21.08.2025 B: Arbeitsrecht Kohte: Beitrag B2-2025

Die Pflicht des Arbeitgebers zur Rücksichtnahme auf Beschäftigte mit Behinderungen – Anmerkung zu Urteil des LAG Hamburg vom 21.02.2024 – 7 Sa 53/23

Das Landesarbeitsgericht betont die weitreichende Bedeutung von § 106 S. 3 Gewerbeordnung, wonach Arbeitgeber bei Ausübung des Direktionsrechts verpflichtet sind, auch auf nicht schwerbehinderte Beschäftigte Rücksicht zu nehmen – ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 genüge. Der Autor kritisiert hier, dass in der Praxis oft fälschlich allein auf den Begriff der Schwerbehinderung abgestellt werde, obwohl bereits geringere Beeinträchtigungen arbeitsrechtliche Schutzpflichten auslösten. Der Autor verweist auf Defizite im Arbeitsschutz sowie auf die Rolle von SBV und Betriebsrat, die durch Mitbestimmung, Inklusionsvereinbarungen und präventive Maßnahmen die Interessen vulnerabler Beschäftigter wirksam vertreten könnten. Er mahnt zudem ein stärkeres Bewusstsein für die unionsrechtlichen Vorgaben zum Diskriminierungsschutz an.

(Zitiervorschlag: Kohte: Die Pflicht des Arbeitgebers zur Rücksichtnahme auf Beschäftigte mit Behinderungen – Anmerkung zu Urteil des LAG Hamburg vom 21.02.2024 – 7 Sa 53/23; Beitrag B2-2025 unter www.reha-recht.de; 25.08.2025)

I. Thesen des Autors

  1. Bei der Ausübung seines Direktionsrechts hat der Arbeitgeber nach § 106 S. 3 Gewerbeordnung (GewO) „auch auf die Behinderungen eines Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen“. Diese Pflicht zur Rücksichtnahme greift bereits bei einer „einfachen Behinderung“ (im konkreten Fall GdB 20) ein und setzt keine Schwerbehinderung voraus, gilt aber natürlich erst recht bei Weisungen gegenüber schwerbehinderten Beschäftigten.
     
  2. Versetzungen betreffen nicht nur Ort und Art der Beschäftigung, sondern auch die Arbeitszeit. Gerade die Versetzung in Wechselschicht bzw. Nachtschicht kann zu Gesundheitsgefährdungen führen. Daher ist in bestimmten Fällen eine gesundheitliche Vorsorgeuntersuchung nach § 6 Abs. 3 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) anzubieten; Versetzungen können bei vulnerablen Beschäftigten mit den Pflichten des Arbeitgebers nach § 4 Nr. 6 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) kollidieren, so dass für ältere und behinderte Beschäftigte auch aus diesem Grund eine spezielle Pflicht zur Rücksichtnahme besteht.
     
  3. Betriebs- und Personalräte können zur Effektivierung dieser Pflicht ihre Mitbestimmungsrechte (z. B. nach §§ 87, 99 BetrVG) einsetzen; die Schwerbehindertenvertretung (SBV), die an deren Sitzungen teilnimmt, kann entsprechende Vorschläge und Anträge in diese Sitzungen einbringen.
     
  4. Beschäftigte mit einem GdB 20 können nach § 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX von der SBV beraten werden, so dass die SBV deren konkrete Situation kennt und in die Arbeit der Interessenvertretung einbringen kann. Dies kann durch eine Inklusionsvereinbarung gestärkt werden.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

In dem Verfahren war über die Versetzung einer 53-jährigen Laborantin zu entscheiden, die von der Tagschicht in eine kontinuierliche Wechselschicht in ein anderes Labor im Betrieb versetzt worden war. Die Laborantin hatte sich auf ihren GdB 20 und gesundheitliche Probleme berufen, die durch die Schichtarbeit verstärkt würden. Das Landesarbeitsgericht qualifizierte die Versetzung als unwirksam, weil der Arbeitgeber § 106 S. 3 GewO nicht beachtet hatte, denn danach hat er auf die Behinderung von Beschäftigten Rücksicht zu nehmen. Die betroffene Beschäftigte kann daher verlangen, dass sie an ihrem bisherigen Arbeitsplatz mit der bisherigen Arbeitszeit beschäftigt wird.

