in der Einrichtung hätte ermöglicht werden können. Vor diesem Hintergrund stellt das Gericht fest, dass der Beschwerdeführerin die Einschreibung in das Konservatorium ohne objektive und angemessene Begründung, nur aufgrund ihrer Sehbehinderung verweigert wurde.

III. Der Sachverhalt

Die blinde Beschwerdeführerin, geboren 1989, bestand 2004 die Aufnahmeprüfung für das Saiteninstrument „Baglama“ für das Schuljahr 2004/05 am Konservatorium der Technischen Universität Istanbul.

Am 16. September 2004, prüfte eine Ärztekommission des Forschungs- und Trainingskrankenhauses Bakirköy den Fall der Beschwerdeführerin, um zu beurteilen, ob diese die zusätzlichen Anforderungen für einen erfolgreichen Abschluss der Zulassungsprüfung erfüllte, nach denen die Beschwerdeführerin ein Dokument vorlegen musste, welches bestätigt, dass der Aufnahme ins Konservatorium keine medizinischen Gründe entgegenstehen. Eine Woche später legte die Kommission einen Bericht vor, wonach die Beschwerdeführerin in den Abteilungen des Konservatoriums unterrichtet und ausgebildet werden könne, in denen das Sehen nicht erforderlich ist.

Daraufhin wandte sich das Direktorium des Konservatoriums an den Leiter der Ärztekommission, und informierte diesen, dass in allen sieben Abteilungen des Konservatoriums die Sehfähigkeit zwingend erforderlich sei. Er wurde gebeten einen neuen Bericht vorzulegen, ob die Beschwerdeführerin überhaupt in der Lage sei, ihre Ausbildung am Konservatorium vollständig zu absolvieren.

In Reaktion auf die Aufnahmeverweigerung vom 24. September 2004 erhoben die Eltern der Beschwerdeführerin in deren und in ihrem Namen Klage vor dem Istanbuler Verwaltungsgericht gegen das Direktorium des Konservatoriums und forderten die Aufhebung der ablehnenden Entscheidung. Die Beklagte erwiderte daraufhin, dass nach Art. 4 der Richtlinie des Konservatoriums die Aufnahme vom „Fehlen einer Behinderung“ abhänge. Im vorliegenden Fall habe die Verweigerung der Aufnahme nicht auf der Blindheit der Beschwerdeführerin beruht, sondern vielmehr auf der Tatsache, dass sie nicht alle für die erfolgreiche Zulassung notwendigen Unterlagen innerhalb der vorgegebenen Frist eingereicht habe. Darüber hinaus gebe es keine einzige Abteilung im Konservatorium, die eine Ausnahme von den visuellen Anforderungen mache. Außerdem sei das Konservatorium nicht in der Lage, blinde oder auf andere Weise behinderte Menschen auszubilden, da es an entsprechenden Einrichtungen und geschultem Personal fehle. Bereits kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1976 hatte das Konservatorium versucht, einen ähnlichen Fall umzusetzen, dieser scheiterte jedoch aufgrund der mangelnden Braille-Kenntnisse der Lehrkräfte.

Am 29. November 2004 informierte der Leiter der Ärztekommission des Öffentlichen Krankenhauses Bakirköy das Direktorium des Konservatoriums darüber, dass in seinem Bericht vom 16. September 2004 die ursprüngliche Passage „könne in den Abteilungen des Konservatoriums unterrichtet werden, bei denen das Sehvermögen nicht erforderlich ist“ durch „kann keine Ausbildung erhalten“ ersetzt worden sei.

Am 14. Oktober 2005 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Vaters der Beschwerdeführerin als unbegründet ab. Dagegen legten die Eltern der Beschwerdeführerin eine Beschwerde ein, die schließlich auch vom Türkischen Staatsrat abgewiesen wurde.

IV. Wesentliche Einzelheiten der Entscheidung

Die am 22. Oktober 2008 beim EGMR eingereichte Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Republik Türkei war erfolgreich. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass ihr Recht auf Bildung nach Art. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK[1] verletzt wurde und dass sie aufgrund ihrer Blindheit im Sinne des Art. 14 EMRK[2] diskriminiert worden sei. Der EGMR vertrat die Ansicht, dass die Verweigerung, die Beschwerdeführerin ins Konservatorium aufzunehmen, einzig auf der Tatsache basierte, dass sie blind ist, und dass die inländischen Behörden zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit in Betracht gezogen hätten, dass angemessene Vorkehrungen die Situation hätten beheben können. Entsprechend ist das Gericht der Auffassung, dass Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 des Zusatzprotokolls verletzt wurde und entschied, dass die Türkei der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 10.000 € für immateriellen Schaden und 3.000 € für Kosten und Aufwendungen zu zahlen hat.

