27.05.2015 A: Sozialrecht Nellissen: Beitrag A7-2015

Keine Erstattung von Fahrtkosten durch den Rentenversicherungsträger bei stufenweiser Wiedereingliederung

Die Autorin befasst sich in dem Beitrag mit einem Urteil des Sozialgerichts (SG) Kassel vom 20.05.2014. Das SG hatte sich mit der Frage zu befassen, ob der Rentenversicherungsträger die Fahrtkosten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz während einer Stufenweisen Wiedereingliederung (StW) zu tragen hat. Es kam dabei zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall sei und argumentierte im Wesentlichen damit, dass es sich bei der StW nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handle.

Die Autorin distanziert sich ausdrücklich von dieser Argumentation und stellt überzeugend dar, dass die StW zu den Leistungen der medizinischen Rehabilitation zählt. Insbesondere zeigt sie auf, dass das Urteil des Gerichts im deutlichen Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht. Letztlich betont sie, dass das Urteil des SG Kassel nicht dazu führen sollte, dass sich die Träger der Rentenversicherung sowie andere Träger der medizinischen Rehabilitation ihrer Verantwortung zur Übernahme der im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung anfallenden Begleitkosten nach § 44 Sozialgesetzbuch IX entziehen.

Der Beitrag ist bereits als Anmerkung 3 im JurisPraxisReport Sozialrecht 8/2015 erschienen.

(Zitiervorschlag: Nellissen: Keine Erstattung von Fahrtkosten durch den Rentenversicherungsträger bei stufenweiser Wiedereingliederung; Forum A, Beitrag A7-2015 unter www.reha-recht.de; 27.05.2015)

 


Leitsatz

Gegenüber dem Rentenversicherungsträger besteht während einer von diesem erbrachten stufenweisen Wiedereingliederung kein Anspruch auf Erstattung der Fahrtkosten zwischen Wohnort und Arbeitsplatz.

A.     Problemstellung

Die Entscheidung beschäftigt sich mit der Frage der Zuordnung der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX zur medizinischen Rehabilitation und der Erstattungsfähigkeit von Fahrtkosten im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung.[1]

B.     Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die beklagte Rentenversicherung gewährte der Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitationsmaßnahme. Im Anschluss an diese erfolgte eine stufenweise Wiedereingliederung der zunächst arbeitsunfähigen Klägerin. Während der stufenweisen Wiedereingliederung zahlte die Beklagte der Klägerin Übergangsgeld. Später beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Übernahme der Fahrtkosten für den Weg vom Wohnort zur Arbeit während der stufenweisen Wiedereingliederung. Sie begründete ihren Antrag damit, dass es ihr aufgrund des gering bemessenen Übergangsgeldes nicht möglich sei, die täglichen Fahrten zu ihrem Arbeitsplatz selbst zu finanzieren. Gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten legte die Klägerin Widerspruch ein und trug vor, dass es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handele und die Fahrtkosten in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser stehen würden. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, dass es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handele und die Fahrtkosten daher nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Leistung der medizinischen Rehabilitation stünden.

Das SG Kassel hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen und ausgeführt, dass es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handele. Folglich entstehe auch kein Anspruch auf Erstattung der Fahrtkosten nach den §§ 44, 53 SGB IX. Denn ein solcher komme immer nur als ergänzende Leistung zu der Hauptleistung medizinische (oder berufliche) Rehabilitation in Betracht. Soweit die Beklagte der Klägerin Übergangsgeld gewährt habe, folge diese Leistung unmittelbar aus § 51 Abs. 5 SGB IX.

