03.05.2024 A: Sozialrecht Shafaei: Beitrag A9-2024

Umfang des Erstattungsanspruchs zwischen Rehabilitationsträgern – Anmerkung zum Urteil des BSG vom 29.06.2023, Az. B 1 KR 23/22 R

Reza F. Shafaei bespricht in diesem Beitrag das Urteil des BSG vom 29. Juni 2023, Az. B 1 KR 23/22 R. Das Gericht hat im Rahmen einer Erstattungsstreitigkeit zwischen zwei Reha-Trägern entschieden, dass eine "Rechtsvorschrift" im Sinne von § 104 Abs. 3 SGB X, die den Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers begrenzt, auch eine gesetzlich vorgesehene, vertragliche Preisvereinbarung zwischen dem vorrangig verpflichteten Leistungsträger und einer Reha-Einrichtung sein kann.

Der Autor begrüßt die Entscheidung im Ergebnis. Es sei im gegliederten System der Rehabilitation wichtig, dass der zuerst zuständig gewordene Reha-Träger auch im Fall von Erstattungsstreitigkeiten zuständiger Ansprechpartner für Leistungsberechtigte bleibe. Zudem sei es für eine faire Lastenverteilung wichtig, dass sich die Höhe von Erstattungsansprüchen daran festmache, was der erstattungspflichtige Träger jeweils selbst hätte zahlen müssen.

Shafaei kritisiert jedoch, dass die Auslegung des BSG den Wortlaut des Begriffs "Rechtsvorschrift" zu weit ausdehne, weil eine Vergütungsvereinbarung zwischen Reha-Träger und Reha-Einrichtung keine Außenwirkung entfalte. Bei der Herleitung des Ergebnisses hätte das Gericht sattdessen die systematische Stellung und Sinn und Zweck der Norm betonen können und wäre zum selben Ergebnis gekommen.

(Zitiervorschlag: Shafaei: Umfang des Erstattungsanspruchs zwischen Rehabilitationsträgern – Anmerkung zum Urteil des BSG vom 29.06.2023, Az. B 1 KR 23/22 R; Beitrag A9-2024 unter www.reha-recht.de; 03.05.2024)

