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Der Autor Andreas Jordan diskutiert in vorliegendem Beitrag, welchen Einfluss die zweite Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) seit dem 1.1.2018 auf den Zuständigkeitswechsel nach § 86c SGB VIII hat, wenn Träger der öffentlichen Jugendhilfe Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII erbringen und die Eltern nach Beginn der Leistung in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendhilfeträgers verziehen.
(Zitiervorschlag: Jordan: Welchen Einfluss hat das Bundesteilhabegesetz auf den Zuständigkeitswechsel im Kinder- und Jugendhilferecht?; Beitrag A8-2020 unter www.reha-recht.de; 17.04.2020)
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist am 29.12.2016 verkündet worden.[1] Es tritt in unterschiedlichen Stufen in Kraft. Am 01.01.2018 ist die zweite Stufe in Kraft getreten. In Teil 1 des SGB IX (§§ 1 bis 89 SGB IX) sind nun die allgemeinen Regelungen und Verfahrensvorschriften verankert, die für alle Rehabilitationsträger verbindlich sind. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX gehören auch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zu ihnen und müssen die Vorschriften im SGB IX beachten, wenngleich die zweite Reformstufe noch nicht in der Verwaltungspraxis aller Jugendämter angekommen ist.[2] Die Eingliederungshilfe für junge Menschen ist von einer vielschichtigen Zuständigkeitsproblematik geprägt. Aus diesem Grunde soll erörtert werden, welchen Einfluss die zweite Stufe des BTHG auf die Vorschrift zum Zuständigkeitswechsel nach § 86c SGB VIII hat, wenn die Träger der öffentlichen Jugendhilfe Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII erbringen und die Eltern nach Beginn der Leistung in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendhilfeträgers verziehen.
Nach § 86c Abs. 2 SGB VIII hat der örtliche Träger, der von den Umständen Kenntnis erhält, die den Wechsel der Zuständigkeit begründen, den anderen davon unverzüglich zu unterrichten. Der bisher zuständige örtliche Träger hat dann dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger unverzüglich die für die Hilfegewährung sowie den Zuständigkeitswechsel maßgeblichen Sozialdaten zu übermitteln.
Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit knüpft in der Regel an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern oder Personensorgeberechtigten an. Mit dem SGB VIII im Jahr 1990 erfolgte ein grundlegender Paradigmenwechsel. Bei der Normierung der örtlichen Zuständigkeit sollten pädagogische Erkenntnisse aus der systemischen Sozialforschung in die Neuausrichtung der gesetzlichen Grundlagen einfließen. Das Ergebnis war eine familiensystemische Ausrichtung des SGB VIII. Der Gesetzgeber bestimmte den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern als Anknüpfungspunkt der örtlichen Zuständigkeit. Daraus folgte eine komplexe Regelung, die einen Regelfall erfasst (§ 86 Abs. 1 S. 1 SGB VIII) und viele weitere Ausnahmen (§ 86 Abs. 2-7 SGB VIII). Sinn und Zweck ist, dass grundsätzlich der Jugendhilfeträger am Wohnort der Familie zuständig ist.[3] Demensprechend ist § 86 SGB VIII so angelegt, dass die Zuständigkeit der Jugendämter mit dem zuständigkeitsbestimmenden Elternteil mitwandert.
Fraglich ist also, ob der Zuständigkeitswechsel auch Fälle der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erfasst, wenn das Jugendamt „leistender Rehabilitationsträger“ gemäß § 14 SGB IX[4] ist.
Um einen Zuständigkeitswechsel zwischen den Jugendhilfeträgern durchzuführen, müssten die kinder- und jugendhilferechtlichen Leistungsgesetze anwendbar sein oder es müsste eine rechtliche Grundlage im SGB IX existieren, die dies legitimiert. Die Rahmenbedingungen für das Zusammenspiel der beiden Regelungskreise sind in § 7 SGB IX geregelt.[5]
Nach § 7 Abs. 1 SGB IX gelten die Vorschriften im Teil 1 des SGB IX für die Leistungen zur Teilhabe, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt, wobei sich die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen richten.
