20.01.2022 B: Arbeitsrecht Boysen: Beitrag B2-2022

Blinde Schöffinnen und Schöffen in Europa und Deutschland – Rezension des EuGH-Urteils vom 21. Oktober 2021, Az.: C-824/19, ECLI:EU:C:2021:862 – Teil II

Der Autor Uwe Boysen beschäftigt sich in diesem zweiteiligen Beitrag mit den Zugangsmöglichkeiten blinder Menschen zum Schöffenamt oder zum Richterberuf in der Strafgerichtsbarkeit. Im Fokus steht dabei eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, bei der es um die Frage ging, ob es vor dem Hintergrund der EU-Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie (RL 2000/78/EG) gerechtfertigt oder diskriminierend sei, dass einer blinden Schöffin die Teilnahme an Hauptverhandlungen in Strafverfahren versagt wurde, weil sie die dafür erforderlichen beruflichen Anforderungen nicht erfülle.

In Teil II des Beitrags untersucht Boysen die Auswirkungen der Entscheidung auf die deutsche Rechtslage bezüglich der Einbeziehung blinder Richterinnen, Richter sowie Schöffinnen und Schöffen in Strafverfahren. Dazu wirft er einen kritischen Blick auf grundlegende Entscheidungen aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit und des Bundesverfassungsgerichts und prüft anschließend die Übertragbarkeit der EuGH-Entscheidung auf die deutsche Rechtslage.

(Zitiervorschlag: Boysen: Blinde Schöffinnen und Schöffen in Europa und Deutschland – Rezension des EuGH-Urteils vom 21. Oktober 2021, Az.: C-824/19, ECLI:EU:C:2021:862 – Teil II; Beitrag B2-2022 unter www.reha-recht.de; 20.01.2022)


Dieser Beitrag untersucht die Auswirkungen des in Teil I dargestellten Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Auslegung der RL 2000/78/EG auf das deutsche Recht. Dabei ging es um die Frage, ob der Ausschluss einer Schöffin von gerichtlichen Strafverfahren wegen ihrer Erblindung eine Diskriminierung im Sinne der EU-Richtlinie sei oder ob berufliche Anforderungen diesen Ausschluss rechtfertigten. Der EuGH entschied, dass pauschale Ausschlüsse im Sinne der Richtlinie nicht zulässig seien, ohne dass überhaupt nach angemessenen Vorkehrungen zur Abwendung einer Diskriminierung gesucht wurde.

I. Einführung

Ob Menschen, die blind sind, grundsätzlich Richterinnen oder Richter werden können, wird in der Rechtsprechung gelegentlich in Frage gestellt, aber doch überwiegend bejaht. Lediglich für die Vorsitzenden von großen Strafkammern (teilweise wohl auch für beisitzende Richterinnen und Richter im Strafverfahren) hat der BGH das in zwei Entscheidungen aus den 1980er-Jahren verneint und dabei u. a. darauf abgestellt, dass diese Personen keinen Blickkontakt zu den Angeklagten aufnehmen könnten. Dass blinde Richterinnen und Richter bei echten Augenscheinseinnahmen des Gerichts nicht mitwirken können, ist dabei unbestritten. Diese kommen aber nach meiner Erfahrung – ich bin selbst blind und war knapp 30 Jahre in der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig – viel seltener vor, als allgemein angenommen wird.

Zu differenzieren ist im Übrigen zwischen Berufs- und Laienrichtern. Vorab gilt es jedoch, Grundsätze des deutschen Strafprozesses im Zusammenhang mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten blinder Menschen zu erörtern.

II. Die Diskussion

1. Allgemeines

Richterinnen und Richter müssen in der Lage sein, die Vorgänge in der Hauptverhandlung wahrzunehmen. Es stellt sich also die Frage, ob das auch bei blinden Richterinnen und Richtern trotz ihres Handicaps möglich ist. Dreh- und Angelpunkt der strafprozessualen Diskussion ist dabei der „Inbegriff der Hauptverhandlung“ nach § 261 StPO, aus dem das Gericht seine Überzeugungen zu schöpfen hat, sowie die Frage der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.

