09.02.2021 A: Sozialrecht Fuchs: Beitrag A7-2021

Patentrezept – Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“ – Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Bedarfsermittlung gem. § 13 SGB IX

Prof. Dr. Harry Fuchs beurteilt in diesem Beitrag Anspruch und Wirklichkeit der trägerübergreifenden Rahmenvorgaben zur Bedarfsermittlung und -feststellung in der Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess.

Nachdem er die Bedeutung der Bedarfsermittlung für den Reha-Prozess („Schlüssel des Reha-Prozesses“) hervorhebt, geht der Autor auf verschiedene diesbezügliche Anforderungen ein und berichtet über entsprechende empirische Erkenntnisse, die im Rahmen einer Studie zur Implementierung von Instrumenten der Bedarfsermittlung gewonnen wurden. Resümierend stellt der Autor fest, dass es weiterer Entwicklungen für ein trägerübergreifend einheitliches Verfahren zur Bedarfsermittlung bedarf.

Der Beitrag beruht auf einem Vortrag des Autors, den er auf dem Kontaktseminar des Deutschen Sozialrechtsverbands e. V. im Februar 2020 im Bundessozialgericht in Kassel gehalten hat und der bereits in Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2020, S. 203–205 erschienen ist. Wir danken der Redaktion von Sozialrecht aktuell, dem Deutschen Sozialrechtsverband e. V. und Herrn Prof. Dr. Fuchs für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.

(Zitiervorschlag: Fuchs: Patentrezept – Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“ – Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Bedarfsermittlung gem. § 13 SGB IX; Beitrag A7-2021 unter www.reha-recht.de; 11.02.2021)

I. Einleitung

Keine Gemeinsame Empfehlung (GE) kann bereits allein durch ihre Existenz ein Erfolgsmodell sein. Entscheidend ist, ob und wie

  • die Rehabilitationsträger als Institutionen,
  • aber auch die für Rehabilitationsträger handelnden Verantwortlichen und ausführenden Beschäftigten

eine Gemeinsame Empfehlung in der Rechtspraxis umsetzen.

Das SGB IX von 2001 errichtet eine gemeinsame Plattform, auf der durch Koordination, Kooperation und Konvergenz gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxis der Rehabilitation erreicht werden soll.[1] Die GE „Reha-Prozess“ stellt in diesem Sinne keineswegs eine trägerübergreifend einheitliche Praxis zum Rehabilitationsprozess sicher.

Nach dem Vorwort der Geschäftsführerin der BAR zur GE Reha-Prozess haben die Reha-Träger zwar auf Ebene der BAR Regelungen erarbeitet und miteinander vereinbart, wie sie die Vorschriften des SGB IX auslegen und umsetzen wollen, um damit mehr Rechtssicherheit für die Rehabilitationsberaterinnen und -berater vor Ort, aber auch für die potenziellen Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zu erreichen. WIE jedoch die konkrete Umsetzung tatsächlich erfolgen soll, „bleibt Aufgabe der Reha-Träger, dies im Rahmen einer Gemeinsamen Empfehlung für sich zu regeln“.

Danach ist die GE Reha-Prozess – gemessen an der Zielsetzung des SGB IX von 2001 ein überfälliger und notwendiger, mit Blick auf weiterhin mögliche abweichende Auslegung und Gestaltung durch die einzelnen Träger – dennoch mit erheblichem Optimierungsbedarf behafteter Schritt in die richtige Richtung.

Die GE-Reha-Prozess regelt in ihrem Kapitel 3 als einen Schwerpunkt die Bedarfserkennung und Bedarfsfeststellung. Dieses Kapitel basiert auf dem durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) neu gefassten Kapitel 3 des SGB IX, Teil 1, insbesondere § 13 SGB IX. Nach § 13 Abs. 3 SGB IX hatte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die Wirkung der Instrumente nach § 13 Abs. 1 SGB IX zu untersuchen und die Untersuchungsergebnisse bis 31.12.2019 zu veröffentlichen. Das vorliegende Untersuchungsergebnis[2] bildet die Basis für die nachfolgende Beurteilung von Anspruch und Wirklichkeit des Kapitels 3 der GE Reha-Prozess.