1. Die Hintergründe des Falles

Mit Verweis auf sein Urteil „Glor gegen die Schweiz“ von April 2009[3] erinnerte der EGMR daran, dass sich der Anwendungsbereich des Art. 14 EMRK auch auf das Verbot von Diskriminierung aufgrund einer Behinderung erstreckt.[4] In diesem Zusammenhang wies das Gericht, unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin behaupteten Diskriminierung aufgrund ihrer Blindheit darauf hin, dass zum Zeitpunkt des Zulassungsantrags der Beschwerdeführerin bereits verschiedene nationale Vorschriften zur Gewährleistung des Rechts auf Bildung für Kinder mit Behinderungen ohne jedwede Diskriminierung in Kraft waren (z. B. Art. 42 der Verfassung, Art. 4, 7, 8 und 27 des Grundgesetzes Nr. 1739 über den staatlichen Unterricht („Gesetz Nr. 1739“) und Art. 9 der Rechtsverordnung Nr. 573 über Spezialausbildung[5]).[6] Der EGMR merkte auch an, dass trotz dieser gesetzlichen Maßnahmen eine Einschreibungsvoraussetzung die Vorlage eines ärztlichen Attests gewesen sei, das die „physische Eignung“ des Bewerbers bzw. der Bewerberin für die Teilnahme am Konservatorium bestätigt. Daher ist der EGMR der Auffassung, dass der Ausschluss von Frau Çam nicht auf Grundlage eines staatlichen Gesetzes sondern gemäß der Verfahrensvorschriften des Konservatoriums erfolgte.[7] Vor diesem Hintergrund wies das Gericht auf die Aussage der Beklagten hin, sie sei nicht in der Lage, Menschen mit Behinderungen jeglicher Art aufzunehmen.[8]

Obwohl der EGMR die Erklärung der Regierung anerkannte, dass die Verfahrensregelungen zur Aufnahme ins Konservatorium keine Vorschriften enthielten, die blinde Personen ausschließen und dass das ärztliche Attest zur Feststellung der „physischen Eignung“ eine verpflichtende Zulassungsvoraussetzung für alle Bewerberinnen und Bewerber sei[9], konnte das Gericht jedoch nicht die Auswirkungen ignorieren, die aus einer solchen Anforderung für Menschen mit einer körperlichen Behinderung folgen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung dieser Verfahrensregelung durch das Konservatorium.[10] Der EGMR stellte fest, dass die Beschwerdeführerin dem Direktorium des Konservatoriums ein ärztliches Attest vorgelegt hatte, das ihre „physische Eignung“ mit einer Einschränkung hinsichtlich des Sehvermögens attestierte.[11] Dennoch lehnte das Konservatorium die Zulassung der Beschwerdeführerin ab und ging sogar so weit, den Leiter der Ärztekommission um die Änderung seines ursprünglichen Berichts zu bitten.[12] Folglich sei zweifelsfrei, dass das Sehvermögen der Beschwerdeführerin der einzige Grund für die Ablehnung der Zulassung war.[13] Dem steht auch nicht die Rechtfertigung des Konservatoriums entgegen, dass die Zulassungsverweigerung mit der Nichteinhaltung administrativer Formalien zusammenhänge, hier im Besonderen das versäumte Vorlegen eines medizinischen Attests eines voll ausgestatteten Krankenhauses.[14] Angesichts der Leichtigkeit, mit der das Konservatorium die Abänderung des Berichts sicherstellte, ging der EGMR davon aus, dass es Frau Çam unmöglich war die körperlichen Anforderungen zu erfüllen, denn deren Definition stand im Ermessen des Konservatoriums.[15] Hinsichtlich des Arguments der Regierung, die Zulassungsbestimmungen des Konservatoriums sollten sicherstellen, dass nur Studierende mit besonderen Talenten die Möglichkeit eines Studiums am Konservatorium erhalten, merkte der EGMR an, dass Frau Çam mit Bestehen der Aufnahmeprüfung bewiesen habe, dass sie für die Aufnahme ins Konservatorium voll qualifiziert ist.[16] In Anbetracht des weiteren Vorbringens der Regierung, dass das Konservatorium zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht über die nötige Infrastruktur verfügt habe um den Bedürfnissen von Studierenden mit Behinderungen gerecht zu werden[17], wiederholte der EGMR zunächst, dass die EMRK Rechte garantieren soll, die zweckmäßig sowie wirksam und nicht theoretisch und illusorisch sind.[18] Des Weiteren hob das Gericht die Notwendigkeit hervor, die sich verändernden Rahmenbedingungen von internationalem und europäischem Recht zu berücksichtigen. Es müsse z. B. auch auf jedweden Konsens zwischen Staaten hinsichtlich zu erreichender Standards reagiert werden.[19] Insbesondere wies es auf die Bedeutung der Grundprinzipien von Universalität und Nicht-Diskriminierung bei der Ausübung des Rechts auf Bildung hin, die in vielen internationalen Texten verankert sind., wie z.B. Art. 15 der revidierten Europäischen Sozialcharta (ESC) [20], Art. 2[21] und 24[22] der  UN-Behindertenrechtskonvention ebenso wie die Definition inklusiver Bildung der UNESCO, nach der Inklusion das Recht aller Lernenden auf qualitativ hochwertige Bildung umfasst, die den grundlegenden Lernbedürfnissen sowie der Entfaltung ihres vollen Potentials gerecht wird, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht oder sozialem und ökonomischem Hintergrund.[23]

