11.05.2023 A: Sozialrecht Theben: Beitrag A7-2023

„Mobilität für Alle“!? – Anmerkung zum Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20. Mai 2022, Az. L 15 SO 294/18

Dr. Martin Theben bespricht in diesem Beitrag ein Urteil des LSG Berlin-Brandenburg, in dem um Erstattung der Kosten für die Beschaffung eines Kraftfahrzeuges nach § 83 SGB IX gestritten wurde. Auf die Vorstellung des Sachverhalts und der LSG-Entscheidung folgt die Würdigung durch den Autor, bei der er auf eine Berliner Besonderheit, den“ Telebus“, eingeht. Er kritisiert, dass der Kläger auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und den Telebus verwiesen wurde, ohne deren tatsächliche Hürden bei der Erreichung der Teilhabeziele zu berücksichtigen (z. B. mangelnde Sensibilität und Fachkunde der Fahrer, erhebliche Verspätungen, überfüllter ÖPNV, Defekte oder nicht vorhandene Fahrstühle).

(Zitiervorschlag: Theben: „Mobilität für Alle“!? – Anmerkung zum Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20. Mai 2022, Az. L 15 SO 294/18; Beitrag A7-2023 unter www.reha-recht.de; 11.05.2023)

I. Einleitung

Der nachfolgende Beitrag befasst sich anlässlich einer Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg mit einem zentralen Aspekt sozialer Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, dem der Mobilität. Mobilität ist nicht nur, aber gerade auch für mobilitätseingeschränkte Personen neben Wohnen und Bildung ein Grundelement selbstbestimmter und inklusiver Lebensführung. Nicht ohne Grund stellt beispielsweise die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Art. 20 das Recht auf selbstbestimmte und im Übrigen auch kostengünstige Teilhabe durch Mobilität heraus und verpflichtet die Staaten zu entsprechenden Maßnahmen.[1] Und auch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) schaffte diesbezüglich eigene Rechtsansprüche (§ 83 SGB IX).

Anhand der zu besprechenden Entscheidung sollen Möglichkeiten und Grenzen dieser Partizipationsmöglichkeiten, gestaltet durch die Rechtsprechung, skizziert werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf eine (West)Berliner Besonderheit und deren gesellschaftspolitische Bedeutung einzugehen – den „Telebus“.

II. Die Entscheidung

1. Der Sachverhalt

Die Entscheidung thematisiert die Eingliederungshilfe als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Soziale Teilhabe). Konkret stritten die Beteiligten um die Erstattung von Kosten zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges (§ 83 SGB IX).

Der 1963 geborene Kläger hat aufgrund einer Aids-Erkrankung und des damit verbundenen sog. Wasting-Syndroms einen Grad der Behinderung von 100. Außerdem waren ihm vom Versorgungsamt die Merkzeichen „aG“, „B“ und „T“ zuerkannt worden. Das Merkzeichen „T“ ist eine landesspezifische Besonderheit in Berlin und berechtigt zur Nutzung des Sonderfahrdienstes – früher bekannt als „Telebus“.[2] Der Kläger ist dauerhaft voll erwerbsgemindert und bezog eine Erwerbsminderungsrente. Im Februar 2011 beantragte der Kläger beim Beklagten eine Hilfe zum Erwerb eines gebrauchten Pkws. Aufgrund seiner Erkrankung sei er nicht in der Lage, den öffentlichen Personennahverkehr sowie den Sonderfahrdienst zu nutzen. Aufgrund zahlreicher parteipolitischer ehrenamtlicher und familiärer Aktivitäten sei er vielmehr dringend auf die Nutzung des für ihn dann ständig verfügbaren Pkws angewiesen. Auch Termine beim Arzt und der Krankengymnastik könne er nur sehr eingeschränkt wahrnehmen.

Die zuständige Behörde lehnte seinen Antrag mit der Begründung ab, es sei nicht feststellbar, dass er dauerhaft und ausschließlich auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei. Vielmehr sei der Kläger sehr wohl auf den öffentlichen Personennahverkehr sowie den Sonderfahrdienst Telebus zu verweisen.