II. Zur Bedeutung der Bedarfsermittlung für den gesamten Reha-Prozess

Die Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX ist der Schlüssel für den gesamten weiteren Reha-Prozess. Sie bildet die Grundlage für:

  • die Entscheidung über den Antrag, insbesondere hinsichtlich der Beurteilung von Gegenstand, Umfang und Ausführung der bedarfsgerechten Leistung (§ 25 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX), d. h., des Anspruchs dem Grunde und der Höhe nach,
  • die Durchführung des Auswahlermessens (§ 36 Abs. 2 SGB IX), insbesondere die Beurteilung der Eignung der vorgesehenen Rehabilitationseinrichtung (§ 28 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Strukturqualität zur Erreichung der individuellen Teilhabeziele (§§ 4 Abs. 2 S. 1, 13 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. 37 SGB IX).

Im Teil 2 des SGB IX ist das Ergebnis der Bedarfsermittlung sogar der entscheidende Maßstab für die Entscheidung über den Anspruch der Höhe nach. Die leistungsrechtlichen Vorschriften zur Sozialen Teilhabe der Eingliederungshilfe beinhalten durchweg den Leistungsanspruch dem Grunde nach, stellen aber die Entscheidung über den Anspruch der Höhe nach in das Ermessen des Trägers der Eingliederungshilfe. Dieses Ermessen wird allein dadurch gebunden, dass sich die Leistungen nach dem Bedarf – mithin dem Ergebnis der Bedarfsermittlung – richtet und die Leistungen so lange zu leisten sind, wie die Teilhabeziele erreichbar sind (§ 104 Abs. 1 SGB IX).

III. Implementationsstudie zu § 13 SGB IX[3] – Anspruch und Wirklichkeit der GE-Reha-Prozess

1. Einheitliche und überprüfbare Instrumente

Nach § 13 Abs. 1 SGB IX haben die Rehabilitationsträger zur einheitlichen und überprüfbaren Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs systematische Arbeitsprozesse und standardisierte Arbeitsmittel (Instrumente) zu verwenden. Nach dem Ergebnis der Implementationsstudie entwickeln die Träger nach Inkrafttreten des BTHG und der GE Reha-Prozess überwiegend jeweils eigene Instrumente weiter. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der eingesetzten Instrumente wird durch die Gesetzesänderung kaum geringer.

Die Vielzahl der Instrumente ist durch den Bezug auf die jeweils für die Träger geltenden Leistungsgesetze in § 13 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs SGB IX rechtlich grundsätzlich zulässig.

Der inhaltlichen Ausrichtung wird durchweg eine trägerspezifische Rechtsauslegung zugrunde gelegt, wobei sich in letzter Zeit auch punktuell trägerübergreifende Vereinheitlichungstendenzen abzeichnen.

2. Umfassende und vollständige Bedarfserhebung

Die Implementationsstudie zeigt, dass die Träger die nach § 13 Abs. 2 SGB IX zu treffenden Feststellungen weiterhin überwiegend bezogen auf den vorliegenden Leistungsantrag und damit auf die trägerspezifischen Leistungsvoraussetzungen beziehen.

Die vom Gesetzgeber erwartete vollständige und umfassende, trägerübergreifende Feststellung des Rehabilitationsbedarfs, die – unabhängig von der Zuständigkeit oder Leistungsverpflichtung eines Trägers i. S. v. §§ 26 Abs. 2, 27 Abs. 1 GE-Reha Prozess – ein nahtloses Ineinandergreifen der Teilhabeleistungen verschiedener Träger gewährleisten würde (z. B. i. S. v § 15 SGB IX), findet noch nicht statt.

3. Einheitlich zu treffende Feststellungen nach § 13 Abs. 2 SGB IX

Während die organisationsrechtliche, auf die Instrumente gerichtete Regelung des Absatz 1 ausdrücklich die Öffnung für organisatorisch oder auch nach den spezifischen Leistungsgesetzen erforderliche unterschiedliche Gestaltungen zulässt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 letzter Hs SGB IX), handelt es sich bei den inhaltlichen Anforderungen des Absatz 2 an die mit den Instrumenten zu treffenden Feststellungen um trägerüber-greifend einheitliches „abweichungsfestes Recht“ i. S. v. § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB IX.

