01.03.2022 B: Arbeitsrecht Rabe-Rosendahl: Beitrag B3-2022

Zur Kündigung bei Nichterreichen einer Mindesthörschwelle – die Rolle angemessener Vorkehrungen bei der Prüfung der Eignung und der Erfüllung von Tätigkeitsanforderungen – Anmerkung zu EuGH v. 15.07.2021 – C-795/19 (Tartu Vangla)

Die Autorin setzt sich im Beitrag mit einer Entscheidung des EuGH zur Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG auseinander. Der Gerichtshof hatte in einem estnischen Vorlageverfahren zu entscheiden, ob eine nationale Regelung, die eine Weiterbeschäftigung bei Nichterreichen einer Mindesthörschwelle verbietet und eine Prüfung, ob mit angemessenen Vorkehrungen die Aufgabenerfüllung (noch) möglich wäre, nicht gestattet, gegen Art. 2 Abs. 2 lit. a, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG verstößt. Die Autorin diskutiert die Entscheidung auch mit Blick auf das deutsche Recht und untersucht das Zusammenspiel der Arbeitgeberpflicht, angemessene Vorkehrungen für behinderte Beschäftigte vorzunehmen, und der Möglichkeit der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Fall wesentlicher und entscheidender beruflicher Anforderungen (§ 8 Abs. 1 AGG).

(Zitiervorschlag: Rabe-Rosendahl: Zur Kündigung bei Nichterreichen einer Mindesthörschwelle – die Rolle angemessener Vorkehrungen bei der Prüfung der Eignung und der Erfüllung von Tätigkeitsanforderungen – Anmerkung zu EuGH v. 15.07.2021 – C-795/19 (Tartu Vangla); Beitrag B3-2022 unter www.reha-recht.de; 01.03.2022)

I. Thesen der Autorin

  1. Ein Ausschluss behinderter Menschen auch von Aufgabenbereichen mit spezifi­schen Anforderungen ist nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich.
  2. Bei der Prüfung der Eignung bzw. der Erfüllung des Anforderungsprofils müssen stets angemessene Vorkehrungen, die Arbeitgeber gegenüber behinderten Beschäftigten vornehmen müssen, „mitgedacht“ werden.
  3. Anforderungen in Einstellungs- und Auswahlrichtlinien, die physische Anforde­rungen „absolut“ setzen, z. B. Mindesthörschwellen, sind unwirksam. Betriebs- und Personalräte können solche Schwellen bereits im Mitbestimmungsverfahren zu Fall bringen.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Nationale Regelungen, die eine Weiterbeschäftigung verbieten, wenn eine Mindest­hörschwelle nicht erreicht wird und eine Prüfung, ob mit angemessenen Vorkehrungen die Aufgabenerfüllung (noch) möglich wäre, nicht gestatten, verstoßen gegen Art. 2 Abs. 2 lit. a, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG.

III. Der Sachverhalt

Der Kläger im estnischen Ausgangsverfahren arbeitete seit 2002 als Aufseher in einer Justizvollzugsanstalt in Tartu (Estland). Seit 2008 gehörte zu seinen Aufgaben u. a. die Überwachung von mittels eines Kontrollsystems elektronisch überwachten Personen sowie die Übermittlung von Informationen über diese Personen, die Überwachung der Kontroll- und Signaleinrichtungen, das Reagieren auf Störungen und die Übermittlung von Informationen insbesondere im Fall eines Alarms sowie die Feststellung von Ver-stößen gegen die Anstaltsordnung. In einem Gesundheitszeugnis wurde dem Kläger ein vermindertes Hörvermögen auf dem rechten Ohr attestiert, welches bereits seit seiner Kindheit vorlag. Mit dieser Einschränkung war er ohne Beanstandung seit 2008 als Auf-seher in der Überwachungsabteilung tätig. Im Juni 2017 wurde er entlassen, da er nach den einschlägigen Bestimmungen des estnischen Rechts mit seinem Hörvermögen die festgelegten Mindesthörschwellen zur Beschäftigung im Justizvollzug nicht erfüllte.