Sowohl im Widerspruchsverfahren als auch im erstinstanzlichen Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin blieb der Kläger ohne Erfolg. Vielmehr schloss sich das Sozialgericht Berlin im Urteil vom 19. Oktober 2018, Az. S 212 SO 938/13 der Argumentation der Behörde an. Die Leistungen der Eingliederungshilfe seien nachrangig. Der Kläger habe nicht ausreichend dargetan, warum er ausschließlich auf ein Kraftfahrzeug angewiesen sei und den öffentlichen Nahverkehr bzw. den Sonderfahrdienst Telebus nicht nutzen könne.

Im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin wurde auch ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben. Dieses kam zu dem Schluss, dass beim Kläger keine außergewöhnliche Gehunfähigkeit vorliege. Auch sonst sei keine gesundheitliche Beeinträchtigung erkennbar, die eine dauerhafte Nutzung des Sonderfahrdienstes bzw. des öffentlichen Personennahverkehrs verhindern würde. Insbesondere die vom Kläger genannten Angstzustände bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel kämen bei Inanspruchnahme des Sonderfahrdienstes nicht zum Tragen. Medizinisch, so der Sachverständige, lägen beim Kläger deutliche Diskrepanzen mit schwieriger Grenzziehung zwischen somatoformen Anteilen und einer tendenziösen Ausgestaltung (der Erkrankung, Anm. des Autors) vor.

Die gegen die erstinstanzliche Entscheidung eingelegte Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg.

2. Entscheidung durch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg schloss sich in seiner Entscheidung, die es nach der Rechtslage vor der Verabschiedung des BTHG zu treffen hatte,[3] vollumfänglich an.

Dabei äußerte das Landessozialgericht in seinen Entscheidungsgründen zunächst schon Zweifel daran, ob der Kläger die Voraussetzungen der hier einschlägigen Anspruchsgrundlagen nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a. F. i. V. m. § 1 Eingliederungshilfe-VO erfüllte. Denn danach sei anspruchsberechtigt nur, wer z. B. erheblich im Stütz- und Bewegungssystem beeinträchtigt sei. Dabei stützte sich das Landessozialgericht auf die Feststellungen des erstinstanzlich benannten gerichtlichen Gutachters, wonach der Kläger sehr wohl in der Lage sei, sich, wenn auch mit Einschränkungen, mittels eines Gehstockes fortzubewegen. Letztlich komme es hierauf aber nicht an, so der Senat.

Weiterhin wies das LSG Berlin-Brandenburg darauf hin, dass die sozialen Teilhabeziele nicht über die Bedürfnisse eines nicht behinderten bzw. nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen hinausgehen. Allerdings würden unter Berücksichtigung des auch insoweit geltenden Nachranggrundsatzes dem Kläger andere Möglichkeiten als Alternativen zum eigenen Kraftfahrzeug zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang befassen sich die Entscheidungsgründe noch einmal ausführlich mit dem Sonderfahrdienst. Die Entscheidung referiert ausführlich die einschlägigen gesetzlichen Grundlagen, insbesondere der Verordnung für den Sonderfahrdienst. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei der Kläger nicht so schwerwiegend krank, dass er nicht am öffentlichen Personennahverkehr bzw. am Sonderfahrdienst teilnehmen könne. Auch soweit sich der Kläger auf die Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung sowie den Entlassungsbericht und die darin geäußerten Feststellungen beruft, gelte nichts anderes. Auch die von ihm vorgebrachte Fibromyalgie würde sein Anliegen nicht stützen.

Letztlich, so der Senat, stehe dem Kläger ein breit gefächertes behindertengerechtes öffentliches Beförderungsangebot zur Verfügung. Auch beim Sonderfahrdienst sei es gemäß Fahrdienst-VO möglich, Spontanfahrten zu buchen. Möge ein Kfz aufgrund dessen ständiger Verfügbarkeit dem Kläger die soziale Teilhabe doch erleichtern, so würde ihn das Zurückgreifen auf das alternative Angebot öffentlich-rechtlicher Verkehrsmittel oder des Sonderfahrdienstes nicht unzumutbar an der Verwirklichung seiner sozialen Teilhabeziele hindern. Demzufolge wies das LSG Berlin-Brandenburg die Berufung des Klägers zurück.

III. Würdigung der Entscheidung

Das LSG Berlin-Brandenburg hatte den hier vorliegenden Fall noch nach der Rechtslage vor dem BTHG zu beurteilen. Einschlägig waren hier §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V. m. § 55 SGB IX a. F. und die Kraftfahrzeughilfe-Verordnung.