2. Die Urteile des BGH

Der BGH in Strafsachen hatte sich seit den 1950er-Jahren mehrfach damit zu beschäftigen. Während er anfänglich die Tendenz vertrat, die Teilnahme blinder Richter (damals keine Richterinnen!) an Strafverfahren während der Hauptverhandlung zu ermöglichen,[1] hat er diese Linie später verlassen und die Einsatzmöglichkeiten blinder Richter und Richterinnen in Strafsachen stark eingeschränkt. Die zunächst großzügigere Handhabung wurde letztlich damit begründet, dass auch andere, der Blindheit ähnliche, schwerwiegende Einschränkungen gegeben sein können (etwa Kurzsichtigkeit oder Schwerhörigkeit), die nicht zu einer vorschriftswidrigen Besetzung des Tatgerichts führen.[2]

Diese den Einsatz blinder Richterinnen und Richter im Strafprozess eher befürwortende Auffassung des BGH änderte sich mit zwei Entscheidungen aus den Jahren 1986 und 1987.[3] In der Entscheidung von 1986 wurde die Frage der generellen Zulässigkeit der Teilnahme eines blinden Richters an einer Hauptverhandlung nur in einem obiter dictum (als Nebenaussage zur eigentlichen Entscheidung) erörtert. Dort hatte ein blinder Richter nämlich an einer Augenscheinseinnahme teilgenommen, so dass allgemeine Ausführungen zur ordnungsgemäßen Besetzung des Spruchkörpers auch mit blinden Richtern oder Richterinnen eigentlich hätten unterbleiben können.

1987 hielt der 4. Strafsenat des BGH dann die Teilnahme eines blinden Vorsitzenden an einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung für nicht zulässig und hob das entsprechende Urteil wegen unrichtiger Besetzung des Spruchkörpers[4] auf, wobei er gleichzeitig betonte, dass blinde Richter in anderen Gerichtszweigen sehr wohl eingesetzt werden könnten. Der Behördenleitung macht der BGH es aber zur Aufgabe, blinde Richter nicht als Vorsitzende einer erstinstanzlichen Strafkammer einzusetzen.[5]

3. Kritik der Rechtsprechung

Entscheidend für die Auffassung des BGH ist, wie man den Begriff der Wahrnehmung im Hinblick auf den Inbegriff der Hauptverhandlung nach § 261 Strafprozessordnung (stopp) zu verstehen hat. Der BGH geht hier von einer rein formalen Auffassung aus. Wer, so kann man resümieren, den Sehsinn nicht besitze, der könne einer Hauptverhandlung nur eingeschränkt folgen. Einer Diskussion, ob und ggf. wie Wahrnehmungsdefizite ausgeglichen werden können, entzieht sich der 4. Strafsenat des BGH damit. Sieht man Wahrnehmung dagegen als komplexen Prozess, der vielfältigen Fehlern ausgesetzt ist, die zu ihrer Verzerrung führen können, so ist Blindheit nur ein Faktor unter vielen. Vor allem die Argumentation des BGH, Angeklagte müssten das Gefühl haben, vom erkennenden Richter „verstanden“ zu werden, ist eine ansonsten nirgends anzutreffende Forderung, so berechtigt sie auch grundsätzlich sein mag. Angeklagte haben keinen Anspruch auf einen Richter, der der SPD nahesteht, eine Richterin, die sich für feministische Theorien interessiert, oder Richter, die schnelle Autos fahren. Ebenso wenig kann man ihnen einen Anspruch auf richterliches Personal zugestehen, dass sie „versteht“. Das umso weniger, wenn man bedenkt, wie anfällig Wahrnehmung für Reize aus ganz unterschiedlichen Richtungen ist. Natürlich müssen Richterinnen und Richter immer wieder versuchen, sich solchen Reizen zu entziehen und die mit ihnen möglicherweise verbundenen von der Aussagepsychologie gut dokumentierten Wahrnehmungsver-zerrungen kritisch in Erwägung zu ziehen. Natürlich sind diese Überlegungen nur bedingt auf Wahrnehmungseinschränkungen im Hinblick auf visuelle Eindrücke übertragbar. Gleichwohl stellt die formale Sichtweise der BGH-Entscheidungen aus den 1980er-Jahren eine eindeutige Diskriminierung dar, wird damit letztendlich doch die Kommunikationsfähigkeit blinder Menschen in einem formalisierten Verfahren in Frage gestellt, wenn nicht gar verneint.