Die Implementationsstudie zeigte zu den Anforderungen des § 13 Abs. 2 SGB IX folgenden Entwicklungsstand:

Zu § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX: Vorliegende oder drohende Behinderung

Nach dem der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modell wird das Vorliegen einer Behinderung über die Schädigung der Körper- und Sinnesfunktionen definiert. Für die objektive Klärung des Bedarfs an Teilhabeleistungen reicht eine Beschreibung des Krankheitsbildes oder eine Krankheitsdiagnose (ICD Schlüssel) nicht aus, weil sie in der Regel keine Feststellungen zur Beeinträchtigung der Aktivitäten und Teilhabe enthält.

Demzufolge sind Bedarfsermittlungen auf der Grundlage von Krankenhausberichten und anderen rein kurativ orientierten Unterlagen problematisch, weil sie in der Regel keine Aussagen zur Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe beinhalten.

Die Beurteilung von Teilhabeeinschränkungen erfordert die funktionsbezogene Feststellung der Beeinträchtigung der Aktivitäten – und in der Folge – ihrer Auswirkungen auf die tatsächliche Teilhabe in Lebensbereichen (§ 42 Abs. 1 GE-Reha-Prozess).

Dies ist in einem partizipativen Gespräch mit dem Betroffenen möglich, das auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells geführt wird (§ 36 Abs. 3 Satz 4 GE Reha-Prozess). Ob eine Behinderung droht oder vorliegt, lässt sich sprachlich mit der Beschreibung der tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen im Sinne der Kapitelüberschriften der ICF (Domänen) dokumentieren (vgl. z. B. ICF-Checkliste).

Das Forschungsprojekt hat erhoben, inwieweit die Feststellungen nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX mit den derzeit eingesetzten Erhebungsinstrumenten rechtmäßig getroffen werden können. Schon die Vielfalt der weiterhin unterschiedlichen Vordrucke und sonst zur Entscheidungsfindung herangezogenen, meist kurativ orientierten Unterlagen ohne Aussagen zur Beeinträchtigung der Teilhabe verdeutlichen, dass die Praxis noch ganz am Anfang einer „einheitlichen Ermittlung des individuellen Bedarfs“ steht.

Grundlage ist bei allen Trägern zunächst eine ICD-Diagnose. Die in jüngerer Zeit überarbeiteten Antragsvordrucke der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV, Muster 61) und Rentenversicherung (G 0100) enthalten auch Fragen zur nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivitäten/Teilhabe. Die Fragen sind allerdings sehr knapp und abstrakt und beschränken sich teilweise auf das Ankreuzen von vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Im Bereich der GKV wird zudem berichtet, dass die von den niedergelassenen Vertragsärzten, denen das Ausfüllen des Musters 61 obliegt, vorgelegten Vordrucke häufig nur bedingt brauchbare Ergebnisse liefern (vgl. hierzu Kapitel 3.1 der Studie).

Zu § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX: Welche Auswirkung hat die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten?

Welche Auswirkungen die Behinderung (beeinträchtigte Körperfunktionen und -strukturen) auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat, ergibt sich daraus, ob und in welchem Ausmaß die Aktivitäten der/des Betroffenen und – in der Folge – ihre/seine Teilhabe beeinträchtigt sind.

Bisher wird die Beeinträchtigung der Aktivitäten nur teilweise und wenn, dann nur in sehr knapper und abstrakter Form erhoben und dokumentiert.

Inhalt und Aussagefähigkeit bleiben bei den Sozialversicherungsträgern erheblich hinter den neuen Erhebungsinstrumenten der Eingliederungshilfe, aber auch der Checkliste der Weltgesundheitsorganisation WHO zurück. Die Kontextfaktoren werden nicht bei allen Trägern systematisch erhoben (vgl. hierzu Abbildung 14, Abbildung 34, Abbildung 54 und Abbildung 75 der Studie).

Soweit ersichtlich, entsprechen die derzeit eingesetzten Instrumente nur zum Teil oder nicht den Anforderungen des § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX.

Zu § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX: Welche Ziele sollen mit den Leistungen zur Teilhabe erreicht werden?