III. Der Sachverhalt

In einem Chemiebetrieb wurde eine 53 Jahre alte Angestellte seit 1991 in Tagschicht als Chemielaborantin beschäftigt, zuletzt in der Abteilung Rohstoff/Betriebslabor. Sie hat einen Grad der Behinderung von 20, der auf einen beidseitigen Kniegelenkverschleiß zurückzuführen ist. Im April 2022 teilte die Arbeitgeberin der Angestellten mit, dass sie kurzfristig ab dem 1. Mai 2022 in vollkontinuierlicher Schicht im Feststofflabor beschäftigt werde. Diese vollkontinuierliche Schicht wird in folgender Weise organisiert: im Monat durchschnittlich fünf bis sechs Nachtdienste, aufgeteilt werden die Schichten in der Regel in zwei Tage Frühschicht, zwei Tage Spätschicht, zwei Tage Nachtschicht, und danach vier Tage Pause. Die Angestellte war mit der kurzfristigen Versetzung in die Wechselschicht nicht einverstanden, kam der Anordnung aber unter Vorbehalt nach.

Am Arbeitsgericht in Hamburg erhob sie eine Klage, dass die Versetzung unwirksam sei. Sie berief sich zunächst auf ihre mehr als dreißigjährige Beschäftigung in Tagschicht, so dass nur eine Änderungskündigung mit den entsprechenden Kündigungsfristen möglich sei. Weiter berief sie sich auf ihre gesundheitliche Situation. Sowohl ihre Hausärzte als auch eine betriebsärztliche Untersuchung hätten jeweils gesundheitliche Bedenken gegen die Versetzung in die Schichtarbeit genannt. Das Arbeitsgericht sah die Versetzung in die Nachtschicht als unwirksam an, akzeptierte aber die Versetzung in Wechselschicht.

Die Klägerin legte Berufung am Landesarbeitsgericht ein und berief sich darauf, dass eine solche Versetzung nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG nicht durchgeführt werden dürfe, sie sei daher vollständig unwirksam.

IV. Die Entscheidung

Das Landesarbeitsgericht Hamburg folgte dieser Rechtsauffassung, die der neueren Rechtsprechung des BAG entspricht. Eine Versetzung müsse nach § 106 GewO billigem Ermessen entsprechen, dies sei hier nicht der Fall, sodass die Versetzung insgesamt unwirksam sei. Bei der Ermessenskontrolle berief sich das Landesarbeitsgericht auf § 106 S. 3 GewO, danach sind Arbeitgeber verpflichtet, auf die Behinderung von Beschäftigten Rücksicht zu nehmen. Eine solche Rücksichtnahme sei bei einer solchen Versetzung, die auf gravierende ärztliche Bedenken gestoßen sei, nicht beachtet worden. Die Klägerin hatte geltend gemacht, dass ihr Einsatz in der vollkontinuierlichen Wechselschicht zu Schlafstörungen führten, die eine starke Verschlechterung der Arthrose bewirken würden und weitere gesundheitliche und psychische Probleme nach sich zögen. Das hatte die Arbeitgeberin nicht beachtet; sie hatte aber die Beweislast dafür, dass die Versetzung keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Folge habe. Dass der Arbeitgeberin der GdB 20 nicht bekannt war, war hier ohne Bedeutung, weil die Kategorie „billiges Ermessen“ eine objektive Kategorie ist. Daher gab das Gericht der Berufung der Laborantin statt.