Der EGMR ist der Ansicht, dass Art. 14 EMRK im Lichte der Anforderungen der internationalen Texte in Bezug auf angemessene Vorkehrungen gelesen werden muss. Angemessene Vorkehrungen sind als „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen“ zu verstehen, „die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen, und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen  werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt  mit  anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“ (Art. 2 UN-BRK). Solche angemessenen Vorkehrungen helfen, tatsächliche Ungleichheiten zu korrigieren, die ungerechtfertigt sind und daher eine Diskriminierung darstellen.[24]

Das Gericht ist sich bewusst, dass jedes Kind seine spezifischen pädagogischen Bedürfnisse hat und dass dies insbesondere für Kinder mit Behinderungen gilt.[25] Im Bereich der Bildung hat es daher anerkannt, dass angemessene Vorkehrungen von verschiedenen Faktoren abhängen können, seien sie physischer, nicht-physischer, pädagogischer oder organisatorischer Art, hinsichtlich baulicher Zugänglichkeit von Schulgebäuden, Lehrerbildung, Anpassungen des Lehrplans oder geeigneter Ausstattungen.[26] Jedoch sei es nicht Aufgabe des EGMR, die Mittel zur Erfüllung der pädagogischen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen zu definieren. Die nationalen Stellen sind, angesichts ihres direkten und regelmäßigen Kontakts zu den Institutionen ihres Landes, für die Einschätzung örtlicher Bedürfnisse und Bedingungen besser geeignet als ein internationales Gericht.[27] Dennoch erklärte der EGMR ausdrücklich, dass die Staaten beim Treffen von Entscheidungen in diesem Bereich besondere Sorgfalt walten lassen sollen. Es gelte die Auswirkungen auf Kinder mit Behinderungen zu berücksichtigen, deren besondere Verletzlichkeit nicht geleugnet werden könne. Folglich liege auch dann eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung vor, wenn keine angemessenen Vorkehrungen getroffen werden.[28]

Im vorliegenden Fall stellte der EGMR fest, dass die betroffenen inländischen Stellen zu keinem Zeitpunkt den Versuch unternommen haben, die Bedürfnisse der Beschwerdeführerin zu identifizieren, noch klarzustellen, wie ihre Blindheit den Zugang zu einer musikalischen Ausbildung behindert hätte. Ebenso wenig hätten sie je darüber nachgedacht physische Anpassungen vorzunehmen, um den besonderen sich aus der Blindheit ergebenden pädagogischen Bedürfnissen der Beschwerdeführerin gerecht zu werden.[29] Der Gerichtshof konnte nur feststellen, dass das Konservatorium seit 1976 keinen Versuch unternommen habe, seine Lehrmethoden anzupassen, sodass sie für blinde Schülerinnen und Schüler zugänglich sind.[30]