I. Thesen des Autors

  1. § 14 SGB IX dient dem elementaren Interesse behinderter Menschen, durch rasche Klärung von Zuständigkeiten und Sicherstellung der Leistungsgewährung „aus einer Hand“ Nachteilen des gegliederten Reha-Systems entgegenzuwirken. Will man diese Zielsetzung nicht leichtfertig gefährden, müssen Änderungen der Zuständigkeit von Leistungsträgern im Außenverhältnis zum Leistungsberechtigten stets eine unvermeidbare und gut begründete Ausnahme sein. Finanziell motivierte Rechts­streitigkeiten unter den Leistungsträgern im Innenverhältnis zu einem anderen Leistungsträger über die Bemessung des Erstattungsumfangs sind ungeeignet, eine solche Ausnahme für den Wechsel der Außenzuständigkeit zu begründen.
  2. Die Bemessung des Erstattungsumfangs folgt systematisch einem Regel-Ausnahmeverhältnis. Im Regelfall ist auf das für den Erstattungspflichtigen maß­gebliche Recht abzustellen, sofern nicht wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit des Erstattungsberechtigten ausnahmsweise die Orientierung an dem für ihn geltenden Recht geboten ist. Diese Auslegungs- und Anwendungsregel dient der Einhaltung der vom Gesetzgeber vorgesehenen Belastungsverteilung innerhalb des Zuständigkeitssystems. Folglich ist die Höhe des Erstattungsanspruchs – abgesehen von gesetzlichen Ausnahmen – nach oben begrenzt durch das, was der Erstattungspflichtige jeweils selbst hätte erbringen müssen. Er hat grundsätzlich nicht mehr zu erstatten, als er unmittelbar dem Berechtigten gegenüber zu leisten gehabt hätte.
  3. „Rechtsvorschrift“ (im Sinne des § 104 Abs. 3 SGB X), welche die Erstattungspflicht der Höhe nach begrenzt, ist – als Synonym für „rechtliche Regelung“, „Rechtssatz“ oder „Rechtsnorm“ – gekennzeichnet durch die normative (abstrakt-generelle) Verbindlichkeit. Eine in diesem Sinne normative Wirkung können Vereinbarungen entfalten, wenn sie als „Normenverträge“ einen über die Vertragsparteien hinaus gehenden Geltungs- und Verbindlichkeitsanspruch erheben. Vereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V zwischen den Krankenkassen und den Trägern der zu­gelassenen Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen fehlt eine solche Wirkung; sie sind daher keine Normenverträge und können (rechts)sprachlich und dogmatisch nicht ohne eine erhebliche Ausdehnung der Wortlautgrenzen als „Rechtsvorschrift“ im Sinne des § 104 Abs. 3 SGB X verstanden werden. Obgleich der Wortlaut­auslegung des BSG wegen einer nicht näher begründeten Gleichsetzung (oder zumindest Vermengung) des unzweifelhaft als „Rechtsvorschrift“ geltenden § 111 Abs. 5 SGB V und der hierauf basierenden Vergütungsvereinbarungen nicht gefolgt werden kann, ist im Ergebnis dem BSG dennoch zuzustimmen, weil die systema­tische, historische und teleologische Auslegung die Begrenzung des Erstattungs­umfangs auf den vom Erstattungspflichtigen hypothetisch zu leistenden Betrag gebieten.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Wenn der erstangegangene Träger zunächst zuständig ist, als zuständiger Träger die Leistung bewilligt, aber vor Erfüllung der Leistungspflicht nach der Zuständig­keitsordnung außerhalb von § 14 SGB IX seine Zuständigkeit verliert, bleibt er nach § 14 Abs. 1 SGB IX im Außenverhältnis zum Leistungsberechtigten jedenfalls bis zur vollständigen Erfüllung der Leistungspflicht zuständig; ihm steht ein Erstattungs­anspruch gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger nach § 104 Abs. 1 SGB X zu.
  2. Der Umfang des Erstattungsanspruchs ist der Höhe nach auf den Betrag begrenzt, den der vorrangig verpflichtete Leistungsträger selbst hätte aufbringen müssen.
  3. Unter den Begriff der „Rechtsvorschrift“ (im Sinne des § 104 Abs. 3 SGB X), die den Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers begrenzt, fällt auch eine gesetzlich vorgesehene Vereinbarung zwischen dem vorrangig verpflich­teten Leistungsträger und dem Leistungserbringer, hier konkret eine Vergütungs­vereinbarung nach § 111 Abs. 5 SGB V.

III. Der Sachverhalt

Im Rahmen einer Erstattungsstreitigkeit begehrt die klagende Rentenversicherungs­trägerin von der beklagten, erstattungspflichtigen gesetzlichen Krankenkasse die Erstattung weiterer Pflegekosten, die der Klägerin für die Durchführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation für einen bei beiden Beteiligten Versicherten ent­standen sind.

Die Klägerin bewilligte dem Versicherten eine Anschluss-Rehabilitation in der Zeit vom 9. bis zum 30. Mai 2016. Nach Bewilligung der Rehabilitation und noch vor deren Antritt beantragte der Versicherte bei der Klägerin die Altersrente. Nach Abschluss der Rehabilitation bewilligte die Klägerin dem Versicherten auf seinen Antrag Altersrente ab dem 1. September 2016.

Die Klägerin meldete ihren Erstattungsanspruch in Höhe von 3.438,02 EUR für die Rehabilitation bei der Beklagten an, die den Anspruch dem Grunde nach anerkannte. Dabei kürzte die Beklagte die Pflegekosten in Höhe von 2.819,64 EUR auf 2.430,10 EUR. Der streitige Kürzungsbetrag beruht auf demjenigen Preis, der zwischen der Beklagten und der Rehabilitations-Einrichtung als Vergütung vereinbart wurde.

