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Im vorliegenden Beitrag thematisiert die Autorin Sabine Wendt Leistungen der medizinischen Rehabilitation für voll erwerbsgeminderte Werkstattbeschäftigte und bespricht dazu eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.06.2015.
Das Gericht hatte sich damit zu beschäftigen, ob ein Rentenversicherungsträger einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen die Krankenkasse für die Erbringung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation hatte. Es ging um eine voll erwerbsgeminderte und in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigte Frau, die nach der Implantation einer Hüftprothese zur Anschlussbehandlung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch nahm, die nach Weiterleitung zunächst vom Rentenversicherungsträger bewilligt wurden. Das BSG gab der Revision statt und stellte fest, dass Leistungen der medizinischen Rehabilitation bei dauerhaft voll erwerbsgeminderten Personen von der Krankenversicherung zu zahlen sind.
Wendt kritisiert, dass das BSG nicht auf einen möglichen Verstoß gegen Art. 27 UN-Behindertenrechtskonvention eingegangen ist und fordert, Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung für Werkstattbeschäftigte gesetzlich zu regeln. Gelegenheit dazu biete das aktuelle Gesetzgebungsverfahren zum geplanten Bundesteilhabegesetz.
(Zitiervorschlag: Wendt: Keine Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung für voll erwerbsgeminderte Werkstattbeschäftigte – Anmerkung zu BSG, Urteil vom 16.06.2015 – B 13 R 12/14; Forum A, Beitrag A9-2015 unter www.reha-recht.de; 20.10.2015)
Die 1959 geborene Frau mit Down-Syndrom ist seit 1991 als voll erwerbsgeminderte Person in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt und ist dort sowohl kranken- als auch rentenversichert. Nach der Implantation einer Hüfttotalendoprothese beantragte sie 2006 zur Anschlussheilbehandlung (AHB) Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei der Krankenkasse. Die Krankenkasse leitete den Antrag an die ihrer Ansicht nach zuständige Rentenversicherung weiter, die die beantragten Leistungen für die Zeit vom 23. Juni bis 21. Juli 2006 in Höhe von 4.661 Euro bewilligte. Die Rentenversicherung beanspruchte als zweitangegangener Träger im Sinne des § 14 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) IX die Erstattung dieser Kosten wegen Unzuständigkeit, weil die persönlichen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung wegen einer vollen dauerhaften Erwerbsminderung nicht vorgelegen hätten. Die Krankenkasse lehnte eine Kostenerstattung ab, weil durch die medizinische Rehabilitation der weitere Verbleib in der WfbM sichergestellt werden konnte. Diesen Sachverhalt hat das Sozialgericht[1] nach Einholung eines Sachverständigengutachtens bestätigt und die Klage der Rentenversicherung gegen die Krankenkasse abgewiesen. Diese Entscheidung wurde von dem Landessozialgericht (LSG) Bayern[2] bestätigt. Bei behinderten Beschäftigten einer WfbM lägen die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 SGB VI für Leistungen der medizinischen Rehabilitation bereits dann vor, wenn zu erwarten sei, dass der Versicherte ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen könne. Ein Ausschlussgrund nach § 12 SGB VI liege nicht vor, da die im Gerichtsverfahren beigeladene Werkstattbeschäftigte noch keine Rente wegen voller Erwerbsminderung beziehe. Es widerspreche dem Diskriminierungsverbot von Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG), wenn Werkstattbeschäftigte generell von Reha-Leistungen der Rentenversicherung ausgeschlossen würden, weil sie in der WfbM beschäftigt seien, um ihr Restleistungsvermögen zu erhalten. Die Revision sei zuzulassen, da das BSG in seinem Urteil vom 23. Februar 2000[3] die Frage der Gewährung von Reha-Leistungen durch die Rentenversicherung für WfbM-Beschäftigte ohne Rentenbezug ausdrücklich unentschieden gelassen habe.
Das BSG hat der Revision der klagenden Rentenversicherung stattgegeben, da sie einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 SGB IX geltend machen könne.
Für Leistungen der medizinischen Rehabilitation seien sowohl die Träger der Rentenversicherung als auch der Krankenversicherung zuständig. Da die Beigeladene nach der bindenden Feststellung des LSG dauerhaft voll erwerbsgemindert sei, könne durch die AHB weder eine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit noch eine solche Minderung abgewendet werden, wie es § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI vorsehe.