Mit Abs. 1 hat der Gesetzgeber die Leistungsgesetze also in zwei Kategorien unterteilt. Die erste Kategorie ist die Zuständigkeit und die zweite Kategorie besteht aus den Voraussetzungen für die Leistungen. Damit richtet sich die Zuständigkeit zunächst nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen.
§ 7 Abs. 2 SGB IX schreibt den Rehabilitationsträgern jedoch vor, dass abweichend von Abs. 1 die verfahrensrechtlichen Regelungen nach den §§ 9- 25 SGB IX den Leistungsgesetzen vorgehen. Wie lassen sich die beiden Vorgaben mit dem Kinder- und Jugendhilferecht synchronisieren?
Dem Wortlaut nach schränkt § 7 Abs. 2 SGB IX den Vorrang der Leistungsgesetze ein, auch von § 86c SGB VIII.
Diese Annahme wird auch durch die Gesetzesbegründung gestützt. Aus ihr ist zu entnehmen, dass § 7 SGB IX keine Auswirkungen auf die Anspruchsvoraussetzungen und den Leistungsumfang der Leistungsgesetze hat.[6] Wie man dem eindeutigen Wortlaut der Gesetzesbegründung entnehmen kann, wurden die Regelungen zur Bestimmung der Zuständigkeit in den jeweiligen Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger nicht genannt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass § 7 SGB IX Auswirkungen auf die Regelungen der Zuständigkeit haben muss und folglich auch auf den Zuständigkeitswechsel. Damit hat der Gesetzgeber eine Grenze zwischen der Anwendung der Regelungen zur Bestimmung der Zuständigkeit und den Leistungsgesetzen gezogen.
Dass von dieser Systematik nicht durch Landesrecht abgewichen werden kann, unterstreicht noch einmal den verbindlichen Charakter der verfahrensrechtlichen Vorschriften nach dem SGB IX (§§ 14 bis 24), die nun für alle Rehabilitationsträger verbindlich sind.[7] Eine Ausnahme sieht das Gesetz nicht vor.
Sinn und Zweck von § 7 SGB IX ist, den verfahrensrechtlichen Regelungen im SGB IX mehr Gewicht zu verleihen und sie für alle Rehabilitationsträger verbindlich(er) zu gestalten.[8] Das macht auch die Überschrift „Vorbehalt abweichender Reglungen“ deutlich. Mit ihr wird klargestellt, dass es gegenüber abweichenden Regelungen eine rechtliche Hürde gibt, die nicht überwunden werden kann. Somit ist § 7 SGB IX kein Scharnier in die Leistungsgesetze des SGB VIII, und die Vorschrift zum Zuständigkeitswechsel gemäß § 86c SGB VIII kann für Fälle der Eingliederungshilfe nicht herangezogen werden. Eine Synchronisation der verfahrensrechtlichen Vorgaben des SGB IX mit den verfahrensrechtlichen Vorgaben des SGB VIII ist somit über § 7 SGB IX nicht möglich.
Ein Zuständigkeitswechsel unter den Rehabilitationsträgern könnte dennoch durchgeführt werden, wenn es im SGB IX eine verfahrensrechtliche Grundlage gibt. Denn nach § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Eine solche Regelung könnte in § 14 SGB IX zu finden sein.
Mit § 14 SGB IX wurde vom Gesetzgeber eine Regelung in das SGB IX aufgenommen, um das Teilhabeverfahren zu konzentrieren und zu vereinfachen und ein mehrfaches Hin- und Herschieben („Ping-Pong“) zwischen den Behörden zu vermeiden.[9] Im Vordergrund standen zwei wichtige Aspekte. Zum einen eine rasche Klärung der Zuständigkeit[10] und zum anderen eine möglichst schnelle Leistungserbringung. Mit der Vorschrift wollte der Gesetzgeber eine Brücke im gegliederten Leistungssystem des Sozialgesetzbuches bauen, um so sicherzustellen, dass die behinderten Menschen die benötigten Teilhabeleistungen zügig und „wie aus einer Hand“ erhalten.[11]
Problematisch ist allerdings, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu § 14 SGB IX im Hinblick auf den Wechsel der örtlichen Zuständigkeit ziemlich weit auseinanderdriften.