Das Forschungsprojekt hat erfragt, inwieweit Teilhabeziele derzeit für die Entscheidungsfindung definiert und dokumentiert werden. Dazu erklärt die Mehrzahl der Träger, dass sie individuelle Teilhabeziele definieren und der Entscheidung zugrunde legen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts konnte die Qualität dieser Zielbestimmung nicht weiter vertieft werden. Ebenso wenig, ob die Teilhabeziele im Rahmen der Bedarfsermittlung festgelegt und mit dem Berechtigten abgestimmt (§ 19 Abs. 1 SGB IX) werden.

Soweit die Bedarfserhebungen heute überhaupt Zielbeschreibungen (vgl. dazu Abbildung 17, Abbildung 37, Abbildung 57, Abbildung 78 der Studie) enthalten, fokussieren sie sich bisher in der Regel auf die jeweils gerade geltend gemachte Leistung eines Trägers und nehmen darüber hinausgehende Teilhabeziele, die ggfl auch mit Leistungen in der Verantwortung eines anderen Trägers erreicht werden müssen, nicht in den Blick (vgl. dazu Abbildung 18, Abbildung 38, Abbildung 58 und Abbildung 79 der Studie).

Zu § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX Prognose zur Erreichung der Teilhabeziele (Wirksamkeit der Leistungen)

Die in dieser Regelung geforderte Prognose hinsichtlich der Erreichung der Teilhabeziele (Wirksamkeit der Leistungen) ist Bestandteil der „einheitlichen und nachprüfbaren“ Bedarfsermittlung.

§ 43 GE Reha-Prozess „Klärung erforderlicher Leistungen“ befasst sich im Kern mit dem Verfahren des Auswahlermessens nach § 36 Abs. 2 SGB IX, lässt jedoch die konkrete Operationalisierung, auf welche Weise im Einzelfall eine Wirksamkeitsprognose bezogen auf die Erreichung der Teilhabeziele i. S. d. § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX gestellt werden kann bzw. wird, offen.

Wenn überhaupt Prognosen zur Erreichung der Teilhabeziele gestellt und dokumentiert werden, dann allenfalls im Verwaltungsverfahren, jedoch bisher nicht als Bestandteil der Bedarfsermittlung.

IV. Fazit

Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde erhoben, ob die nach § 13 Abs. 2 SGB IX zu treffenden Feststellungen – unabhängig von der Zuständigkeit und der Leistungsverpflichtung der Rehabilitationsträger – von allen Trägern einheitlich und nach gleichen Maßstäben getroffen werden.

Eine solche Feststellung des Rehabilitationsbedarfs, wie sie auch in § 26 Abs. 2 GE Reha Prozess vereinbart wurde, die ein nahtloses Ineinandergreifen der Leistungen verschiedener Rehabilitationsträger gewährleisten würde (z. B. i. S. v § 15 SGB IX), findet noch nicht statt. Auch wenn alle Träger, die an den Gesprächen, Fallstudien und Workshops der Implementationsstudie beteiligt waren, grundsätzlich die Vorteile eines solchen Vorgehens schätzen, sind entsprechende Entwicklungen nicht erkennbar.

Beitrag von Prof. Dr. Harry Fuchs, Hochschule Düsseldorf

Fußnoten

[1] Eckpunktepapier zum Sozialgesetzbuch, Teil IX, Koalitionsarbeitsgruppe „Behindertenpolitik“, Juli 1999.

[2] Forschungsbericht 540 Studie zur Implementierung von Instrumenten der Bedarfsermittlung, BMAS, Dezember 2019, ISSN 0174-4992, Kienbaum Consultants International GmbH, Prof. Dr. Harry Fuchs Hochschule Düsseldorf, Prof. Dr. Matthias Morfeld, Hochschule Magdeburg-Stendal.

[3] Fuchs, H., Intention des Gesetzgebers zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX und Begriffsbestimmung Teil I: Intention des Gesetzgebers hinter altem und neuem Recht, Teil II Trägerübergreifend einheitliche Mindestanforderungen Beiträge A16-2018 und A17-2018 unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Bedarfsermittlung, Bedarfsfeststellung, Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“, Koordination, Kooperation der Rehabilitationsträger, § 13 SGB IX


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