Kommentar - Würdigung/Kritik

Das Urteil des EGMR ist ein wichtiger Schritt in der Auslegung des Diskriminierungsverbots der EMRK im Lichte der UN-BRK. Im vorliegenden Fall hat sich der Staat dafür entschieden eine musikalische Ausbildung anzubieten. Die Einschreibung am Konservatorium setzte voraus, dass die Bewerber im Rahmen einer Zulassungsprüfung spezielle Talente nachweisen, wodurch bestimmten Personen der Zugang zur Ausbildung verwehrt wird. Dabei kann es sich um eine Diskriminierung handeln, falls eine Person oder eine Gruppe ohne rechtmäßige Begründung weniger günstig behandelt wird als andere. Die Klägerin hat die Zulassungsprüfung erfolgreich bestanden und dennoch wurde ihr der Zugang zur Ausbildung verweigert. Der Grund dafür lag offensichtlich in ihrer Sehbehinderung. Der EGMR stellte mit seinem Urteil klar, dass eine Begründung für eine Ungleichbehandlung nicht durch die Anknüpfung an den Tatbestand der Behinderung gerechtfertigt werden kann.

Bezüglich der Rechtfertigung der Regierung, dass das Konservatorium zum maßgeblichen Zeitpunkt über keine angemessene Infrastruktur wie etwa Ressourcen, Ausstattung, technische Ausrüstung oder speziell geschulte Lehrerinnen und Lehrer für die Aufnahme von Studierenden mit Behinderungen verfügte, betonte das Gericht die Bedeutung von angemessenen Vorkehrungen bei der Sicherstellung des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen. Es stellte fest, dass die sich ändernden europäischen und internationalen Rechtsinstrumente berücksichtigt und auf jedweden sich abzeichnenden Konsens hinsichtlich zu erreichender Standards reagiert werden müsse. Dazu zählen z. B. Art. 15 der revidierten Sozialcharta, Art. 2 und 24 der UN-BRK, ebenso wie die Definition von inklusiver Bildung der UNESCO.

Folglich, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin zu keinem Zeitpunkt der Beschwerde angemessene Vorkehrungen einforderte, kann die aktuelle Entscheidung des EGMR, dass das Nichtidentifizieren und Nichtzurverfügungstellen von angemessenen Vorkehrungen eine Verletzung von Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls der EMRK darstellt, in Übereinstimmung mit den Allgemeinen Anmerkungen des Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu Art. 9 UN-BRK verstanden werden. Der Ausschuss sieht in der Pflicht, Zugänglichkeit zu gewährleisten, eine Ex-ante-Pflicht ist, was bedeutet, dass die Pflicht zur Sicherstellung der Zugänglichkeit dem individuellen Antrag auf Zugang zu einem bestimmten Ort oder Nutzung einer bestimmten Dienstleistung vorgeht.[31]

Während der EGMR einen Paradigmenwechsel in seiner Rechtsprechung markiert, indem er mit diesem Urteil[32] das Recht auf angemessene Vorkehrungen anerkennt, lässt es dennoch einige grundlegende Bestimmungen der UN-BRK unberücksichtigt.

Der EGMR stellte angesichts des Vortrags der Beklagten, dass für die Einschreibung ins Konservatorium von allen Bewerberinnen und Bewerbern eine Bescheinigung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gefordert werde, fest, dass die Verwehrung des Zugangs zur Ausbildung am Konservatorium für die Beschwerdeführerin nicht auf Grundlage eines Gesetzes, sondern von Regularien des Konservatoriums erfolgte. Dabei stellte das Gericht keinen Bezug zu Art. 4 UN-BRK her, wonach die Vertragsstaaten verpflichtet sind, sicherzustellen, dass Behörden, Institutionen, Organisationen oder private Unternehmen in Einklang mit der UN-BRK handeln.[33] Der EGMR hätte feststellen können, dass das Zulassungsverfahren zum Konservatorium zwar keinen ausdrücklichen Ausschluss von blinden Personen vornimmt, die zusätzliche Anforderung des medizinischen Gutachtens zur Bestätigung der körperlichen Eignung aber nicht nur für Personen wie die Antragstellerin mit einer körperlichen Behinderung negative Auswirkungen haben kann, sondern auch eine Verletzung der Verpflichtung aus der UN-BRK seitens des Vertragsstaates darstellt. Denn diese haben nach Art. 4 Abs. 1 UN-BRK alle geeigneten Maßnahmen vorzunehmen, einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen.[34]