Die Verordnung Nr. 12 der Republik Estland bezüglich der Anforderungen an die Gesund­heit der Strafvollzugsbeamten regelt u. a. Mindesthörschwellen für Beamtinnen und Beamte. Gemäß dieser Verordnung stellt eine Minderung des Hörvermögens unter­halb dieser Schwellenwerte einen absoluten medizinischen Hinderungsgrund für die Aus­übung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamtin bzw. beamte dar. Kompensierende Hilfs­mittel durften für die Beurteilung der Anforderungserfüllung an das Hörvermögen dabei nicht verwendet wer-den.

Der Kläger im Ausgangsverfahren erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht auf Fest­stellung der Rechtswidrigkeit der Entlassung und wegen Diskriminierung. Nachdem er in der ersten Instanz unterlag, war die Berufung erfolgreich. Das Berufungsgericht stellte die Rechtwidrigkeit der Entlassung fest und verurteilte die Strafvollzugsanstalt Tartu zur Zahlung einer Entschädigung. Zudem leitete das Berufungsgericht ein Verfahren vor dem estnischen Staatsgerichtshof ein, um die Verordnung auf ihre Verfassungsmäßig­keit prüfen zu lassen. Der Staatsgerichtshof hatte zudem Zweifel an der Verein­barkeit der Verordnung Nr. 12 mit dem Unionsrecht (Richtlinie 2000/78/EG) und legte daher dem Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV die folgende Frage vor:

„Ist Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein verminder­tes Hörvermögen, das unterhalb der vorgeschriebenen Norm liegt, einen absoluten Hinderungsgrund für die Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter darstellt, und die Verwen­dung von korrigierenden Hilfsmitteln zur Beurteilung der Erfüllung der Anforderungen an das Hörvermögen nicht gestatten?“

IV. Die Entscheidung

Zunächst stellt der EuGH fest, dass in diesem Verfahren die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG[1] (RRL) Anwendung findet, denn die estnische Verordnung Nr. 12 betrifft die Einstellungs- und Entlassungsbedingungen von Strafvollzugsbeamtinnen und -beamten. Diese gehören zum Kreis der Beschäftigten, die von der Richtlinie erfasst werden. Dies entspricht auch dem deutschen Recht – §§ 6, 24 AGG.

Im Anschluss prüft der EuGH, ob durch die estnische Verordnung eine unmittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung vorliegt. Gemäß Art. 2 RRL liegt eine verbotene unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen einer Behinderung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Im vorliegenden Fall können nach besagter Verordnung, Personen mit vermindertem Hörvermögen unter den vorgeschrie­benen Mindesthörschwellen nicht als Strafvollzugsbeamte eingestellt werden oder weiter beschäftigt werden. Damit erfahren sie in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als andere Personen – nämlich andere als Strafvollzugs­beamte beschäftigte Personen, deren Hörvermögen diese Vorschriften erfüllt – erfahren, erfahren haben oder erfahren würden. Somit liege eine unmittelbare Benachteiligung wegen einer Behinderung vor, denn eine Verminderung des Hörvermögens ist eine Behinderung. Der Begriff der Behinderung erfasst eine körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung, die Menschen in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft hindern kann (vgl. für das deutsche Recht: § 2 SGB IX).

Nach Art. 4 Abs. 1 RRL stellt eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einer Behinderung steht, keine Diskriminierung dar, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anfor­derung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt, gerechtfertigt sein könnte.

Bereits in seiner früheren Rechtsprechung[2] hatte der Gerichtshof entschieden, dass das Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten als eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ i. S. d. Richtlinie in Bezug auf die Ausübung bestimmter Berufe wie Polizeibeamtin bzw. Polizeibeamter angesehen werden könne. Der EuGH weist an dieser Stelle erneut auf die enge Auslegung dieser Rechtfertigungs­möglichkeit hin[3] und sieht im Bemühen des estnischen Verordnungsgebers, die Einsatz­bereitschaft und das ordnungsgemäße Funktionieren der Haftanstalten zu gewähr­leisten, einen rechtmäßigen Zweck für die Ungleichbehandlung. Wegen der Art der Aufgaben im Strafvollzug und der Bedingungen ihrer Ausübung könne die estnische Regelung einer Mindesthörschwelle für das Hörvermögen eine wesentliche und ent­scheidende berufliche Anforderung sein. Jedoch müsse die estnische Regelung im Hinblick auf die Verwirklichung ihres Ziels, dieses auch in kohärenter und systematischer Weise erreichen. Diese Anforderung sieht der EuGH vorliegend aus zwei Gründen nicht gegeben:

1. Keine Kohärenz mit Regelungen zu anderen Sinnesfähigkeiten

Bei der Messung des Hörvermögens haben Strafvollzugsbeamte nicht die Möglichkeit, eine Hörhilfe zu verwenden während bei der Messung der Sehfähigkeit dagegen das Tragen einer Sehhilfe wie Kontaktlinsen oder Brillen möglich ist. Zudem differenziere die estnische Regelung nicht zwischen den Tätigkeiten im Strafvollzug, d. h. die Mindest­hörschwellen gelten für alle, unabhängig von der Einrichtung oder der konkreten Einsatz­stelle.

2. Keine Möglichkeit der Prüfung angemessener Vorkehrungen – fehlende Erfor­derlichkeit

Die Verordnung erlaube auch keine individuelle Beurteilung der Fähigkeiten, die wesent­lichen Aufgaben des Berufes trotz Hörschwäche zu erfüllen. Insbesondere, da auch im Fall des Klägers nicht alle Tätigkeiten Kontakt mit Gefangenen beinhalten und eine Hörhilfe z. B. miniaturisiert im Ohr oder unter einem Helm getragen werden könne. Der Arbeitgeber sei nach Art. 5 RRL jedoch verpflichtet, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um behinderten Menschen den Zugang zu Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes und den beruflichen Aufstieg zu ermög­lichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (angemessene Vorkehrungen). Die Verordnung Nr. 12 lasse jedoch, so der EuGH, dem Arbeitgeber gar nicht die Möglichkeit, vor einer Entlassung zu überprüfen, ob geeignete Maßnahmen i. S. d. Art. 5 RRL wie die Verwendung eines Hörgeräts oder z. B. die Befreiung von den Aufgaben, die eine bestimmte Mindesthörschwelle erfordern, in Betracht kämen. Der Gerichtshof hat Zweifel, ob das estnische Recht mit dieser Regelung nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung der mit dieser Verordnung verfolgten Ziele erforderlich sei. Dies zu überprüfen sei jedoch Sache des vorlegenden estnischen Gerichts.

Die fehlende Kohärenz sowie die nicht zweifelsfrei vorliegende Erforderlichkeit der Regelung stünden einer Verhältnismäßigkeit der estnischen Ausnahmeregelung somit entgegen. Die estnische Verordnung verstoße daher gegen die Richtlinie 2000/78/EG.

V. Würdigung/Kritik

Dieses begrüßenswerte Urteil des EuGH zeigt deutlich, dass auf der Behinderung beru-hende, d. h. unmittelbare, Benachteiligungen nur selten zu rechtfertigen sind. Das Urteil soll daher zum Anlass genommen werden, die für die Dimension Behinderung einzig mögliche Ausnahme, die wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderungen, noch einmal im Zusammenspiel mit der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen nach Art. 5 RRL genauer zu betrachten. Der EuGH hatte sich im estnischen Fall mit einer gesetzlichen Regelung auseinandergesetzt und diese an der Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. 4 RRL gemessen (1.). Die in der Praxis häufig anzutreffende Konstellation be-trifft dagegen keine gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich der Anforderungen, sondern vom Arbeitgeber entworfene Anforderungen. Hier unterscheidet sich die Prüfungsreihenfolge des Art. 4 RRL (im deutschen Recht: § 8 Abs. 1 AGG) im Zusammenspiel mit der Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen und soll daher nach einer kurzen Einführung zu den angemessenen Vorkehrungen in diesem Zusammenhang (2.) noch einmal gesondert dargestellt werden (3.).