Es gebe keinen Grund, von der Rechtsprechung des BSG von 1996[4], 2000[5] und 2011[6] abzuweichen, wonach kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gegeben sei, wenn zwar nach 240 Monaten ein Rentenanspruch auf Erwerbsminderungsrente bestehe, nicht aber auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation bei dauerhafter, voller Erwerbsminderung. Von einer wesentlichen Besserung der Erwerbsminderung könne nur ausgegangen werden, wenn die Minderung im Erwerbsleben zumindest teilweise und nicht nur vorübergehend behoben werde. Es reiche daher bei bereits vorliegender Erwerbsminderung nicht aus, wenn zwar die geminderte Erwerbsfähigkeit gebessert werde, nicht aber die Erwerbsunfähigkeit beseitigt werde. Denn Leistungen der Rentenversicherung zur Rehabilitation schieden als nicht zweckgerichtet aus, wenn diese allein auf die Gesundung des Versicherten gerichtet seien oder lediglich dazu dienen sollten, vor weiterem Abgleiten zu bewahren, ohne dass Aussicht bestehe, seine Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen.
Dieser Rechtsprechung schließe sich der erkennende Senat nach eigener Überzeugungsbildung an. Sie entspreche der Zielsetzung des Gesetzes zur Erhaltung bzw. Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt durch ein Herstellen eines Leistungsvermögens außerhalb der WfbM. Dem stehe auch nicht die von der Beklagten zitierte Arbeitsanweisung der Deutsche Rentenversicherung entgegen, wonach auch voll erwerbsgeminderte WfbM-Beschäftigte Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung beziehen könnten, wenn sie keine Erwerbsminderungsrente beantragt hätten.[7] Unabhängig von der Frage der rechtlichen Bindungswirkung solcher Arbeitsanweisungen könnten diese nicht über den gesetzlichen Anspruch hinausgehen. Eine wesentliche Besserung liege daher nicht vor, wenn nur eine Linderung oder sonstige Erleichterung der Lebensumstände erreicht werde.
Scheide somit eine Leistungspflicht der Klägerin mangels Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI durch die Beigeladene aus, ergebe sich eine Leistungspflicht der Beklagten aus § 11 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 40 Abs. 1 und 2 SGB V. Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, wenn diese notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Die Erforderlichkeit der AHB sei durch das LSG bindend festgestellt worden.
Eine Benachteiligung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liege nicht vor, wenn das eingeschränkte Leistungsvermögen behinderter Beschäftigter in WfbM nicht durch Reha-Maßnahmen der Rentenversicherung so geschützt werde, wie die Leistungsgrenze eines nicht behinderten Versicherten.
Auch eine Diskriminierung nach Art. 5 Abs. 2 UN-BRK sei nicht gegeben. Diese Vorschrift gebiete es nicht, dass der Anspruch des dem Grunde und der Sache nach unstreitigen Reha-Bedarfs im gegliederten Sozialsystem Deutschlands gerade durch den Träger der Rentenversicherung und nicht durch den Träger der Krankenversicherung gedeckt werde. Mit seiner Vorschrift über medizinische Reha-Leistungen erfülle Deutschland wesentliche Verpflichtungen, die es mit der Ratifizierung der UN-BRK eingegangen sei und verhindere damit gerade eine Diskriminierung behinderter Menschen. Denn auch voll erwerbsgeminderte behinderte Menschen, die lediglich für eine WfbM, nicht aber für den allgemeinen Arbeitsmarkt über ein ausreichendes Leistungsvermögen verfügten, seien in die Versicherungspflicht der Renten- und Krankenversicherung einbezogen. Diese Systeme gingen im Grundsatz davon aus, dass die Versicherten durch versichertes Arbeitsentgelt Vorsorge für den Fall der Krankheit treffen und eine Altersvorsorge aufbauen könnten. Obwohl dies bei von Anfang an voll erwerbsgeminderten behinderten Menschen nicht der Fall sei, könnten sie durch eine mindestens 20-jährige Tätigkeit in einer WfbM einen Rentenanspruch erwerben und damit eine bedürftigkeitsunabhängige Altersvorsorge aufbauen. Dies diene im hohen Maß dem Selbstwertgefühl, der finanziellen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit behinderter Menschen.
Art. 27 UN-BRK sieht in Absatz a) einen Diskriminierungsschutz in allen Angelegenheiten in Zusammenhang mit einer Beschäftigung vor. Das Abstellen auf „das gleiche Recht“ in Art. 27 S. 1 UN-BRK zeigt, dass die UN-BRK einem Gleichheitskonzept folgt, dem das Prinzip der Nichtdiskriminierung immanent ist.[8] Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat am 17. April 2015 in seinen abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands[9] in Auslegung des Art. 27 UN-BRK die Beendigung einer Segregation auf dem deutschen Arbeitsmarkt gefordert und dazu den Umstand gezählt, dass segregierte Behindertenwerkstätten weder auf den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern.
Daraus kann geschlossen werden, dass damit insbesondere diejenigen rechtlichen Regelungen beanstandet werden, die Werkstattbeschäftigte gegenüber nicht behinderten Beschäftigten benachteiligen. Dies ist auch nach Ansicht des BSG der Fall, ohne dass dies allerdings zu einer Diskriminierung führe. Dem kann nach der oben genannten Bewertung durch den Ausschuss für die Rechte behinderter Menschen nicht gefolgt werden. Diese Benachteiligung von Werkstattbeschäftigten im Leistungsbereich kann nicht dadurch ausgeglichen werden, dass zumindest eine gleiche Einbeziehung in die Sozialversicherung durch die Übernahme von Versicherungsbeiträgen erfolge, wie das BSG argumentiert. Insoweit haben die Vorinstanzen zutreffend in dem generellen Ausschluss von Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch die Rentenversicherung einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot gesehen. Da das BSG in ständiger Rechtsprechung diese Ansicht nicht teilt, ist Abhilfe durch den Gesetzgeber gefragt.
