16.08.2022 A: Sozialrecht Sellnick: Beitrag A8-2022

SGB-II-Leistungsberechtigte mit Behinderungen – Teil I: Defizite bei der Erkennung und Feststellung von Rehabilitationsbedarfen

Dr. Hans-Joachim Sellnick setzt sich in dem dreiteiligen Beitrag mit der Erkennung und Feststellung von Rehabilitationsbedarfen bei SGB II-Leistungsberechtigten auseinander. In Beitragsteil I geht er den Indizien nach, die den Verdacht begründen können, dass Rehabilitationsbedarfe von SGB-II-Leistungsempfängern häufig nicht erkannt werden. Dazu verweist er auf einen Revisionsbericht der Bundesagentur für Arbeit, auf Daten und Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie auf die eigenen Erfahrungen als Richter an einem Sozialgericht.

(Zitiervorschlag: Sellnick: SGB-II-Leistungsberechtigte mit Behinderungen – Teil I: Defizite bei der Erkennung und Feststellung von Rehabilitationsbedarfen; Beitrag A8-2022 unter www.reha-recht.de; 16.08.2022.)

I. Problemstellung

Aus Sicht eines erstinstanzlichen Sozialrichters, der Verfahren im SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) und SGB VI (Gesetzliche Rentenversicherung) bearbeitet, drängt sich der Verdacht auf, dass häufig gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit und daran anknüpfende Bedarfe an Leistungen zur Teilhabe bei SGB-II-Leistungsempfängern nicht erkannt bzw. erfasst werden oder ihnen nicht adäquat Rechnung getragen wird. Dies bedeutet, dass notendige Rehabilitationsleistungen entweder überhaupt nicht oder verspätet eingeleitet werden. Damit sinken die Chancen für eine erfolgreiche Reintegration in das Arbeitsleben und Chronifizierungsprozesse, insbesondere bei psychischen Erkrankungen bzw. Störungen, werden nicht unterbrochen mit der Folge einer weiteren Minderung der beruflichen Leistungsfähigkeit.

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche Indizien diesen Verdacht begründen und wie man das Dunkelfeld besser ausleuchten könnte. In den Beitragsteilen II und III wird den strukturellen Ursachen nachgegangen (Teil II) und werden die aus diesen Befunden zu ziehenden Folgerungen dargestellt (Teil III).

II. Der festgestellte Rehabilitationsbedarf und die erkannten Defizite

Ein Bericht der Internen Revision SGB II[1] zum Thema „Reha (Wiedereingliederung)“ ging im Hinblick auf rehabilitationsbedürftige SGB-II-Leistungsempfänger von folgenden Zahlen aus:

Etwa 18.000 (36 %) der insgesamt rund 50.000 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im Bereich der Wiedereingliederung, für die die BA als Rehabilitationsträger zuständig ist, werden in Jobcentern betreut. Des Weiteren sind auch rund 83.000 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Zuständigkeit anderer Rehabilitationsträger (Fremdträger) Kundinnen und Kunden der Jobcenter.

Die Interne Revision hatte stichprobenartig bei vier Jobcentern die Fallbearbeitung von als Rehabilitationsfälle erkannten Betroffenen untersucht:

  • Bei 86 von 90 Kundinnen und Kunden (96 %) waren die Aktivitäten der Jobcenter nicht geeignet, den aktuellen Rehabilitationsverlauf zu unterstützen bzw. waren sogar kontraproduktiv für diesen.
  • Eine Kommunikation mit den jeweils zuständigen Trägern der beruflichen Rehabilitation, um z. B. das weitere Vorgehen im Rehabilitationsprozess abzustimmen oder um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, fand bei über 70 % nicht statt.
  • Bei 46 % der nicht zielführend Betreuten dauerte zum Prüfungszeitpunkt das Rehabilitationsverfahren durchschnittlich neun Jahre, ohne dass Gründe für ein derart langes Verfahren ersichtlich waren, d. h. die Person wurde irgendwann als Rehabilitationsfall eingestuft, die Entwicklung jedoch nicht systematisch weiterverfolgt.