Der EGMR ist ein auf Grundlage der EMRK eingesetztes internationales Gericht.[35] Es entscheidet über Anträge von Einzelpersonen, Gruppen von Individuen oder einer oder mehrerer Vertragsstaaten, die eine Verletzung der zivilen und politischen Rechte geltend machen, die in der EMRK sowie deren Protokollen festgeschrieben sind.[36] Für die 47 Mitgliedstaaten des Europarats, die die EMRK ratifiziert haben, sind die vom EGMR erlassenen Urteile bindend.[37]

Die Auswirkungen der Entscheidungen des EGMR auf die innerstaatliche Gesetzgebung und administrative Praxis variieren jedoch, da die Mehrheit der Vertragspartner unterschiedliche Wege gewählt haben, die EMRK in ihr nationales Rechtssystem zu integrieren. Sie haben sie entweder in Form von verfassungsrechtlichen Bestimmungen, Gesetzen oder Gerichtsentscheidungen übernommen.

Deutschland verfügt über ein duales System, wenn es um die Anwendung von Verträgen wie etwa der EMRK im deutschen Rechtssystem geht. Nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG), „[bedürfen] Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, [..] der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes.“ Darüber hinaus sollen nach Art. 25 GG allgemeine Regelungen des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sein und zudem den Gesetzen vorgehen und Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohnerinnen und Bewohner des Bundesgebietes erzeugen. Dennoch gilt der Ausdruck „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ nur für Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, nicht jedoch für Verträge. Daher hat die EMRK den gleichen Rechtsstatus wie ein Bundesgesetz, steht also neben allen anderen Bundesgesetzen. Da die EMRK als einfachgesetzliche Regelung ins deutsche Recht aufgenommen wurde, kann die EMRK folglich als internationaler Vertrag nicht unmittelbar vor einem deutschen Gericht geltend gemacht werden.

Somit war früher davon ausgegangen worden, dass die Urteile des EGMR für Deutschland zwar völkerrechtlich bindend sind, nicht jedoch für die Staatsorgane, insbesondere die unabhängige Gerichtsbarkeit, da weder die Konvention noch das GG verlangen, dass ein Urteil des EGMR die Bindungswirkung der Entscheidung eines deutschen Gerichts aufheben kann. Zudem könne der EGMR angesichts der Tatsache, dass die EMRK als einfachgesetzliche Regelung Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist, nicht als übergeordnetes Gericht fungieren, weshalb die deutschen Gerichte entsprechend nicht an die Auslegungen der EMRK durch den EGMR gebunden waren.[38]

Diese Sichtweise ist spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 14. Oktober 2004 überholt, in der das Gericht feststellte, dass die EMRK 1952 durch das deutsche Parlament Teil des deutschen innerstaatlichen Rechts geworden ist.[39] Demnach soll die EMRK von deutschen Gericht ebenso wie auch andere Bundesgesetze angewendet werden, „im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung“. Darüber hinaus machte das BVerfG deutlich, dass die EMRK die Auslegung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze beeinflusst. Die Vorschriften der Konvention sowie die Rechtsprechung des EGMR dienen daher als Auslegungshilfen für deutsche Normen verfassungsrechtlicher Art.[40] Zudem stellte das BVerfG fest, dass die Urteile des EGMR im Hinblick auf das im Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip für alle deutschen Staatsorgane, inklusive der Gerichte, bindend sind. Angesichts der Tatsache, dass die EMRK als Garantie für die Förderung einer gesamteuropäischen Grundrechtsentwicklung dienen soll, ist das BVerfG zudem der Ansicht, dass Art. 1 Abs. 2 GG, der einen besonderen Schutz für den Kernbestand internationaler Menschenrechte bietet, in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Basis für die Verantwortlichkeit, sich bei der Auslegung deutscher Grundrechte an die Konvention zu halten, bildet.[41] Damit wurde klargestellt, dass eine Klage vor dem BVerfG angesichts der Missachtung eines EGMR-Urteils durch ein Staatsorgan möglich ist, da dies durch ein deutsches Grundrecht geschützt wird.[42]

Beitrag von Lilit Grigoryan, Universität Kassel[43]

Fußnoten

[1] „Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“ Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK in der Fassung des Protokolls Nr. 11.

[2] „Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“ Art. 14 EMRK.

[3] Glor gegen die Schweiz, Bsw. 13444/04, Abs. 80.

[4] Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs 55.

[5] AaO., Abs. 16.

[6] AaO., Abs. 56.

[7] AaO., Abs. 57.