C.     Kontext der Entscheidung

Die vom SG Kassel vertretene Ansicht, die stufenweise Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX sei keine Leistung der medizinischen Rehabilitation, überrascht. Insbesondere steht sie im Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urt. v. 29.01.2008 – B 5a/5 R 26/07 R – SozR 4-3250 § 51 Nr. 1; Urt. v. 05.02.2009 – B 13 R 27/08 R – SozR 4-3250 § 28 Nr. 3, m. Anm. Gagel, jurisPR-SozR 20/2009 Anm. 3; Urt. v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08 R – BSGE 104, 294, m. Anm. Welti, jurisPR-SozR 12/2010 Anm. 5), wonach es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX um eine eigenständige Leistung der medizinischen Rehabilitation handelt.

Die Argumentation des SG Kassel, dass die klare Trennung der stufenweisen Wiedereingliederung nach § 28 SGB IX von den Leistungen der medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX dafür spräche, dass es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handele, überzeugt nicht. Dass die stufenweise Wiedereingliederung in § 26 Abs. 2 SGB IX nicht ausdrücklich aufgezählt wird, ist angesichts der offenen Aufzählung in § 26 Abs. 2 SGB IX kein Argument, welches gegen eine Leistung der medizinischen Rehabilitation spricht. Vielmehr verdeutlicht die systematische Einfügung in das 4. Kapitel des SGB IX „Leistungen der medizinischen Rehabilitation“, dass die stufenweise Wiedereingliederung zu den Leistungen der medizinischen Rehabilitation gehört (BSG, Urt. v. 20.10.2009 – B 5 R 44/08). Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass Arbeitgeber bzw. berechtigte Personen nicht verpflichtet sind, an einer stufenweisen Wiedereingliederung mitzuwirken (dazu Nellissen in: jurisPK-SGB IX, § 28 Rn. 11).

Eine zur stufenweisen Wiedereingliederung gleichzeitig stattfindende „Hauptleistung“, etwa in Form einer ambulanten medizinischen Rehabilitation ist nicht erforderlich. Entsprechende Anhaltspunkte finden sich weder im SGB IX noch im SGB VI (BSG, a. a. O.). Entscheidend ist allein, dass ein sachlicher Zusammenhang zwischen vorheriger (medizinischer) Rehabilitationsmaßnahme und der stufenweisen Wiedereingliederung besteht. Ein sachlicher Zusammenhang liegt dann vor, wenn am Ende der vorangegangenen Rehabilitationsmaßnahme das Erfordernis einer stufenweisen Eingliederung bereits vorliegt und nur mit einer stufenweisen Wiedereingliederung das Rehabilitationsziel vollständig erreicht werden kann (BSG, Urt. v. 05.02.2009 – B 13 R 27/08 R; vgl. Nellissen in: jurisPK-SGB IX, § 28 Rn. 14.1).

Bei der Klägerin lag diese Voraussetzung vor. Die Klägerin wurde arbeitsunfähig aus der stationären medizinischen Rehabilitation mit der Empfehlung einer stufenweisen Wiedereingliederung entlassen. Sie hat etwa drei Wochen nach der Entlassung mit der Wiedereingliederung begonnen. Damit liegt noch ein sachlicher Zusammenhang zwischen der vorangegangenen medizinischen Rehabilitation und der stufenweisen Wiedereingliederung vor.

Handelt es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung um eine eigenständige Leistung der medizinischen Rehabilitation, ist sie mit dem SGB IX auch zur Regelleistung der Rentenversicherungsträger geworden (vgl. BSG, Urt. v. 29.01.2008 – 5a/5 R 26/07; BSG, Urt. v. 05.02.2009 – B 13 R 27/08 R). Dies gilt auch nicht erst seit der Klarstellung in § 51 Abs. 5 SGB IX zum 01.05.2004 (dazu LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 21.01.2009 – L 2 R 195/08; Schlette in: jurisPK-SGB IX, § 51 Rn. 37). – Dementsprechend hat die Beklagte der Klägerin Übergangsgeld während der stufenweisen Wiedereingliederung gewährt. Der Argumentation des SG Kassel, der Anspruch auf das Übergangsgeld resultiere allein aus § 51 Abs. 5 SGB IX, kann jedoch nicht gefolgt werden. Ein Anspruch auf Übergangsgeld als ergänzende Leistung nach § 44 SGB IX bei einer stufenweisen Wiedereingliederung bestand bereits vor Inkrafttreten des § 51 Abs. 5 SGB IX. Die Einfügung des Abs. 5 erfolgte allein aus Gründen der Klarstellung (vgl. Schlette in: jurisPK-SGB IX, § 51 Rn. 37).