Zu Beginn stellte der Senat zurecht klar, dass dem Anspruch des Klägers nicht entgegensteht, dass er bzw. sein Bruder sich den gebrauchten Pkw zunächst aus Eigenmitteln selbst verschafft habe. Der Senat legitimiert diese Vorgehensweise des Klägers bzw. dessen Bruders unter Hinweis auf die Spruchpraxis sowohl des Bundessozialgerichts (BSG) als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG).[4] Danach sei die Selbstvornahme zulässig, wenn die Ablehnung der Hilfegewährung rechtswidrig sei und die betreffende Person rechtzeitig einen Rechtsbehelf einlegt und mit diesem für seinen Anspruch streiten müsse. Dieser grundsätzlich zutreffende Ansatz ist jedoch hier etwas missverständlich, da das Gericht im Ergebnis die Ablehnung als rechtmäßig erachtete. Inzwischen sind die Regelungen zur Kostenerstattung selbstbeschaffter Leistungen durch das BTHG in § 18 SGB IX kodifiziert.

Nachdem der Senat den Kläger als behindert (§ 2 Abs. 1 SGB IX) ansieht, stößt er zum Kern des Problems vor: Da es sich um Eingliederungshilfe in Form der Kraftfahrzeughilfe handele, komme es darauf an, ob diese notwendig und geeignet sei, die Ziele der Eingliederung, hier sozialen Teilhabe, zu erreichen (§ 53 Abs. 1 SGB XII a. F., § 99 Abs. 1 SGB IX). In diesem Zusammenhang rekurriert der Senat auch auf § 4 Abs. 1 SGB IX und erwähnt zudem als weiteres Tatbestandsmerkmal das Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 Abs. 2 SGB XII). Insgesamt gelte ein individueller und personenzentrierter Maßstab.

Konkret so das LSG, bestünden aber schon Zweifel daran, ob der Kläger die personenbezogenen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII a. F. i. V. m. § 1 der Eingliederungshilfe-Verordnung erfülle. Denn nach § 1 Nr. 1 der damals geltenden Eingliederungshilfe-VO sind anspruchsberechtigt Personen, deren körperliche Gebrechen sie wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit einschränken. Dies seien insbesondere Personen, deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems in erheblichem Umfange eingeschränkt sei. Unter Hinweis auf die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen war der Kläger aber in der Lage, sich selbständig über mehrere hundert Meter mit einem Stock fortzubewegen und ohne Unterstützung Treppen zu steigen.

Abgesehen von der altertümlich anmutenden und eben nicht sehr menschenrechtsbasierten Bezeichnung „Gebrechen“ liegt dieser Sichtweise ein defizitorientierter Blickwinkel zugrunde, der schon damals als überholt angesehen wurde. Immerhin galt auch schon zu diesem Zeitpunkt die UN-BRK und deren menschenrechtsbasierte Sicht auf Menschen mit Behinderungen.

Letztlich kommt es für den Senat darauf jedoch nicht an. Vielmehr lässt er den Anspruch des Klägers daran scheitern, dass er seine grundsätzlich anerkannten Teilhabeziele mit anderen Mitteln erreichen könne. Diese seien auch wirtschaftlicher. So könne der Kläger trotz der von ihm beschriebenen körperlichen Beeinträchtigungen nach den Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen sehr wohl am öffentlichen Personennahverkehr teilnehmen. Die von ihm angeführten Gründe, insbesondere der schnellen Erschöpfbarkeit oder mangelnder Stabilität, ließen sich durch den Sachverständigen nicht bestätigen. Im Übrigen, und hier rekurriert der Senat nunmehr auf eine Berliner Besonderheit, könne er den vorgehaltenen Sonderfahrdienst nutzen.

IV. Exkurs: Der Sonderfahrdienst/Telebus

Der aus speziellen Fahrzeugen und Taxen bestehende Fahrdienst existiert seit 1979 und wurde damals im Rahmen eines Forschungsprojektes des Bundesministeriums für Forschung und Technik in West-Berlin eingeführt.[5] Ab 1982 wurde aus dem Modellprojekt dann ein stetiges, ausschließlich aus Landesmitteln finanziertes, Mobilitätsangebot.[6] Der Telebus stellte eine Alternative zum damals noch weitestgehend, wie es damals hieß, nicht behindertengerechten öffentlichen Personennahverkehr dar. Ab 1990 erstreckte sich der Fahrdienst in seinem Anwendungsbereich auf das gesamte Berliner Stadtgebiet. Personen, die ihren Rollstuhl verlassen konnten, d. h. „umsetzbar“ waren, konnten Taxen benutzen. Die Fahrten mussten 2–14 Tage vorher telefonisch angemeldet werden. Zudem wurde den Betroffenen ein Kontingent an Fahrten mit frei verfügbaren Taxen ermöglicht. Von Beginn an stand der Telebus jedoch unter erheblichem finanziellem Druck und sah sich immer wieder Diskussionen über seine Abschaffung oder Einschränkungen ausgesetzt.[7]