a) Endgültige Zuständigkeit
Das BSG vertritt die Ansicht, dass § 14 SGB IX eine verbindliche[12] und endgültige Zuständigkeit[13] begründet, wenn der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb von zwei Wochen weitergeleitet wird.[14] Damit kann nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die gesetzliche Brücke im gegliederten Sozialleistungssystem von allen Rehabilitationsträgern (§ 6 SGB IX) nur in eine Richtung beschritten werden. Das ist beispielweise der Fall, wenn das Jugendamt die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder gemäß § 35a SGB VIII in eigener Zuständigkeit erbringt.
Die Richter des BSG kommen zu dem Ergebnis, dass § 14 SGB IX verbindlich und abschließend ist und damit eine „endgültige“ Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers begründet. Seine Argumentation stützte das BSG schwerpunktmäßig auf Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
Demnach kennt der Wortlaut von § 14 SGB IX a.F. nur den erst- und zweitangegangenen Träger und weist damit einem der beiden Träger die Zuständigkeit für die Leistung zu. Das Gericht stellte darauf ab, dass eine Weiterleitung nach zwei Wochen nicht mehr möglich sei, da die in § 14 SGB IX verankerte Frist wie eine Ausschlussfrist wirke. Das BSG kam zu dem Ergebnis, dass der eindeutige Wortlaut der Vorschrift ein Weiterleiten außerhalb der Zwei-Wochen-Frist nicht vorsehe.[15]
Die zweiwöchige Frist kann auch nicht durch zwei Jugendhilfeträger ausgehebelt werden. Das BSG entschied am 8.09.2009, dass § 14 SGB IX auch unter zwei einheitlichen Trägern anwendbar ist. Nur so ist es möglich, das gesetzgeberische Ziel der schnellen Zuständigkeitsklärung gegenüber dem behinderten Menschen sicherzustellen.[16]
Ein weiteres Argument formte das BSG aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Aus ihr sei zu entnehmen, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger prinzipiell die Leistung zu erbringen habe. Nur bei einer negativen Zuständigkeitsprüfung habe der erstangegangene Rehabilitationsträger die Möglichkeit, den Antrag innerhalb der Zwei-Wochen-Frist an einen anderen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. Dieser müsse dann die Leistung ohne Rücksicht auf seine eigene Zuständigkeit erbringen. Eine erneute Weiterleitung des Antrages, so wie sie noch vor Einführung des SGB IX möglich war[17], sehe § 14 SGB IX nicht mehr vor. Damit sei ein erneuter Zuständigkeitswechsel unter den Rehabilitationsträgern ausgeschlossen.[18]
b) Keine endgültige Zuständigkeit
Das BVerwG hingegen vertritt die Ansicht, dass § 14 SGB IX keine statische Zuständigkeit im Kinder- und Jugendhilferecht begründet, insbesondere dann, wenn es um die örtliche Zuständigkeit nach §§ 86 ff. SGB VIII gehe. Das BVerwG vertritt die Auffassung, dass es dem Ziel der Kinder- und Jugendhilfe zuwiderlaufe, wenn § 14 SGB IX die örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers statisch verfestige. Seine Begründung stützt das Gericht auf die systematische Konzeption der Kinder- und Jugendhilfe. Diese sei durch einen kooperativen Prozess der Mitgestaltung und Mitwirkung von Jugendhilfeträger und Hilfeempfängern unter Wahrung sowohl der elterlichen Sorge als auch der Subjektstellung des Minderjährigen gekennzeichnet. Damit unterstreicht das Bundesverwaltungsgericht, dass § 14 SGB IX keine Auswirkungen auf die Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit (§§ 86 ff. SGB VIII) und einen möglichen Zuständigkeitswechsel unter den Jugendhilfeträgern hat. Entscheidend sei, dass der Leistungsberechtigte die Leistungen „wie aus einer Hand“ erhalte.[19]
Wie ist mit dieser Diskrepanz umzugehen?