Das hat durchaus Konsequenzen für die Karriere blinder Berufsrichterinnen und -richtergehabt. Sie werden praktisch nicht mehr in Strafsachen erster Instanz eingesetzt und sind damit für die Gerichtspräsidien nicht so verwendbar wie ihre sehenden Kolleginnen und Kollegen. Es wäre daher begrüßenswert, wenn der BGH in absehbarer Zeit doch Gelegenheit hätte, die Rechtsprechung des 4. Strafsenats, die im Übrigen – wie gezeigt – von derjenigen des 5. Strafsenats aus den 1950er-Jahren abweicht, ohne dass er den Großen Strafsenat angerufen hätte, zu revidieren. Möglicherweise kann dazu aber auch die besprochene EuGH-Entscheidung beitragen, auch wenn sie sich mit Schöffen, also mit Laienrichtern, befasst.

III. Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die deutsche Praxis des Ausschlusses blinder Schöffinnen und Schöffen

1. Allgemeines zu Schöffen

Das Schöffenamt in Deutschland ist nach § 31 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ein Ehrenamt. § 33 GVG enthält Gründe, aus denen jemand nicht als Schöffe berufen werden soll. Nach § 33 Nr. 4 GVG sind das Personen, die aus gesundheitlichen Gründen für das Amt nicht geeignet sind (frühere Formulierung: „wegen körperlicher Gebrechen“). Nach § 52 Abs. 1 Satz 1 GVG Nr. 2 ist ein Schöffe von der Schöffenliste zu streichen, wenn Umstände eintreten oder bekannt werden, bei deren Vorhandensein eine Berufung zum Schöffenamt nicht erfolgen soll, also § 33 GVG und damit auch dessen Nr. 4 einschlägig ist. Eine Entscheidung hierüber trifft nach § 52 Abs. 3 Satz 2 GVG der zuständige Amtsrichter bzw. gem. § 77 Abs. 3 Satz 3 HS. 2 GVG die zuständige Strafkammer nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und des betroffenen Schöffen. Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 52 Abs. 4 GVG).

Entsprechend sind verschiedene Schöffinnen und Schöffen in der Vergangenheit wegen ihrer Blindheit von den Schöffenlisten gestrichen worden. Da es, wie ausgeführt, hiergegen kein ordentliches Rechtsmittel gibt, blieb nur eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG), die auch in einem Fall erhoben wurde, aber keinen Erfolg hatte.[6]

2. Die Entscheidung des BVerfG und seine Argumentation

Die Kammer schließt sich den Argumenten des Landgerichts an, das den Beschwerdeführer von der Schöffenliste gestrichen hatte. Dieses hatte sich auf die bereits erwähnte Entscheidung BGHSt 35, 164 bezogen. Das sei, so das BVerfG, kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Fehlten einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liege in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot.[7] Ob die Annahme des LG, Sehfähigkeit sei wegen des in der StPO geltenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die Ausübung des Schöffenamts in einer Strafkammer unverzichtbar, aus rechtsstaatlichen Gründen geboten sei, bedürfe im vorliegenden Fall keiner Klärung. Gemeint ist damit wohl, dass diese Annahme jedenfalls einfachrechtlich vertretbar sei, also keinen Verfassungsverstoß darstelle.

Zum Zeitpunkt dieser Entscheidung war die UN-BRK in Deutschland noch nicht in Kraft, so dass sich das BVerfG nur mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auseinandersetzen musste. Auffällig ist, dass die kritischen Anmerkungen von Schulze[8] im Beschluss ebenso wenig erwähnt werden wie die Rspr des 5. Strafsenats des BGH aus den 1950er-Jahren.