Der Bericht schätzt ein:

„Die in allen rehabilitationsspezifischen Prozessphasen und damit verbundenen fachlichen Zusammenhängen festgestellten Mängel deuten darauf hin, dass bei einem Teil der mit der Integration von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden befassten Integrationsfachkräfte der gemeinsamen Einrichtungen (Jobcenter) das hierfür erforderliche Fachwissen oder das Bewusstsein für die besonderen Belange der behinderten Kundinnen und Kunden nicht vorhanden ist.“[2]

III. Defizite bei der Bedarfserkennung und -feststellung und ihre Indizien

Diese Feststellungen des Berichts der Internen Revision lassen vermuten, dass Rehabilitationsbedarfe oft nicht erkannt, nicht systematisch verfolgt und, falls erkannt, nicht zielführend in der Vermittlungstätigkeit berücksichtigt werden. Eine unzureichende Erfassung dürfte auch zur Folge haben, dass die offiziellen SGB-II-Statistiken ein verzerrtes Bild ergeben. Hinweise auf das Ausmaß der Dunkelziffer könnten ggfs. repräsentative Befragungen geben. Zu denken wäre hier z. B. an Daten aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) oder Befragungsdaten des Panels Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS).

Auf der letzteren Datengrundlage basiert eine relativ aktuelle Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit IAB.[3] Dieser Veröffentlichung können u. a. folgende Daten entnommen werden: Der Anteil der gesundheitlich Beeinträchtigten an allen SGB-II-Leistungsberechtigten, die nicht regulär beschäftigt oder in Ausbildung sind, beträgt über 50%. 2018 betrug der Anteil der arbeitsunfähig Gemeldeten an allen erwerbsfähigen SGB-II-Leistungsberechtigten (abzüglich ungefördert Beschäftigter und Personen in Ausbildung) 10%.

Im PASS wurde auch erhoben, inwiefern Personen nach eigenem Bekunden vom Jobcenter dazu verpflichtet sind, eine Arbeit zu suchen. Bei Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen waren mit 38 % diese signifikant seltener zur Arbeitsuche verpflichtet als Personen ohne gesundheitliche Einschränkungen (53%).

Zum Verständnis dieser Zahlen muss man sich darüber im Klaren sein, dass SGB-II-Leistungsbezieher sehr heterogen sind:[4] In 2.902.000 Bedarfsgemeinschaften lebten im Juni 2021 5.693.000 Personen[5], davon zählten zu den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten 3.903.000, zu den nicht erwerbsfähigen Leistungsberechtigten 1.488.864 (z. B. Kinder, Alters- oder Erwerbsminderungsrentner in den Bedarfsgemeinschaften), die Zahl der erwerbstätigen Leistungsbezieher (Aufstocker) betrug im Januar 2021 875.907 Personen. Die erwerbsfähigen Leistungsbezieher sind zu einem erheblichen Teil also schon deshalb nicht zur Arbeitssuche verpflichtet, weil sie schon Arbeit haben oder aus anderen Gründen, z. B. Kindererziehung oder Angehörigenpflege. Man kann auch zur Arbeitssuche verpflichtet sein und einen Rehabilitationsbedarf haben. Schließlich kann man auch z. B. aufgrund von Pflegetätigkeit nicht zur Arbeitssuche verpflichtet sein und trotzdem einen Rehabilitationsbedarf haben.[6]

Dennoch verbirgt sich hinter der unterschiedlichen Verpflichtung zur Arbeitssuche aufgrund des Gesundheitsstatus ein Hinweis auf bisher nicht erkannten Rehabilitationsbedarf wie eine weitere Untersuchung des IAB[7] zeigt. Diese hat ungeachtet der unzureichenden Datenlage ebenfalls unter Benutzung der PASS-Daten versucht, eine Abschätzung der Größe und Zusammensetzung der Gruppe von Leistungsberechtigten, die formal als erwerbsfähig gelten, faktisch aber aus gesundheitlichen Gründen nicht erwerbsfähig sind, vorzunehmen:

Das Fazit dieses Beitrages lautet u. a.:

„Zusammengenommen deuten diese Angaben darauf hin, dass es innerhalb der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine Bandbreite[8] von 129.000 bis 239.000 Personen gibt, die von den Jobcentern zwar als erwerbsfähige Leistungsberechtigte geführt werden und überwiegend als arbeitslos eingestuft sind, nach eigener Einschätzung aber gesundheitlich nicht dazu in der Lage sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Betroffenen nehmen zwar regelmäßig Termine im Jobcenter wahr, verschwinden also nicht gänzlich vom Radar der Integrationsfachkräfte, werden aber kaum zur Arbeitsuche verpflichtet oder mit Fördermaßnahmen bei der Arbeitsaufnahme unterstützt.“

Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass diese Zahlen auf die SGB-II-Empfänger Bezug nehmen, die schon länger als zwei Jahre arbeitslos sind und bei denen sowohl das Jobcenter als auch die Betroffenen selbst davon ausgehen, dass eine existenzsichernde Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist. Hinzurechnen müsste man den potenziellen Rehabilitationsbedarf der zur Arbeitssuche weiterhin Verpflichteten und der (auch) aus anderen Gründen (als Krankheit bzw. Behinderung) zur Arbeitssuche nicht Verpflichteten. Schließlich können auch Aufstocker einen Rehabilitationsdarf haben.

IV. Zusammenfassung und Ausblick

Zumindest bei den rund 400.000 Personen, die sich für nicht erwerbsfähig halten, dürfte eine ernsthafte Prüfung des Rehabilitationsbedarfes angezeigt sein. Nur 19.000 der seit mehr als zwei Jahren Arbeitslosen mit gesundheitlichen Beeinträchtigten – also weniger als 10% – erhalten eine Erwerbsminderungsrente und fallen bei einer vollen Erwerbsminderung aus dem SGB-II-Leistungssystem, weitere 18.000 werden dem Bereich Wiedereingliederung der BA zugerechnet und kämen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) in Betracht. Was ist mit dem Rest? 83.000 befinden sich in der Zuständigkeit anderer Rehabilitationsträger, der größte Teil in Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung[9] und dürfte dort für Leistungen der medizinischen oder beruflichen Rehabilitation in Frage (ge-)kommen sein bzw. diese erhalten (haben). Aber die Übrigen? Alles bzw. überwiegend Simulanten und Drückeberger? Gegen eine solche Annahme sprechen die Erfahrungen aus der Begutachtung in Erwerbsminderungsrentenverfahren. Auch bei den abgelehnten Anträgen auf eine Erwerbsminderungsrente liegen in aller Regel – ungeachtet von Verdeutlichungstendenzen und Leidensüberzeichnungen in der Begutachtungssituation – ernsthafte dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen vor, die sich in erheblichem Ausmaß auf die berufliche Leistungsfähigkeit auswirken. Die im Ergebnis vernichtende Kritik des Berichts der Internen Revision legt etwas anderes nahe: Es wäre schon sehr erstaunlich, wenn sich die dort geschilderten Defizite im Bereich der Rehabilitation nur bei den erkannten Rehabilitationsfällen und nicht auch bei der Erkennung eines Rehabilitationsbedarfes auswirken würden. Alles spricht vielmehr für eine erhebliche, wenn auch nur vage eingrenzbare Dunkelziffer, wobei die Feststellungen des IAB nur die Untergrenze markieren dürften.