Die Klägerin hat Klage gegen die Beklagte auf Zahlung der Differenz in Höhe von 389,55 EUR erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG zurückgewiesen und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Mit ihrer Revision rügte die Klägerin eine Verletzung von § 104 Abs. 3 SGB X. Sie habe den Anspruch des Versicherten in dem Umfang erfüllt, wie er auch nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften zu leisten gewesen wäre. Sie habe die Pflegekosten jedoch nur nach den mit der Reha-Einrichtung vertraglich vereinbarten Vergütungssätzen der Rentenversicherungsträger abrechnen können. Die Beklagte könne dem Erstattungsanspruch nun nicht entgegenhalten, dass die von ihr mit der Reha-Einrichtung vereinbarten Vergütungssätze niedriger seien. Für das Erstattungsverfahren sei es unbeachtlich, ob und ggf. in welcher Höhe die Beklagte mit einem außerhalb der Rechtsbeziehungen zum Versicherten stehenden Dritten – der Reha-Einrichtung – Vergütungssätze vereinbart habe, weil dies keine Drittwirkung entfalte. Auch § 111 Abs. 1 und Abs. 5 SGB V stünden der Erstattung der Pflegekosten in Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsbetrages nicht entgegen. Eine Vergütungsvereinbarung nach § 111 Abs. 5 Satz 1 SGB V sei kein Normenvertrag; ihre Wirkung erstrecke sich nicht über die Parteien der Vergütungsvereinbarung hinaus.

IV. Die Entscheidung

Das BSG hat die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin zurückgewiesen und entschieden, dass sich der Anspruch der Klägerin aus § 104 SGB X, dessen Voraus­setzungen erfüllt seien, ergäbe, der Umfang des Erstattungsanspruchs aber durch die von der beklagten Krankenkasse abgeschlossene Vergütungsvereinbarung nach § 111 Abs. 5 SGB V der Höhe nach begrenzt werde.

1. Zuständigkeit

Hinsichtlich der Zuständigkeit bestätigte das BSG in Fortsetzung seiner früheren Rechtsprechung (BSGE 126, 269, Rn. 12 ff. m.w.N.) die Auffassung der Vorinstanzen zu der bis zum Inkrafttreten des BTHG gültigen Rechtslage, wonach in Fällen, in denen der Reha-Träger auf den Reha-Antrag hin seine Zuständigkeit gegenüber dem Versicherten geprüft und bejaht hat, § 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX (in der für die Entscheidung maßgeblichen Fassung) für das Erstattungsverhältnis zwischen den Trägern eine nachrangige Zuständigkeit des erstangegangenen Trägers im Sinne des § 104 SGB X begründe, wenn er nach den Zuständigkeitsregelungen außerhalb von § 14 SGB IX unzuständig, ein anderer Träger aber zuständig gewesen wäre. Diese Grundsätze wendet das BSG sinngemäß auch dann an, wenn der erst­angegangene Träger zunächst zuständig ist, als zuständiger Träger die Leistung bewilligt und vor Erfüllung der Leistungspflicht nach der Zuständigkeitsordnung außer­halb von § 14 SGB IX seine Zuständigkeit verliert. Im Außenverhältnis zum Leistungs­berechtigten soll in diesem Fall der erstangegangene Träger ebenfalls nach § 14 Abs. 1 SGB IX zuständig bleiben. Die vorstehenden Voraussetzungen seien nach Ansicht des BSG vorliegend erfüllt, da der Anspruch des Versicherten auf medizinische Reha­bilitation nach § 15 SGB VI gegen die Klägerin als Rentenversicherungsträger durch die Rentenantragstellung gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI nach Bewilligung der Reha, jedoch vor Erfüllung des Leistungsanspruchs entfallen und an seine Stelle ein Anspruch auf stationäre medizinische Rehabilitation nach § 40 Abs. 2 SGB V gegen die beklagte Krankenkasse getreten sei. Ein Fall des § 103 SGB X läge dagegen nicht vor, weil er den Anspruch des Leistungsträgers, dessen Leistungsverpflichtung nachträglich ent­fallen ist, regele, der Anspruch auf die geleistete Rehabilitation gegen die Klägerin aber hier nicht nachträglich entfallen sei. Zusammenfassend zur Zuständigkeit stellt das BSG (erneut) fest, dass die einmal begründete Außenzuständigkeit nach § 14 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX für eine beantragte Leistung zur Teilhabe jedenfalls bis zur vollständigen Erfüllung der Leistungspflicht andauere.