Dieser Sonderfahrdienst führte jedoch gerade in seiner Entstehungszeit dazu, dass es Menschen mit Behinderungen endlich möglich war, ihre zum Teil ebenfalls nicht behindertengerechten Wohnungen zu verlassen. Denn neben dem Haus-zu-Haus Service wurde auch eine Treppenhilfe angeboten. Damit war ein Großteil der zunächst Westberliner und dann Gesamtberliner Bevölkerung in die Lage versetzt, sich endlich Freiräume erschließen zu können. Dies führte dann auch zu einer starken neuen Politisierung, da man auf immer weitere, nunmehr bauliche Barrieren, insbesondere in öffentlichen Veranstaltungsstätten stieß. Insofern ist die behindertenpolitische Bedeutung des Telebusses hier nicht gering zu schätzen. Sie reicht bis heute fort.[8]

Aufgrund der hohen finanziellen Aufwendungen und des Umstandes, dass das Kammergericht zu Beginn der 2000er-Jahre die Ausschreibung des Betreibers des Sonderfahrdienstes forderte, kam es zu deutlichen Veränderungen. Nachdem der Telebus im Jahre 1999 im Zuge der Entstehung des Berliner Landesgleichberechtigungsgesetzes nunmehr auch gesetzlich in § 12 in der seit dem 27. September geltenden Fassung[9] verankert war, wurde später eine Eigenbeteiligung eingeführt, die bis heute fort gilt. Auch der Betreiber des Fahrdienstes wird seit Mitte der 2000er-Jahre ausgeschrieben.[10]

V. Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz

Das BTHG hat leistungsberechtigten Personen hier leider keine Erleichterung gebracht. Die Regelung in § 83 Abs. 2 Satz 2 SGB IX erfordert nicht nur die Geeignetheit der betreffenden Person oder eines Dritten, das Fahrzeug führen zu können. Die Vorschrift sieht auch eine Prüfung der Zumutbarkeit und Wirtschaftlichkeit der begehrten Kraftfahrzeughilfe vor. Zudem sieht § 114 SGB IX für Leistungen der Eingliederungshilfe Modifizierungen vor. So muss die antragstellende Person nach § 114 Nr. 1 SGB IX zusätzlich dauerhaft auf die Nutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sein. § 114 Nr. 2 SGB IX schließt entgegen der Regelung in § 83 Abs. 3 Satz 2 SGB IX die §§ 6 und 8 der Kraftfahrzeughilfeverordnung aus. § 6 betrifft die Begrenzung der Förderungshöhe für die Anschaffungskosten. Die Nichtanwendung von § 8 schließt die Übernahme der Kosten für die Erlangung der Fahrerlaubnis für Eingliederungshilfe beziehende Personen aus. Allerdings wird in § 114 Nr. 2 SGB IX die Härtefallregelung des § 9 der Kraftfahrzeughilfeverordnung nicht ausgeschlossen. Unter den dort genannten Voraussetzungen können auch im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten für die Fahrerlaubnis übernommen werden. Den Behörden und Gerichten ist auch unter der Geltung des BTHG ein umfassendes und – gerade auch für den juristisch nicht Geschulten – schwer durchschaubares Regelungswerk an die Hand gegeben, um jedem Einzelfall gerecht werden zu können. Den leistungsberechtigten Personen aber bleibt es in der Regel auch weiterhin nicht erspart, ihr Recht auf individuelle mobile Teilhabe legitimieren zu müssen.

VI. Fazit

In den Entscheidungsgründen setzt sich der Senat ausführlich mit den gesetzlichen Grundlagen und insbesondere der aus seiner Sicht letztendlich sehr sozialverträglichen Eigenbeteiligung auseinander. Aufgrund dieser beiden Faktoren, also einerseits eines weitestgehend barrierefreien Personennahverkehrs und des Sonderfahrdienstes könne der Kläger den begehrten Anschaffungspreis für den Pkw nicht als Leistung zur sozialen Teilhabe beanspruchen.