c) Umgang mit dieser Diskrepanz
Die Argumentationsfigur des BVerwG vom 22.06.2017 setzt voraus, dass bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der leistende Rehabilitationsträger so lange zuständig bleibt (vorläufig), bis der Zuständigkeitswechsel unter den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe abgeschlossen ist. Denn nach § 86c Abs. 1 SGB VIII bleibt der bisher zuständige örtliche Träger so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Diese Rechtsauffassung lässt sich jedoch nicht mit der aktuellen Rechtsprechung des BSG in Einklang bringen. Das BSG entschied am 13.07.2017, also knapp drei Wochen nach der Entscheidung des BVerwG, dass § 14 SGB IX keine zeitliche Begrenzung kenne. In dem Urteil heißt es:
„(…) der Begriff der Vorläufigkeit kann aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung und der durch die Rechtsprechung gefundenen Auslegung nicht [im Sinne] einer zeitlichen Vorläufigkeit verstanden werden, also als zeitlich begrenzte Zuständigkeit, bis die endgültige „eigentliche" Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers nach den Regelungen außerhalb des § 14 SGB IX feststeht.“[20]
Wie ist diese Passage zu verstehen? Dem Anschein nach wurde im Urteil zunächst eine klare Abgrenzung zu der Entscheidung des BVerwG vorgenommen. Dafür sprechen der zeitliche Abstand zwischen den beiden Urteilen und die unterschiedlichen Stoßrichtungen. Mit seiner Entscheidung schließt das BSG im Gegensatz zum BVerwG eine zeitlich begrenzte Zuständigkeit aus, die jedoch vorliegen würde, wenn ein Zuständigkeitswechsel auf der Ebene der örtlichen Zuständigkeit möglich wäre, da ein Jugendhilfeträger immer damit rechnen muss, dass die Eltern bzw. der zuständigkeitsbestimmende personensorgeberechtigte Elternteil aus dem Zuständigkeitsbereich des leistenden Jugendhilfeträgers verzieht. In diesen Fällen müsste der Jugendhilfeträger die Leistungen zur Teilhabe so lange erbringen, bis der nunmehr zuständige andere Jugendhilfeträger den Fall übernimmt. Die Entscheidung des BSG zementiert somit noch einmal die endgültige Zuständigkeit gegenüber dem behinderten Menschen, da ein örtlicher Zuständigkeitswechsel nach der Rechtsauslegung des BSG nicht möglich ist.
Die Rechtsauffassung des BSG wird auch durch die Regelung zur Kostenerstattung zwischen den Rehabilitationsträgern gestützt..[21 Aus der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass die Erstattungsregelung (§ 16 Abs. 1 SGB IX) weitgehend der alten Rechtslage entspricht,
„nach der der zweitangegangene Rehabilitationsträger einen Erstattungsanspruch erhält, wenn eine nochmalige Weiterleitung des Antrages nicht in Betracht kommt und er aus diesem Grund Leistungen nach dem Leistungsgesetz eines anderen Rehabilitationsträgers zu erbringen hat.“[22]
Grundsätzlich ist an keiner Stelle der zitierten Passage erkennbar, dass ein Wechsel der Zuständigkeit auf der örtlichen Ebene möglich sein soll.[23] Ganz im Gegenteil: Der Gesetzgeber räumt lediglich dem nicht zuständigen leistenden Rehabilitationsträger einen Kostenerstattungsanspruch ein, wenn er für die Leistungen zur Teilhabe nach seinen Leistungsgesetzen nicht oder nicht mehr zuständig ist. Diese Fallkonstellation würde vorliegen, wenn der zuständigkeitsbestimmende Elternteil in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendhilfeträgers verziehen würde. Dann wäre der leistende Jugendhilfeträger nicht mehr nach seinen Leistungsgesetzen zuständig, da § 86c SGB VIII für diese Fälle einen Zuständigkeitswechsel vorsieht. Mit der Formulierung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass der leistende Jugendhilfeträger als Rehabilitationsträger nur die Möglichkeit hat, einen Kostenerstattungsanspruch nach § 16 Abs. 1 SGB IX geltend zu machen.[24] In der Konsequenz heißt das, dass die Erstattungsarchitektur des § 16 SGB IX einen Wechsel der Zuständigkeit ausschließt.