Deutlich wird ein erheblicher Ermittlungs- und weiterer Forschungsbedarf. Weitere entsprechende empirische Untersuchungen zum Beispiel durch Auswertung von Befragungsdaten im Rahmen des SOEP oder PASS wären hilfreich. Sinnvoll wäre zudem, durch ein Modellvorhaben für unterschiedliche Räume (zum Beispiel ländliche und städtische Räume in Ost und West) den Rehabilitationsbedarf genau zu ermitteln und dabei auch eine Langzeituntersuchung der Rehabilitationsfälle vorzunehmen, um zu ermitteln, bei welchen Beeinträchtigungen keine realistische Chance auf eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt trotz adäquater Förderung mehr besteht. Ebenfalls sinnvoll wäre eine systematische Auswertung von Rentengutachten auf psychiatrischem Fachgebiet, um die typischen Lebenslagen und Probleme besser identifizieren zu können.

Beitrag von Dr. Hans-Joachim Sellnick, Richter am Sozialgericht Nordhausen

Fußnoten

[1] Bundesagentur für Arbeit, Interne Revision, Revision SGB II, Bericht gem. § 49 SGB II, Reha (Wiedereingliederung), Juni 2018, abrufbar unter https://www.arbeitsagentur.de/datei/revisionsbericht-reha_ba041163.pdf, zuletzt abgerufen am 16.08.2022.

[2] Bundesagentur für Arbeit, Interne Revision, Reha (Wiedereingliederung), s. Fn. 1, S. 2.

[3] Stockinger, Zabel, Bewertung der Betreuung und Beratung in den Jobcentern – Leistungsberechtigte bedürfen oft besonderer Unterstützung, IAB-Kurzbericht 23/2020.

[4] Quelle: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Fachstatistiken/Grundsicherung-fuer-Arbeitsuchende-SGBII/Aktuelle-Eckwerte-Nav.html;jsessionid=8A3E84BB752771ABFDC61EE7177CF703, zuletzt abgerufen am 16.08.2022.

[5] Der Begriff der Bedarfsgemeinschaft setzt eigentlich mehr als eine Person voraus, statistisch sind hier aber auch „Bedarfsgemeinschaften“ erfasst, die nur aus einer Person bestehen.

[6] Der Anteil der gesundheitlich beeinträchtigten erwerbsfähigen Leistungsbezieher beträgt also rund 2 Mio., der Unterschied hinsichtlich der tatsächlichen Verpflichtung, Bewerbungsbemühungen zu unternehmen, rund 15% zwischen gesundheitlich Beeinträchtigten und Nichtbeeinträchtigten, also rund 300.000 Personen.

[7] Trappmann, Ramos Lobato, Unger, Lietzmann, (2019): Leistungsberechtigte mit gesundheitlichen Einschränkungen: Nicht jeder ist erwerbsfähig. IAB-Forum, 18. September 2019, abrufbar unter https://www.iab-forum.de/leistungsberechtigte-mit-gesundheitlichen-einschraenkungen-nicht-jeder-ist-erwerbsfaehig/, zuletzt abgerufen am 17.05.2022.

[8] Ausgehend von der Zahl von 168.000 unter Berücksichtigung der statistischen Unsicherheit.

[9] Die Zahl von 83.000 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden in Zuständigkeit anderer Rehabilitationsträger bezieht sich auf alle über 3,3 Mio. erwerbsfähigen SGB-II-Leistungsbezieher.


Stichwörter:

Rehabilitationsbedarf, Bedarfsfeststellung, SGB II, Gegliedertes Sozialleistungssystem, Teilhabestärkungsgesetz, Jobcenter, Arbeitslosigkeit


Kommentare (1)

  1. Kain
    Kain 06.09.2022
    Vielen Dank für Ihren informativen Beitrag! Sie wissen es vielleicht nicht, daß Ihr Link in den sozialen Medien geteilt wird - auf diese Weise fand auch ich den Pfad zu Ihnen (Link von der Red. entfernt). Beste Grüße und danke auch an die Beteiligten der o.g. Forschung sowie die Recherchen und die Berichterstattung der Lebenserfahrung von Hrn. Dr. Sellnik!

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