Abgesehen davon, dass anhand auch dieser Entscheidung wieder deutlich wird, dass ein personenzentrierter Ansatz Menschen mit Behinderungen nicht davor schützt, dass ihre „sozialen Teilhabeziele“ einer umfassenden Nachhaltigkeits- und Legitimationskontrolle unterworfen werden, ist die Herangehensweise, insbesondere bei der Beurteilung der Effektivität des Sonderfahrdienstes, – vorsichtig ausgedrückt – sehr optimistisch. Denn im Rahmen der Amtsermittlung[11] hätte es, auch aufgrund entsprechenden Vortrages des Klägers, dem Senat durchaus angestanden, sich mit der faktischen Effektivität des Sonderfahrdienstes auseinanderzusetzen. Denn in der Tat sieht sich dieses System immer wieder fundamentaler Kritik ausgesetzt. Von mangelnder Sensibilität und Fachkunde der Fahrer über erhebliche Verspätungen, zeitliche Verzögerungen durch Fahrtenanbindung und eines ineffektiven Bestell- und Abrechnungssystems wird eben deutlich, dass der Sonderfahrdienst eine echte Alternative nur auf dem Papier darstellt.[12]

Und auch, was den barrierefreien öffentlichen Nahverkehr angeht, muss zwar zugestanden werden, dass das Land Berlin seit der Einführung des Telebus-Systems hier sicherlich immens vorangeschritten ist. Andererseits müssen sich auch hier Betroffene immer wieder mit völlig überfüllten Fahrzeugen, den für alle ärgerlichen erheblichen Verspätungen und defekter oder überhaupt nicht vorhandener Aufzüge auseinandersetzen. Hier hätte man sich vom Senat eine größere Sensibilität auch im Rahmen einer Berufungsverhandlung gewünscht.[13]

Alles in allem bleibt zu konstatieren, dass die vom Gericht erwogenen Alternativen ein anderes, dem Selbstbestimmungsrecht des Klägers entsprechendes Urteil eingefordert hätten.[14] Jedenfalls setzt eine inklusive Gesellschaft auch die inklusive Auslegung von Normen voraus. Dem werden die Sozialgerichte mal mehr, mal weniger gerecht, wie bei der hier zu erörternden Entscheidung.

Im Sinne der Fortentwicklung inklusiven Rechts, sollte der Gesetzgeber hier zeitnah Abhilfe schaffen und die Vorschriften zur Erlangung eines Kfz deutlich vereinfachen. So könnte als ausreichend erachtet werden, die Kfz-Hilfe allein nach den Kriterien der dauerhaften Angewiesenheit, der Befähigung und – im Falle von vorhandenem Einkommen und Vermögen – der Wirtschaftlichkeit zu beschränken und keine Zumutbarkeitsprüfung mehr vorzunehmen. Letzteres birgt doch immer die Gefahr fehlerhafter Sachaufklärung. Zumutbarkeitserwägungen verleiten in der Praxis auch immer wieder Behörden und Gerichte dazu, medizinische Gesichtspunkte dort überzubewerten, wo es um inklusive Teilhabe geht.

Beitrag von Dr. Martin Theben, Rechtsanwalt

Fußnoten

[1] Vgl. dazu Stichwort Persönliche Mobilität, Artikel 20 der UN-Behindertenrechtskonvention, abrufbar unter www.behindertenrechtskonvention.info/persoenliche-mobilitaet-3870, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[2] Zu den Voraussetzungen für das Merkzeichen T, siehe Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin: https://www.berlin.de/lageso/behinderung/schwerbehinderung-versorgungsamt/merkzeichen/t-teilnahmeberechtigung-am-sonderfahrdienst-fuer-menschen-mit-behinderung-in-berlin/, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[3] Zu einer ähnlichen Entscheidung nach der aktuellen Rechtslage gemäß §§ 83, 114 Nr. 1 SGB IX, siehe LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. Juni 2022 – L 9 SO 353/21 B ER –, juris. Die Entscheidungsgründe befassen sich mit der Frage wie das – damals – ungeklärte Tatbestandsmerkmal „ständig auf die Nutzung eines KfZ angewiesen sein“ auszulegen sei. Der Senat neigte dazu, dabei nicht einen zeitlichen, sondern einen qualitativen Maßstab anzulegen. Danach käme es auf Art und Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung an. Aber auch in diesem Beschluss wurde geprüft, ob dem Beschwerdeführer die Nutzung des Öffentlichen Personen Nahverkehrs oder eines Fahrdienstes möglich und zumutbar sei. In diesem Falle lehnte der DRK-Fahrdienst den „Transport“ des Beschwerdeführers ab, weil sein Rollstuhl zu schwer gewesen wäre. Die angestrebte einstweilige Anordnung wurde konkret aber auch zurückgewiesen, da bestimmte Punkte noch aufgeklärt werden müssten.