2. Erstattungsanspruch dem Grunde nach

Das BSG bejahte sodann den Erstattungsanspruch aus § 104 SGB X dem Grunde nach und sah die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm als erfüllt an, weil

a) die betroffenen Leistungsträger vergleichbaren Leistungspflichten, konkret Leistun­gen zur medizinischen Rehabilitation, unterliegen, und zwar unter Berücksichtigung einer zeitlichen Kongruenz und Personenidentität,

b) die Leistung der die Erstattung begehrenden, nach Außen für die Leistungs­erbrin­gung im Rahmen des § 14 SGB IX zuständigen Klägerin rechtmäßig gewesen ist,

c) die Beklagte, von der Erstattung verlangt wird, ihrer Leistungspflicht verspätet, also nicht rechtzeitig, im konkreten Fall sogar überhaupt nicht, nachgekommen ist,

d) die weitere Voraussetzung, wonach der Erstattungspflichtige seine Leistung gegen­über dem Leistungsempfänger nicht bereits in Unkenntnis der Leistung des Erstattungsberechtigten erbracht haben muss, vorliegend mangels Leistungen der Beklagten gegenstandlos ist, und

e) die erstattungsberechtigte Klägerin ihren Anspruch vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 111 SGB X geltend gemacht hat.

3. Umfang des Erstattungsanspruchs 

Der inhaltliche Schwerpunkt der Entscheidung liegt bei der Frage nach dem Umfang des Erstattungsanspruchs der Klägerin, der nach Ansicht des BSG auf den Betrag begrenzt ist, den die Beklagte als vorrangig verpflichteter Leistungsträger selbst hätte aufbringen müssen.

Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich gemäß § 104 Abs. 3 SGB X nach den für den vorrangig verpflichteten Leistungsträger, hier also die beklagte Krankenkasse, geltenden Rechtsvorschriften. Hierzu zählt das BSG die von der Beklagten ab­geschlossene Vergütungsvereinbarung nach § 111 Abs. 5 SGB V mit der Folge, dass der Erstattungsanspruch der Höhe nach auf die von ihr getroffene Preisvereinbarung begrenzt sei. Das BSG leitet dieses Ergebnis aus dem Wortlaut, der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Regelung ab.

V. Würdigung/Kritik

Den zwischen den Parteien weitgehend unstreitigen und sich unmittelbar aus den gesetzlichen Regelungen ergebenden Feststellungen des BSG zu der Zuständigkeit nach § 14 SGB IX und den dem Grunde nach erfüllten tatbestandlichen Voraus­setzungen des Erstattungsanspruchs nach § 104 SGB X ist zuzustimmen. Strittig zwischen den Parteien und rechtsdogmatisch eingehender zu diskutieren sind hingegen die Ausführungen zum Umfang des Erstattungsanspruchs, insbesondere zur Auslegung des entscheidungserheblichen und unbestimmten Begriffs „Rechtsvorschrift“ in § 104 Abs. 3 SGB X.

1. Vergütungsvereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V als „Rechtsvorschrift“?

Zur Begründung seines Ergebnisses beginnt das BSG beim Wortlaut des § 104 Abs. 3 SGB X und stellt fest, dass eine Beschränkung dahingehend, dass „Rechtsvorschriften“ nur solche wären, die das Verhältnis des Trägers zum Leistungsberechtigten und dort Art und Umfang des Leistungsanspruchs gleichsam „im Außenverhältnis“ regelten, sich dieser Vorschrift nicht entnehmen lasse. Richtig an dieser grammatikalischen Inter­pretation ist, dass der Wortlaut der Norm den Begriff „Rechtsvorschriften“ nicht weiter qualifiziert. Die undifferenzierte Verwendung eines Rechtsbegriffs führt dazu, dass die Begründungslast für ein einschränkendes Verständnis der Norm steigt. Dies setzt freilich voraus, dass Vergütungsvereinbarungen (rechts)sprachlich überhaupt als „Rechts­vorschriften“ verstanden werden können.

Eine Legaldefintion des Begriffs „Rechtsvorschrift“ ist weder ersichtlich noch angesichts seiner vielfältigen, kontextabhängigen und rechtsgebietsübergreifenden Verwendung sowohl im Zivilrecht (etwa in § 307 Abs. 3 BGB) als auch im öffentlichen Recht (etwa in § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) zu erwarten. Erwartbar wäre jedoch eine zumindest für den konkreten Rechtstreit maßgebliche Begriffsbestimmung, die vom BSG indes an keiner Stelle vorgenommen wird.