Eine Gelegenheit dazu bietet das Gesetzgebungsverfahren zu dem Bundesteilhabegesetz. Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bisher keine Bereitschaft zeigt[10], auch die Regelungen über die Rentenversicherung für Werkstattbeschäftigte zu reformieren, wurden von verschiedener Seite dazu Reformvorschläge gemacht. Bereits 2007 haben die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen solche Reformen in einer gemeinsamen Stellungnahme „Schnittstelle allgemeiner Arbeitsmarkt – Werkstatt für behinderte Menschen, Schwachstellen und Lösungsperspektiven“[11] die geltende Rentenversicherungsregelung in WfbM mit einem 20-jährigen Anwartschaftserwerb als übergangshemmende Regelung kritisiert, weil diese Anwartschaften bei einem Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verloren gehen.
In einem Gutachten zur Werkstattreform für die Friedrich-Ebert-Stiftung 2015 fordert Ritz, die Sozialversicherungsbeiträge, die sich nicht am Reallohn in der WfbM orientieren, sondern an 80 von Hundert der Bezugsgröße, abzusenken und die durch den verminderten Bundeszuschuss eingesparten Beiträge für eine Erhöhung des Arbeitsförderungsgeldes zu verwenden.[12] Er begründet dies damit, dass die Erwerbsminderungsrente auch für Werkstattbeschäftigte mit im Durchschnitt 700 Euro inzwischen unter dem Bedarf an Grundsicherung liege und – daher entgegen der Aussage des BSG – nicht mehr eine bedarfsunabhängige Alterssicherung sichere.
Der gleiche Sachverhalt ist bei einer Betrachtung der durchschnittlich zu erwartenden Erwerbsminderungsrente gegeben. Aus diesem Grund wird schon des längeren von den Sozialverbänden (SoVD und VdK) sowie von Welti/Groskreutz eine Reform des Erwerbsminderungsrechts gefordert, um eine armutsfeste Einkommenssicherung bei Erwerbsunfähigkeit zu regeln.[13]
Beitrag von Dr. Sabine Wendt, Rechtsanwältin, Marburg
Fußnoten:
[1] SG Landshut, Urt. v. 25.02.2010, Az.: S 1 KR 92/08, E. n. v.
[2] LSG Bayern, Urt. v. 04.12.2012, Az.: L 4 KR 235/10, juris; sowie Beitrag Wendt, Kein Ausschluss von Leistungen der medizinischen Rehabilitation für voll erwerbsgeminderte behinderte Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen, Forum A, Beitrag A13-2013 unter www.reha-recht.de.
[3] BSG, Urt. v. 23.02.2000, Az.: B 5 RJ 9/99 R, BSGE 85,298.
[4] BSG, Urt. v. 23.04.1996, Az.: 5 RJ 56/95, BSGE 78, 163.
[5] Siehe Fn. 3.
[6] BSG, Urt. v. 11.05.2011, Az.: B 5 R 54/10 R, BSGE 108,158.
[7] www.deutsche-rentenversicherung-regional.de/Raa/Raa.do.
[8] Trenk-Hinterberger in: Kreutz/Lachwitz/Trenk-Hinterberger, Die UN-BRK in der Praxis, Neuwied 2013, S. 283.
[9] www.gemeinsam-einfach-machen.de.
[10] So in der Stellungnahme des BMAS vom 10.07.2015 für geplante Leistungsänderungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum Bundesteilhabegesetz.
[11] Abrufbar unter www.lwl.org/LWL/Soziales/BAGues/Veroeffentlichungen/stellungnahmen.
[12] Ritz, Teilhabe von Menschen mit wesentlichen Behinderungen am Arbeitsmarkt, Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung 2015, Präsentation dazu abrufbar unter www.fes.de/wiso/pdf/aq/2015/170615/Ritz.pdf.
[13] Welti/Groskreutz, Vorschlag für eine grundlegende Reform im Erwerbsminderungsrecht, Soziale Sicherheit 2013, S. 308 ff. sowie dies., Forum D, Beiträge D8- und D9-2014 unter www.reha-recht.de.
Berufliche Rehabilitation, Diskriminierungsverbot, Gegliedertes Sozialleistungssystem, Kostenerstattung, Medizinische Rehabilitation, Rentenversicherungsträger, UN-BRK, Zuständigkeitsstreit, Bundesteilhabegesetz (BTHG), Benachteiligungsverbot, Berufliche Teilhabe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
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