Obwohl die Argumentation des BVerwG vom 22.07.2017 nachvollziehbar ist, ist es aufgrund des Inkrafttretens der zweiten Stufe des BTHG am 01.01.2018 nicht mehr möglich, bei der Auslegung des § 14 SGB IX die systematische Konzeption des SGB VIII über die Vorschriften des SGB IX zu stellen. Diese Tür hat der Gesetzgeber mit der Neuformulierung des § 7 SGB IX eindeutig geschlossen.
Für diese Ansicht spricht auch die Gesetzesbegründung zum SGB IX. Aus ihr ist zu entnehmen, dass die langjährige Rechtsprechung des BSG zu § 14 SGB IX die Grundlage der Vorschrift ist. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Das neue Verfahren bildet hinsichtlich der Zuständigkeitsklärung die langjährige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum § 14 SGB IX in der bisherigen Fassung ab."[25] Es stellt sich die interessante Frage, was der Gesetzgeber mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen wollte.
Der Wortlaut in der Gesetzesbegründung weist eindeutig darauf hin, dass sich der Gesetzgeber bei der „Neufassung“ des § 14 SGB IX ausschließlich an der Rechtsprechung des BSG orientierte. Damit zieht der Gesetzgeber ebenso wie das BSG eine eindeutige Trennlinie zur abweichenden Rechtsprechung des BVerwG. Aufgrund der unmissverständlichen Erwähnung in der Gesetzesbegründung muss davon ausgegangen werden, dass die Rechtsprechung des BVerwG für die zukünftige Auslegung von § 14 SGB IX nicht mehr herangezogen werden sollte und dass der Gesetzgeber für die zukünftige Rechtsprechung erwartet, dass sich das BVerwG an der Rechtsauffassung des BSG orientiert.
Für diese Auslegung spricht auch der systematische Aufbau des SGB IX. Das Fundament dieser Architektur ist der „leistende Rehabilitationsträger“ nach § 14 SGB IX, der ohne Wenn und Aber an die verwaltungsrechtlichen Vorschriften des 4. Kapitels des SGB IX gebunden ist. Nach § 14 SGB IX gibt es drei Möglichkeiten, zum „leistenden Rehabilitationsträger“ zu werden. Die erste Möglichkeit ist, den Antrag innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nicht weiterzuleiten. Dann ist der leistende Rehabilitationsträger der „erstangegangenen Rehabilitationsträger“ (§ 14 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Die zweite Möglichkeit ist, den Antrag innerhalb der Zwei-Wochen-Frist weiterzuleiten. Mit der Weiterleitung wird der „zweitangegangene Rehabilitationsträger“ (§ 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX) zum leistenden Rehabilitationsträger. Die dritte Möglichkeit ist, den Antrag nach der ersten Weiterleitung erneut weiterzuleiten, sofern der „zweitangegangene Träger“ für die Leistung insgesamt nicht zuständig ist. In diesen Fällen ist der leistende Rehabilitationsträger der „drittangegangen Rehabilitationsträger“ (§ 14 Abs. 3 SGB IX). Die rechtlichen Ausgestaltungsinstrumente des SGB IX weisen dem leistenden Rehabilitationsträger (je nach Fallkonstellation) unterschiedliche Aufgaben zu, die durchgeführt und umgesetzt werden müssen. Zu den Aufgaben gehört zum Beispiel ein Gutachten in Auftrag zu geben (§ 17 SGB IX), eine Teilhabeplanung durchzuführen (§ 19 SGB IX), eine Teilhabekonferenz einzuberufen (§ 20 SGB IX) oder eine andere öffentliche Stelle in den Rehabilitationsprozess einzubeziehen (§ 22 SGB IX).