IV. Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die deutsche Rechtslage

Fraglich ist, ob und ggf. inwieweit sich das Urteil des EuGH auf die Rechtslage in Deutschland übertragen lässt. Soweit der EuGH sich auf die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG bezieht, begegnet das gewissen Bedenken. Der EuGH geht für den bulgarischen Fall schlicht davon aus, dass die Tätigkeit als Schöffin unter diese Richtlinie fällt, die Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf verbietet. Wie oben festgestellt, handelt es sich beim Amt des Schöffen oder der Schöffin aber jedenfalls in Deutschland um ein Ehrenamt, so dass eine direkte Anwendung der Richtlinie immerhin zweifelhaft sein kann. Der EuGH verknüpft seine Argumentation aber auch mit der EU-Grundrechtecharta (dort Art. 20 und 26) sowie mit Art. 5 der UN-BRK, die beide in Deutschland gelten. Das legt es nahe, die dort für das Vorliegen einer Diskriminierung aufgestellten Grundsätze auch auf die Tätigkeit als Schöffen zu übertragen. Das betrifft insbesondere die vom EuGH hervorgehobene Argumentation zur Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung einer Diskriminierung zu schaffen, wie sie sich aus Art. 5 Abs. 3 UN-BRK ergibt (in seinem Anwendungsbereich auch § 7 Abs. 2 BGG). Folgt man hier der Argumentation des EuGH, so stellt ein pauschaler Ausschluss vom Schöffenamt ohne Rücksicht auf den konkreten Einzelfall eine unzulässige Diskriminierung dar, mit der Folge, dass die generelle Streichung von der Schöffenliste nicht zu rechtfertigen ist. Damit ist nach der hier vertretenen Auffassung auch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gegeben, bei dessen Auslegung UN-BRK und Grundrechtecharta heranzuziehen sind.[9]

V. Fazit

Blinde und sehbehinderte Menschen sollten aus den vorgenannten Gründen ermutigt werden, sich erneut um eine Wahl als Schöffe oder Schöffin zu bemühen, um bei einer Streichung von der Schöffenliste dann eine neuerliche Entscheidung des BVerfG herbeizuführen. Selbstvertretungsorganisationen sollten ein solches Vorgehen unterstützen, auch um blinde Berufsrichterinnen und -richter gegen einengende Interpretationen ihrer Verwendbarkeit zu schützen.

Beitrag von Uwe Boysen, VRLG Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler

Fußnoten

[1] siehe nur BGHSt 4, 191 ff.; 5, 354 ff.

[2] a. A. schon damals z. B. Wimmer, JZ 1953, 671 ff., der auch darauf abstellt, dass zwischen einem blinden Richter und einem Angeklagten kein Vertrauensverhältnis entstehen könne, da man mit blinden Personen ganz allgemein nicht „vertraut“ sei, a. a. O., 672; auch Eb. Schmidt, JZ 1970, 637 ff.

[3] BGHSt 34, 236 ff. und 35, 164 ff.

[4] vgl. § 338 Nr. 1 StPO.

[5] zustimmend zu dieser Rspr etwa Fezer, NStZ 1987, 335 und 1988, 375; kritisch Schulze, MDR 1988, 736 und 1995, 670 mit Hinweisen dazu, wie ein blinder Richter seine Behinderung – teilweise – kompensieren kann; ausführlich zum Ganzen Jens Uwe Voigt, Der blinde Richter in der strafprozessualen Hauptverhandlung, Nomos, 2013, Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 2012.

[6] BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 10.03.2004 - 2 BvR 577/01 = NJW 2004, 2150; Besprechung in der Rechtsprechungsübersicht in JuS 2004, 818.

[7] BVerfG, NJW 2004, 2050, 2051.

[8] MDR 1988, 736 und 1995, 670.

[9] siehe dazu auch: Nachtschatt: Wirkung der Behindertenrechtskonvention auf das deutsche Strafprozessrecht – Anmerkung zu den Fällen Gemma Beasley vs. Australia und Michael Lockrey vs. Australia vom 1. April 2016 über zwei ähnlich gelagerte Individualbeschwerden durch den Ausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Beitrag D7-2017 unter www.reha-recht.de; 21.02.2017.


Stichwörter:

Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Angemessene Vorkehrungen, Diskriminierungsverbot, Diskriminierung, Europäischer Gerichtshof (EuGH), Blindheit, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)


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