Es spricht viel dafür, dem relativ konturenlosen Teilbegriff „Vorschrift“ keine selbständige Bedeutung zukommen zu lassen und den Teilbegriff „Recht“ im Rahmen einer möglichen Definition zu betonen. Nach diesem Verständnis ist „Rechtsvorschrift“ quasi als Synonym für eine rechtlich verbindliche Regelung oder kurz eine „Rechtsnorm“ zu verstehen. Ungeachtet der philosophischen Kontroversen zum Rechtsbegriff dürfte das Charakteristikum der abstrakt-generellen Verbindlichkeit konsensfähig sein.

Auf einer rein rechtssprachlichen Ebene können „Vereinbarungen“ oder „Verträge“ durchaus als abstrakt-generell verbindliche Regelungen aufgefasst werden, und zwar als „Normenverträge“, deren unmittelbare Rechtswirkungen nicht nur gegenüber den Vertragspartnern, sondern auch gegenüber den von der Regelung (abstrakt-generell) betroffenen Dritten eintreten. Für die rechtssprachliche Qualifikation der Vergütungs­vereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V als Rechtsvorschriften käme es daher entscheidend darauf an, ob sie normative Verbindlichkeit im vorstehenden Sinne entfalten.

Das rechtsdogmatische Problem besteht indes darin, dass das BSG explizit den Vergütungsvereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V die normative Wirkung abspricht und diese nicht als Normenvertrag, sondern als öffentlich-rechtlichen Vertrag qualifiziert. Dem BSG ist an dieser Stelle voll zuzustimmen. Denn anders als etwa die von den Verbänden der Krankenkassen abgeschlossenen und aufgrund ihrer über die Parteien der Vereinbarung hinaus gehenden Wirkungen als Normenvertrag zu qualifizierenden Vereinbarungen, sind an den Vereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V nicht die Verbände, sondern die einzelnen Krankenkassen und Reha-Einrichtungen direkt beteiligt mit der Folge, dass die Wirkung solcher Vereinbarungen sich nicht über diese Parteien hinaus erstrecken kann.

Obgleich das BSG die hier in Rede stehende Vereinbarung (dogmatisch zutreffend) nicht als Normenvertrag qualifiziert, hält es noch auf der Ebene der Wortauslegung an seinem Ergebnis fest und weist zur Begründung darauf hin, dass der Abschluss von Vergütungsvereinbarungen in § 111 Abs. 5 SGB V gesetzlich (und damit unzweifelhaft durch eine „Rechtsvorschrift“) vorgesehen sei. Die Begründung des BSG kann methodologisch nicht überzeugen: Denn es vermengt im Laufe der Prüfung zwei (nicht zwingend deckungsgleiche) Gegenstände: Erstens die auf § 111 Abs. 5 SGB V beruhenden Vereinbarungen und zweitens § 111 Abs. 5 SGB V selbst als gesetzliche Grundlage der Vereinbarungen.

Vor diesem Hintergrund sind die anschließenden Ausführungen in den Entscheidungs­gründen, ob § 111 Abs. 5 SGB V nur die Ermächtigung zum Abschluss einer Vergütungsvereinbarung mit zugelassenen Einrichtungen darstellt (wie von der Klägerin behauptet) oder ob die Norm darüber hinaus auch den verpflichtenden gesetzlichen Auftrag hierzu beinhaltet (wie vom BSG angenommen und eingehend begründet), nicht zielführend. Denn selbst wenn die Rechtsausführungen des BSG – trotz der Bedenken hinsichtlich der zumindest theoretischen Möglichkeit eines vertragslosen Zustandes – zutreffend wären, stünde das nicht ernsthaft anzweifelbare Ergebnis fest, dass § 111 Abs. 5 SGB V als formelles Bundesgesetz eine „Rechtsvorschrift“ im Sinne des § 104 Abs. 3 SGB X sei. Daraus folgt jedoch nicht zwingend oder zumindest nicht ohne weitere Begründung, dass auch die auf § 111 Abs. 5 SGB V beruhenden Vereinbarungen vom Begriff der Rechtsvorschrift erfasst seien.