Für die Umsetzung dieser Aufgaben ist dem Wortlaut nach immer der „leistende Rehabilitationsträger“ gemäß § 14 SGB IX verantwortlich. In § 19 Abs. 2 S. 1 SGB IX heißt es beispielsweise: „Der leistende Rehabilitationsträger erstellt (…) einen Teilhabeplan“. Würde man davon ausgehen, dass ein Zuständigkeitswechsel unter den Jugendhilfeträgern auf der Ebene der örtlichen Zuständigkeit möglich ist, dann würde der systematische Aufbau des SGB IX zusammenfallen wie ein Kartenhaus, da nach einem Zuständigkeitswechsel völlig unklar wäre, wer nach den Regelungen des SGB IX der erst-, zweit- oder drittangegangene Rehabilitationsträger ist. Diese Problematik könnte auch der Grund dafür gewesen sein, warum sich der Gesetzgeber bei der Neufassung von § 14 SGB IX ausschließlich an der Rechtsprechung des BSG orientierte. Der systematische Aufbau des SGB IX schließt demensprechend auch einen einvernehmlichen Zuständigkeitswechsel unter den Rehabilitationsträgern aus. Denn wer soll im Falle einer einvernehmlichen Lösung der „leistende Rehabilitationsträger“ nach § 14 SGB IX sein und die gesetzlichen Aufgaben zur Teilhabeplanung etc. wahrnehmen?
Bekräftigt wird dieses Normenverständnis auch durch Sinn und Zweck der Regelung. Der Gesetzgeber hat mit § 14 SGB IX eine Regelung in das Gesetz aufgenommen, um den Nachteilen des gegliederten Sozialleistungssystems entgegenzuwirken und eine schnellstmögliche Leistungserbringung zu gewährleisten. Dieses gesetzgeberische Ziel würde konterkariert, wenn die Rehabilitationsträger darüber streiten, wer nach einem möglichen Zuständigkeitswechsel der „leistende Rehabilitationsträger“ ist.
Zusammenfassend ist § 14 SGB IX eine übergreifende Grundsatznorm, die auch den Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe keine Sonderstellung einräumt.[26]
Im Ergebnis wird die zweite Stufe des BTHG einen großen Einfluss auf die Praxis der Jugendämter haben. Denn weder § 7 SGB IX noch § 14 SGB IX können herangezogen werden, um einen örtlichen Zuständigkeitswechsel durchzuführen, wenn der zuständigkeitsbestimmende Elternteil in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendhilfeträgers verzieht. Mit Einführung des Teil 1 im SGB IX am 01.01.2018 wurde die rechtliche Stellschraube für alle Rehabilitationsträger enger gezogen und § 14 SGB IX beinhaltet nunmehr für alle Rehabilitationsträger eine endgültige Zuständigkeitsregelung (ohne Ausnahme). Es ist der eindeutige Wille des Gesetzgebers, dass alle Rehabilitationsträger (auch die Träger der Kinder- und Jugendhilfe) die Rechtsprechung des BSG zu § 14 SGB IX berücksichtigen und in ihrer Praxis umsetzen.
Die in § 14 SGB IX verankerte „endgültige“ Zuständigkeit ist für die Jugendämter nichts Neues. Obwohl die örtliche Zuständigkeit in der Regel am gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern anknüpft, bleibt nach §§ 86 Abs. 1 S. 1 SGB VIII in Verbindung mit 86 Abs. 5 S. 2 SGB VIII die bisherige Zuständigkeit für einen Hilfefall bestehen, wenn die Elternteile (mit oder ohne gemeinsames Sorgerecht) nach Beginn der Jugendhilfeleistung aus dem Zuständigkeitsbereich des Jugendhilfeträgers verziehen und verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Diese Fallkonstellation wird auch als „statische“[27] Zuständigkeit bezeichnet.