[8] AaO., Abs. 17.

[9] AaO., Abs. 49.

[10] AaO., Abs. 59.

[11] AaO., Abs. 11.

[12] AaO., Abs. 14 und 29.

[13] AaO., Abs. 60.

[14] AaO., Abs. 29.

[15] AaO., Abs. 61.

[16] AaO., Abs. 62.

[17] AaO., Abs. 63.

[18] S. Del Río Prada gegen Spanien (GK), Bsw. 42750/09, Abs. 88, EGMR 2013 und Dvorski gegen Kroatien (GK), Bsw. 25703/11, Abs. 82, 20. Oktober 2015; s. a. Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs. 64.

[19] S., mutatis mutandis, Konstantin Markin gegen Russland (GK), Bsw. 30078/06, Abs. 126, EGMR 2012, und Fabris gegen Frankreich (GK), Bsw. 16574/08, Abs. 56, EGMR 2013.

[20] „Jeder behinderte Mensch hat das Recht auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.“ Teil I Abs. 15 ESC.

[21] „[…] bedeutet „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen; […]“

[22] „(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen […]. (4) Um zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen und die Verwendung geeigneter ergänzender und alternativer Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein. (5) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.“

[23] Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs. 64.; Für die Definition von inklusiver Bildung der UNESCO s.: https://www.unesco.de/en/bildung/inklusive-bildung.html.

[24] Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs. 65.

[25] AaO., Abs. 66.

[26] Ebd.

[27] Ebd.

[28] Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs. 67.

[29] Vgl. McIntyre gegen das Vereinigte Königreich, Bsw. 29046/95, 21. Oktober 1998, nicht veröffentlicht.

[30] Çam gegen die Türkei, Bsw. 51500/08, EGMR 2017, Abs. 68.

[31] Allgemeine Anmerkungen Nr. 2 zu Art. 9 Zugänglichkeit, (angenommen am 11. April 2014), Abs 25; s. a. CRPD/C/14/D/21/2014, (angenommen am 21. August 2015).

[32] S. Graeme gegen das Vereinigte Königreich, Bsw. 13887/88, EGMR 1990; Klerks gegen die Niederlande, Bsw. 25212/94, EGMR 1995; McIntyre gegen das Vereinigte Königreich, Bsw. 29046/95, EGMR 1998; Kalkanlı gegen die Türkei, Bsw. 2600/04, EGMR 2009.

[33] Die UN-BRK wurde von der Republik Türkei am 30. März 2007 unterzeichnet und am 28. September 2009 ratifiziert. Das Zusatzprotokoll der UN-BRK wurde am 28. September 2009 unterzeichnet und am 26. März 2015 ratifiziert. Somit hat die UN-BRK, in Kraft getreten gemäß Art. 90 der Türkischen Verfassung, – wie alle anderen Menschrechtskonventionen auch – die gleiche Gesetzeskraft in der Rechtsordnung wie die Verfassung, was bedeutet, dass UN-BRK nicht nur eine Basis für alle rechtlichen und administrativen Regelungen, sondern auch ein Rechtsprinzip darstellt, auf das sich die unabhängigen türkischen Gerichte unmittelbar beziehen können.

[34] S. a. Allgemeine Anmerkungen Nr. 4 zu Art. 24 Bildung, (angenommen am 26. August 2016), Abs. 18 und 19.

[35] „Um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben, wird ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, im Folgenden als ‚Gerichtshof‘ bezeichnet, errichtet. Er nimmt seine Aufgaben als ständiger Gerichtshof wahr.“ Art. 19 EMRK.

[36] Das Gericht in Kürze: www.echr.coe.int/Documents/Court_in_brief_ENG.pdf (englisch) https://www.coe.int/en/web/portal/gerichtshof-fur-menschenrechte (Langversion deutsch).

[37] „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“ Art. 46 Abs. 1 EMRK.

[38] S. den Fall OLG Naumburg vom 30.06.2004 – 14 WF 64/04, Rn. 2D.

[39] Görgülü, BVerfG vom 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, Rn. 31.

[40] Ebd., Abs. 32.

[41] „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Art. 1 Abs. 2 GG; Görgülü, BVerfG vom 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, Rn. 62.

[42] Ebd., Rn. 63.

[43] Übersetzung aus dem Englischen von Alice Dillbahner


Stichwörter:

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Art. 4 UN-BRK, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Menschenrechte, Grundrechte


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