Da es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handelt, hat die Beklagte auch die der Klägerin entstandenen Fahrtkosten für den Weg vom Wohnort zum Arbeitsplatz zu erstatten. Denn nach § 44 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX werden Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch Reisekosten ergänzt. Als Reisekosten, die im Zusammenhang mit der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation anfallen und erstattet werden können, sind Fahrtkosten und Verpflegungskosten sowie Übernachtungskosten anzusehen, § 53 Abs. 1 Satz 1 HS. 1 SGB IX (vgl. Reyels in: jurisPK-SGB IX, § 51 Rn. 37).

D.     Auswirkungen für die Praxis

Die – abzulehnende – Entscheidung des SG Kassel sollte nicht dazu führen, dass sich die Träger der Rentenversicherung aus ihrer Verantwortung zur Übernahme der im Rahmen einer stufenweisen Wiedereingliederung anfallenden Begleitkosten nach § 44 SGB IX stehlen. Gleiches gilt für alle anderen Träger der medizinischen Rehabilitation (§ 6 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3, Nr. 4, Nr. 5, Nr. 6 und Nr. 7 SGB IX).

E.     Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Die Entscheidung des SG Kassel stellt fest, dass einige Berufsgenossenschaften Fahrtkosten im Rahmen von Maßnahmen der Belastungserprobung nach § 26 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX übernehmen. Die Belastungserprobung nach § 26 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX gehört zu den Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Sie kommt in Betracht, um die verbliebene Leistungsfähigkeit einer Person festzustellen (dazu Nellissen in: jurisPK-SGB IX, § 26 Rn. 55 ff.). Bei der Klägerin ging es aber nicht darum festzustellen, zu welchen Leistungen sie noch in der Lage war, sondern um die langsame Gewöhnung an ihre bisherige Tätigkeit.

Beitrag von Prof. Dr. Gabriele Nellissen, Universität Vechta

Fußnoten:

[1] Der Beitrag ist bereits als Anmerkung 3 im JurisPraxisReport Sozialrecht 8/2015 erschienen, Erscheinungsdatum 16.04.2015.


Stichwörter:

Auslegung sozialrechtlicher Vorschriften, Fahrtkosten, Arbeitsunfähigkeit, Medizinische Rehabilitation, Rehabilitationsleistungen, Rehabilitationsträger, Rentenversicherungsträger, Sachlicher Zusammenhang, Stufenweise Wiedereingliederung (StW)


Kommentare (1)

  1. Wolfgang
    Wolfgang 04.07.2023
    Für völlig haltlos halte ich auch folgende zwei Rechtssätze des SG Kassel, 20.05.2014 - S 9 R 19/13 – juris Rn. 21: „Anspruch auf Reisekosten hat die Klägerin auch bereits deshalb nicht, weil sie deren Erstattung nicht zuvor bei der Beklagten beantragt hat und vor Tätigung eigener Aufwendung nicht erst die Entscheidung der Be­klag­ten abgewartet hat.“

    Eine solche Antragsfrist und eine derartige gesetzliche Vorgabe zum Abwarten einer solchen Ge­neh­mi­gung gibt es nicht für Fahrkosten bei StW laut ständ. Rechtsprechung: Nicht für die DRV, nicht für die GKV und auch nicht für andere med. Rehaträger. Das ist frei erfundener und sinnbefreiter Formalismus dieses Sozialgerichts! www.dejure.org/2014,35324

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