Dennoch sollte der Gesetzgeber kritisch prüfen, ob die endgültige Zuständigkeit nach § 14 SGB IX wirklich mit der Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilferechts vereinbar ist, da die Grundlage des SGB VIII ein familiensystemisches Konzept ist, das die Personensorgeberechtigten ins Zentrum der Arbeit stellt. Dieser Ansatz würde jedoch für den Personenkreis der seelisch behinderten Kinder ins Leere laufen, wenn die Eltern aus dem Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes verziehen und die pädagogische Fallverantwortung nicht mitwandern würde. Bei der Durchdringung des rechtlichen Themas darf nicht vergessen werden, dass die Teilhabeleistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nicht nur aus der Finanzierung der Leistungen bestehen, sondern auch aus der pädagogischen Begleitung der Eltern, die in einer solchen Phase viel Beratung und Unterstützung durch den leistenden Rehabilitationsträger benötigen.
Beitrag von PhDr. Andreas Jordan, LL.M., Landkreis Kassel
[1] BGBl. S. 3234.
[2] Ulrich, Das BTHG und seine Folgen: Re- oder Umorganisationswelle in den Jugendämtern, JAmt 2019, 603.
[3] Nickel/Eschelbach, in: Nickel/Eschelbach, ÖZKE-Komm., Einführung, Rn. 6.
[4] Siehe dazu Schönecker: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe – Erste Hinweise für die Praxis – Teil I: Das Jugendamt als Rehabilitationsträger; Beitrag A6-2019 unter www.reha-recht.de; 16.07.2019.
[5] Grünwald/Rössel, Leistungsgewährung nach § 35a SGB VIII auf Stand der Reformstufe 3 des Bundesteilhabegesetzes, JAmt 2019, 598.
[6] Bundestags-Drucksache18/9522, S. 229.
[7] Bundestags-Drucksache18/9522, S. 4.
[8] Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), Bundesteilhabegesetz kompakt. Die wichtigsten Änderungen im SGB IX, 2017, S. 9.
[9] SG Osnabrück, Urt. v. 22.8.2019 - S 43 AL 155/16.
[10] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 95.
[11] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 102.
[12] BSG, Urt. v. 26.10.2004 – B 7 AL 16/03.
[13] BSG, Urt. v. 13.7.2017 – B 8 SO 1/16 R. So auch BSG, Urt. V. 08.09.2009 – B 1 KR 9/09 R, Rn. 17
[14] BSG, Urt. v. 8.3.2016 – B 1 KR 27/15 R.
[15] BSG, Urt. v. 8.3.2016 – B 1 KR 27/15 R, Rn. 13.
[16] BSG, Urt. v. 8.09.2009 – B 1 KR 9/09, Rn. 12.
[17] Vgl. dazu auch Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 102.
[18] BSG, Urt. v. 8.3.2016 – B 1 KR 27/15 R, Rn. 16.
[19] BVerwG, Urt. v. 22.6.2017, 5 C 3.16, Rn. 15.
[20] BSG, Urt. v. 13.7.2017 – B 8 SO 1/16 R, Rn.24.
[21] BSG, Urt. v. 13.7.2017 – B 8 SO 1/16 R, Rn. 24.
[22] Bundestags-Drucksache 18/09522, S. 236.
[23] So auch DIJUF-Rechtsgutachten vom 1.9.2013, Fallübernahme und Kostenerstattung durch den Sozialhilfeträger bei Leistungen einer Pflegefamilie für Kinder mit geistiger Behinderung, JAmt 2015, Rn. 3.
[24] Grünenwald/Rössel, JAmt 2019, 599.
[25] Bundestags-Drucksache18/9522, S. 193.
[26] DIJUF-Rechtsgutachten vom 29.10.2014, Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX in Bezug auf Leistungen der Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII (Verhältnis von § 14 SGB IX zu den §§ 86 ff. SGB VIII), JAmt 2015, 31.
[27] Jung/Sitner, in: Eschelbach/Nickel, ÖZKE-Komm., § 86 SGB VIII, Rn. 30.
Bundesteilhabegesetz (BTHG), Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Eingliederungshilfe – Jugendhilfe, Zuständigkeit, Seelisch behinderte Kinder
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