Mit der vorstehenden Problematik sind auch die Vorinstanzen befasst gewesen. So stellte das SG zunächst zutreffend fest, dass der Begriff „Rechtsvorschrift“ auf formelle Gesetze nicht beschränkt sei. Sodann zitierte es Stimmen aus der Literatur, die – weiter gehend – auch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, Richtlinien mit Außen­wirkung, Satzungsbestimmungen sowie Verwaltungsvereinbarungen von dem Begriff der Vorschriften als umfasst ansehen. Offensichtlich hat aber das SG erkannt, dass der gemeinsame Nenner aller als „Rechtsvorschrift“ bezeichneten Begriffe die normative, über den Urheber oder die unmittelbar Beteiligten hinausgehende Wirkung ist. Nur so ist zu erklären, warum das SG ausdrücklich offenließ, ob Vergütungsvereinbarungen „unmittelbar“ Rechtsvorschriften seien, und seine klageabweisende Entscheidung stattdessen damit begründete, die Begrenzung ergäbe sich „vermittelt“ über § 111 Abs. 5 SGB V aus einer „Rechtsvorschrift im engeren Wortsinn“.

Als Zwischenergebnis lässt sich konstatieren, dass die Zuordnung der Vereinbarungen nach § 111 Abs. 5 SGB V zum Begriff der „Rechtsvorschrift“ im Sinne des § 104 Abs. 3 SGB X wegen der Ausdehnung der Grenzen einer methodologisch vertretbaren Wort­lautauslegung bedenklich erscheint. Gleichwohl ist dem im Wege der systematischen und teleologischen Auslegung gewonnen Ergebnis zuzustimmen. Es wäre indes dogmatisch konsistenter gewesen, die Wortlautgrenzen offen aufzuzeigen, den systematischen und teleologischen Argumenten aber Vorrang einzuräumen und einen etwaigen Widerspruch zwischen den Auslegungsresultaten notfalls über Analogie zu lösen.  

2. Regel-Ausnahme-Verhältnis bei der Bemessung des Erstattungsumfangs

Die vom BSG vorgenommene systematische Auslegung, die an verschiedenen Stellen mit Elementen einer historischen und insbesondere teleologischen Auslegung eng verknüpft wird, zielt darauf, einheitliche Grundsätze für die Anwendung der Erstat­tungsvorschriften abzuleiten. Die Herausforderung hierbei besteht im Umgang mit „Ausnahmen“, die von einem tatsächlich oder vermeintlich einheitlichen Grundsatz abweichen.

Bereits die ergänzenden Ausführungen des LSG unter maßgeblicher Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 22. Mai 1985 (BSGE 58, S. 128) folgen dem Prinzip, dass ein Erstattungsanspruch zum Schutz der Einhaltung der fiskalischen Belastungsverteilung innerhalb des vorgesehenen materiellen Zuständigkeitssystems grundsätzlich nicht in das gesetzlich vorgesehene Finanzierungsverhältnis zwischen den Leistungsträgern eingreifen dürfe, sofern nicht eine gesetzliche Ausnahme vorgesehen sei.

Das BSG sieht ebenfalls in § 102 Abs. 2 SGB X, der den Umfang des dem vorleistenden und damit erstattungsberechtigten Träger zustehenden Erstattungsanspruchs nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften bemisst, eine der besonderen Schutzwürdigkeit der gegen seinen Willen zur Vorleistung verpflichteten Trägers geschuldete Ausnahme von dem sonst verankerten Grundsatz, dass auf die für den erstattungsverpflichteten Träger geltenden Rechtsvorschriften abzustellen sei. Ebenfalls eine „Ausnahme“ sollen nach Ansicht des BSG die Fälle der „aufgedrängten“ Zuständigkeit aufgrund der Weiterleitung des Reha-Antrages im Rahmen des § 14 Abs. 1 SGB IX zugunsten des zweit­angegangenen Trägers darstellen, in denen der zweitangegangene Reha-Träger im Nachhinein vom „eigentlich“ zuständigen Reha-Träger die Aufwendungen nach den für ihn, den zweitangegangenen Reha-Träger, geltenden Rechtsvorschriften erstattet bekommt.

Im konkreten Fall verneint das BSG eine durch Weiterleitung „aufgedrängte“ Zuständig­keit der klagenden Rentenversicherung, weil sie bei Antragstellung zuständig war, ihre Zuständigkeit prüfte und bejahte und auch die beantragte Reha bewilligte. Folgerichtig wird sie auch nicht wie ein vorleistungspflichtiger oder zweitangegangener Träger in der Rechtsfolge privilegiert, sondern erhält als Ausgleich einer ungerechtfertigten Berei­cherung der „eigentlich“ zuständigen Krankenkasse Erstattung nur nach dem in § 104 Abs. 3 SGB X vorgesehenen Umfang, also nach den für die beklagte Krankenkasse geltenden Rechtsvorschriften.