V. Würdigung/Kritik

Versetzungen von der Tagschicht in eine Wechselschicht können Menschen mit Behinderungen in spezifischer Weise beeinträchtigen. So hat z. B. das LAG Düsseldorf ein Krankenhaus verurteilt, eine schwerbehinderte Angestellte ausschließlich in Tagschicht zu beschäftigen, da der Wechsel der Arbeitszeit mit der depressiven Erkrankung nicht vereinbar sei und mit zusätzlichen Schlafstörungen zu rechnen sei.[1] Solche Probleme können auch auftreten, wenn die Beschäftigte behindert, aber nicht schwerbehindert ist.

Das Urteil des LAG Hamburg zeigt die große praktische Bedeutung von § 106 S. 3 GewO, nämlich der Pflicht der Rücksichtnahme auf die Situation behinderter Beschäftigter. Das Gericht hatte ausdrücklich hervorgehoben, dass in § 106 GewO nicht der Rechtsbegriff der Schwerbehinderung, sondern der davon abweichende Begriff der Behinderung verwandt werde. Dies entspricht dem Begriff der Behinderung in § 2 Abs. 1 SGB IX; insoweit reicht auch ein GdB von 20 aus. Auch die Kommentarliteratur zu § 106 GewO bestätigt diese Unterscheidung von Behinderung und Schwerbehinderung.[2] Gerade bei einer Zuweisung neuer Tätigkeiten nach längerer Arbeitsunfähigkeit oder einem Arbeitsunfall muss auf die – möglicherweise nur zeitlich beschränkte - Behinderung eines Beschäftigten Rücksicht genommen werden.[3] In vergleichbarer Weise hatte das LAG Berlin ein Krankenhaus verpflichtet, eine Krankenschwester, die wegen ihrer Medikation nicht mehr in der Nachtschicht arbeiten konnte, nach § 106 S. 3 GewO in die Tagschicht zu versetzen.[4]

Dies wird auch in der betrieblichen Praxis oft verkannt. Der deutlich engere Begriff der Schwerbehinderung ist in Deutschland traditionell verankert, aber im internationalen Recht (UN-Behindertenrechtskonvention) und im Unionsrecht (RL 2000/78/EG) wird der weitere Begriff der Behinderung verwandt, so dass bereits die Benachteiligung behinderter Beschäftigter als Diskriminierung zu bewerten ist.[5] Dies gilt vor allem dann, wenn angemessene Vorkehrungen nach Art. 5 der RL 2000/78/EG nicht getroffen werden.[6]

Wenig beachtet wird zudem, dass im neueren Rehabilitationsrecht Leistungen in der Regel nicht nur schwerbehinderten Beschäftigte, sondern allen Beschäftigten zustehen. Das gilt z. B. für die Leistungen der beruflichen Rehabilitation nach § 49 SGB IX,[7] aber auch für die Unterstützung von Arbeitgebern bei der behinderungsgerechten Arbeitsausstattung nach § 46 SGB III. Eine bisher kaum genutzte Maßnahme betrifft die Unterstützung behinderter Jugendlicher nach § 151 Abs. 4 SGB IX.[8]

Der Sachverhalt des LAG Hamburg zeigt weitere Defizite im betrieblichen Arbeitsschutz: Vor der Übertragung von Arbeiten in der Nachtschicht muss den Beschäftigten nach § 6 Abs. 3 ArbZG eine Gesundheitsuntersuchung angeboten werden, so dass hier die betriebsärztliche Untersuchung schon frühzeitig erforderlich war. Das war nicht beachtet worden, was bereits das Arbeitsgericht gerügt hatte. Dieses rechtzeitige Angebot ergibt sich aus dem Unionsrecht, hier hatte vor kurzem der EuGH verlangt, dass den Beschäftigten bei Defiziten effektiver Rechtsschutz zur Verfügung gestellt wird.[9] Ein weiterer Aspekt des Falls betrifft das Arbeitsschutzrecht: Nach § 4 Nr. 6 ArbSchG muss auf den Gesundheitsschutz vulnerabler Beschäftigter in besonderer Weise Rücksicht genommen werden. Dies war hier aus zwei Gründen erforderlich: Vulnerabel können Beschäftigte nicht nur wegen der Behinderung, sondern auch wegen ihres Alters sein.[10]