[4] BVerwG, Urt. v. 12.12.2013, B 8 S0 18/12 Rz. 12, juris

[5] Vgl. Bundestags-Plenarprotokoll vom 28. Februar 1980, S. 16337 Frage 180, abrufbar unter https://dserver.bundestag.de/btp/08/08203.pdf#P.16337, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[6] Vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 9/146 vom 16.10.1981 mit einer detaillierten Beschreibung der Entstehungsgeschichte des „Telebus“ – Sonderfahrdienstes.

[7] Vgl. Konzeption des Telebus-Taxi-Systems bis zum Jahr 2000 in Drucksache 13/1857 vom 30.06.1997 des Abgeordnetenhauses von Berlin, abrufbar unter https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/13/DruckSachen/d1857.pdf, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[8] Als ausgerechnet im Jahr der 750-Jahr-Feier in (West)Berlin das Fahrtenangebot drastisch gekürzt werden sollte, gründete sich aus betroffenen Nutzerinnen und Nutzern der Spontanzusammenschluss „Mobilität für Behinderte“ und schaffte es durch zahlreiche öffentlichkeitswirksame Aktionen die Kürzungen letztendlich zu verhindern. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese Gruppierung, die sich bewusst nie als Verein organisiert hat, zu einer bedeutenden behindertenpolitischen Kraft, die bis heute existiert. Zur Geschichte der „Spontis“ vgl.  http://www.spontis-berlin.net/, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[9] Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderungen (Landesgleichberechtigungsgesetz - LGBG) - Berlin.de, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[10] Vgl. dazu Abgeordnetenhaus von Berlin, Wortprotokoll der Sitzung des Ausschusses für Gesundheit, Soziales, Migration und Verbraucherschutz vom 19.05.2005,15/58, abrufbar unter https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/15/AusschussPr/gsm/gsm15-058-wp.pdf, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.  

[11] § 103 SGG.

[12] Vgl. Landesamt für Gesundheit und Soziales, Der Berliner Sonderfahrdienst für Menschen mit Behinderungen, Auswertung Kundenbefragung 2010, abrufbar unter https://www.berlin.de/lageso/_assets/behinderung/schwerbehinderung-versorgungsamt/publikationen/kundenbefragung_2010.pdf, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[13] Eine wichtige Erkenntnisquelle hätte dem Gericht mit einer Studie der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention zur Verfügung gestanden, siehe Deutsches Institut für Menschenrechte, Selbstbestimmt unterwegs in Berlin?, Dezember 2017, abrufbar unter https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Weitere_Publikationen/Bericht_Selbstbestimmt_unterwegs_in_Berlin.pdf, zuletzt abgerufen am 11.05.2023.

[14] So hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg KfZ-Hilfe als Leistung der Sozialen Teilhabe für eine Minderjährige zugesprochen und die entsprechende Regelung des § 83 Abs. 4 SGB IX, wonach in solchen Fällen nur die Kostenübernahme für die Zusatzausstattung, aber nicht, wie hier, die Anschaffungskosten gewährt werden, nicht angewendet. Zudem sei die Antragstellerin aufgrund ihrer Panikattacken und ihrer Unfähigkeit länger stehen zu können nicht in der Lage, den Öffentlichen Nahverkehr nutzen. Zum Sonderfahrdienst brauchte sich der Senat nicht zu äußern, da der Sachverhalt in Brandenburg angelegt war und dort kein Sonderfahrdienst nach dem Berliner Modell existiert, siehe Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. April 2022 – L 4 KR 40/22 B ER –, juris.


Stichwörter:

Kfz-Hilfeverordnung, Eingliederungshilfe, BTHG, Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Mobilität, Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft


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