Über das oben aufgezeigte Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach Erstattungsansprüche grundsätzlich nach den Rechtsvorschriften des Erstattungsverpflichteten und nur in den gesetzlich geregelten Ausnahmefällen (Vorleistung oder „aufgedrängte“ Zuständigkeit) nach den Rechtsvorschriften des Erstattungsberechtigten zu bemessen seien, gelangt das BSG zu einem weiteren Grundsatz: Der erstattungspflichtige Leistungsträger soll nicht mehr erstatten müssen, als er nach dem für ihn maßgebenden Recht zu leisten gehabt hätte.

3. Fortbestand der Außenzuständigkeit

Eine Besonderheit des konkreten Falles bestand darin, dass die (geprüfte und bejahte) Zuständigkeit der Klägerin sogar vor Ablauf der Frist von zwei Wochen für die Weiter­leitung des Antrags entfiel. Damit stellte sich die Frage, ob ein erstangegangener Träger, der zunächst zuständig ist und als zuständiger Träger die Leistung bewilligt, aber vor Erfüllung der Leistungspflicht nach der Zuständigkeitsordnung außerhalb von § 14 SGB IX seine Zuständigkeit verliert, im Außenverhältnis zum Leistungsberechtigten im Rahmen des § 14 SGB IX jedenfalls bis zur vollständigen Erfüllung der Leistungspflicht zuständig bleibt.

Gesetzlich ist die vorstehende Konstellation nicht geregelt. Gleichwohl dürfte die Antwort angesichts der mit § 14 SGB IX verfolgten Zielsetzung relativ nahliegend sein. Die Systematik des § 14 SGB IX trägt dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Systems entgegenzuwirken. Jede Änderung der einmal begründeten Außenzuständigkeit beinhaltet das Potenzial solcher Nachteile. Will man den Grundsatz der Leistungsgewährung aus einer Hand nicht leichtfertig gefährden, müssen Zuständigkeitsänderungen im Außenverhältnis stets eine gut begründete und unvermeidbare Ausnahme sein. Unterschiede bei der Wahl der Mechanismen zur Bemessung des Erstattungsumfangs sind per se ungeeignet, die verfahrens- und damit mittelbar die leistungsrechtliche Position der Berechtigten durch einen Zuständigkeits­wechsel zu schwächen. Insofern ist zu begrüßen, wenn das BSG keinen Anlass sieht, den zunächst zuständigen und seine Zuständigkeit bejahenden erstangegangenen Träger hinsichtlich des Umfangs seines Erstattungsanspruchs zu privilegieren, wenn er die Zuständigkeit vor Erfüllung der Leistungspflicht (nach der Zuständigkeitsordnung außerhalb von § 14 SGB IX) verliert.

Für eine weitere, im konkreten Fall aber nicht einschlägige und daher offengelassene Konstellation hält das BSG eine Kostenerstattung nach den Grundsätzen des vorläufig leistenden Trägers für „erwägenswert“. Eine in diesem Sinne „erwägenswerte“ Konstellation läge vor, wenn die Prüfung des erstangegangenen Reha-Trägers innerhalb der Zwei-Wochen-Frist nicht zu einem greifbaren Ergebnis, sondern etwa wegen einer komplizierten Rechtsproblematik zu Unklarheiten über die Zuständigkeit geführt hat und deshalb der angegangene Träger im Interesse der Beschleunigung eine Weitergabe des Reha-Antrags unterlassen hat. Da in einem solchen Fall keine Nachteile des geglie­derten Systems in der konkreten Gestalt eines nachträglichen Zuständigkeitswechsels im Außenverhältnis zu befürchten sind, spricht die besondere Schutzbedürftigkeit des leistenden, erstangegangenen Trägers für eine abweichende Beurteilung, zumal die gewissenhafte Prüfung der eigenen Zuständigkeit sowie die nicht leichtfertige Weiterleitung im Interesse der zügigen Leistungsgewährung honoriert, jedenfalls aber durch Begrenzung des Leistungsumfangs nach § 104 Abs. 3 SGB X nicht sanktioniert werden sollten.

Beitrag von Prof. Dr. Reza F. Shafaei


Stichwörter:

Koordinierung der Rehaleistungen, Koordination zwischen Leistungsträgern, Gegliedertes Sozialleistungssystem


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