Für die Interessenvertretung bieten sich hier mehrere Ansatzpunkte an. Die SBV ist nur auf den ersten Blick „nicht zuständig“, weil die Angestellte mit dem GdB 20 nicht schwerbehindert ist. Nach § 178 Abs. 1 S. 3 SGB IX kann die Angestellte in die Sprechstunde der SBV kommen und sich über die Chancen eines Verschlimmerungsantrags beraten lassen. Die Vertrauensperson nimmt nach § 178 IV SGB IX in der Regel an jeder Sitzung des Betriebs- oder Personalrats teil: Hier bestand die Möglichkeit, nach § 99 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) der Versetzung zu widersprechen, weil der Laborantin die gesetzlich verlangte Untersuchung vor der Versetzung nicht angeboten worden war. Die Bedingungen von Schichtarbeit unterliegen nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats, der auf diese Weise auch darauf hinwirken kann, dass vulnerable Beschäftigte nach § 4 Nr. 6 ArbSchG von der kontinuierlichen Schicht ausgenommen werden;[11] in einigen Betrieben gibt es daher Betriebsvereinbarungen (teilweise auch Tarifverträge), die diese Beschäftigten z. B. bei ärztlichem Attest oder ab dem 50. Lebensjahr von Nacht- oder Schichtarbeit ausnehmen. Auf solche Initiativen kann daher auch die SBV hinwirken; gerade, weil sie gesundheitliche und soziale Probleme bei Schwerbehinderung kennt, kann sie im Betriebs- oder Personalrat auch auf geeignete Lösungen für „behinderte Beschäftigte“ hinwirken.

Beitrag von Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Zentrum für Sozialforschung Halle

Fußnoten

[1] LAG Düsseldorf v. 17.06.2021 – 5 Sa 586/20.

[2] ErfK/Preis, 25. Aufl. 2025, § 106 GewO Rn. 34; Faber/Rabe-Rosendahl in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 5. Aufl. 2023, § 164 Rn. 116.

[3] So z. B. LAG Hamm v. 01.06.2007 – 10 Sa 249/07, juris Rn. 85.

[4] LAG Berlin v. 30.05.2013 – 5 Sa 78/13, juris Rn. 52, bestätigt durch BAG v. 09.04.2014 – 10 AZR 637/13, NZA 2014, 719.

[5] Beyer/Wocken, DB 2013, S. 2270, Faber/Rabe-Rosendahl in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol SGB IX, 5. Aufl. 2023, § 164 Rn. 108 ff; zuletzt Kohte, AuR 2025, S. 56, 57.

[6] Dazu Rabe-Rosendahl, Zur Kündigung bei Nichterreichen einer Mindesthörschwelle – die Rolle angemessener Vorkehrungen bei der Prüfung der Eignung und der Erfüllung von Tätigkeitsanforderungen – Anmerkung zu EuGH v. 15.07.2021 – C-795/19 (Tartu Vangla); Beitrag B3-2022 unter www.reha-recht.de; 01.03.2022.

[7] Aktuell zum Job-Coaching: Busch, RPR 2/2025, S. 42,43.

[8] Weber in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB IX, 5. Aufl. 2023, § 151 Rn. 21.

[9] EuGH v. 20.06.2024, C-367/23, juris, dazu Kohte, JurisPR-ArbR 40/2024 Anm. 1.

[10] Kollmer/Klindt/Schucht//Kohte, ArbSchG, 4. Aufl. 2021, § 4 Rn. 36 ff.

[11] Kohte, JurisPR-ArbR 16/2025 Anm. 3.


Stichwörter:

Behindertengerechte Beschäftigung, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Gesundheit, Gesundheitsgerechte Arbeitsgestaltung, Arbeitsmedizinische Vorsorge, Arbeitgeberverantwortung, Schwerbehindertenvertretung (SBV), Diskriminierung, Arbeitszeit, Mitbestimmung, Betriebsrat


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