1. Hohe Anforderungen an die Rechtfertigung nach Art. 4 RRL bei gesetzlichen Regelungen

Diese beruflichen Anforderungen können sich, wie im estnischen Fall, insbesondere für sicherheitsrelevante Berufe bereits aus einer gesetzlichen Regelung ergeben. Der EuGH unterstreicht aber auch hier die eng auszulegende Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. 4 RRL und verlangt Kohärenz und Systematik bei derartigen gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Erreichung des rechtmäßigen Ziels.[4] Diese fehlten in der estnischen Verordnung, denn die Regelung enthielt eine absolute Schwelle für die Hör­fähigkeit für alle Tätigkeitsfelder einer Justizvollzugsanstalt. Zudem gab es nicht, wie bei eingeschränkter Sehfähigkeit, die Möglichkeit, mit Hilfe eines kompensierenden Hilfs­mittels (z. B. Hörgerät) die vorhandene Hörschwäche auszugleichen. Da beispielsweise in einer körperlichen Konfrontationssituation ebenso denkbar ist, dass die Sehhilfe vom Kopf fällt oder gerissen wird, wie dies für Hörgeräte (die zudem unter einem Helm getra­gen werden könnten) ist, hat der Gerichtshof hier zurecht fehlende Stringenz angemahnt.

Die estnische Regierung hatte sich für den konkreten Fall des Strafvollzuges auch auf weitere Ausnahmevorschriften in der Richtlinie bezogen: Erwägungsgrund 18 der Rahmenrichtlinie enthält eine Sonderregelung für Streitkräfte sowie die Polizei, Haftanstalten oder Notfalldienste. Ihnen darf unter Berücksichtigung des rechtmäßigen Ziels, die Einsatzbereitschaft dieser Dienste zu wahren, nicht zur Auflage gemacht werden, Personen einzustellen oder weiter zu beschäftigen, die nicht den jeweiligen Anforderungen entsprechen, um sämtliche Aufgaben zu erfüllen, die ihnen übertragen werden können. Zudem sieht Art. 2 Abs. 5 vor, dass die Richtlinie nicht die im einzel­staatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind, berührt. Insofern sieht die Richtlinie selbst weit­reichende Ausnahmen von den Gleichbehandlungsvorschriften vor, die der Gerichtshof aber auf das Erforderliche begrenzt. Eine Regelung wie die estnische im vorliegenden Verfahren, die alle Tätigkeiten in einem der für die Ausnahme qualifizierten Bereiche ohne jegliche Einzelfallprüfung vorsieht, lehnt der EuGH jedoch als nicht erforderlich ab. Denn die wesentliche und entscheidende Anforderung muss der „Natur der Beschäfti­gung“[5] entsprechen, d. h. sie muss der Tätigkeit inhärent sein. Das wird weder im Justizvollzug noch bei anderen sicherheitsrelevanten Einrichtungen für alle Tätigkeiten der Fall sein.

2. Pflicht zur Vornahme angemessener Vorkehrungen, Art. 5 RRL

Im Gegensatz zu den anderen Dimensionen der Gleichbehandlungsrichtlinie muss bei einer Rechtfertigung nach Art. 4 RRL für die Dimension Behinderung immer auch die Pflicht des Arbeitgebers zur Vornahme angemessener Vorkehrungen nach Art. 5 RRL berücksichtigt werden. Dieser Artikel sieht vor, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um behinderten Men­schen den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Der estnische Fall war hier insbesondere problematisch, weil der Kläger im Ausgangsverfahren entlassen worden war, ohne dass die Möglichkeit angemessener Vorkehrungen geprüft wurde bzw. werden konnte. Die Verordnung Nr. 12 versperrte seinem Arbeitgeber die Möglichkeit, vor seiner Entlassung zu über­prüfen, ob geeignete Maßnahmen gemäß Art. 5 RRL wie die Genehmigung der Verwendung eines Hörgeräts am Arbeitsplatz, eine Befreiung von der Pflicht, Aufgaben zu erfüllen, die das Erreichen der erforderlichen Mindesthörschwellen erfordern, oder eine Verwendung auf einer Stelle, die das Erreichen dieser Schwellen nicht erfordern, möglich waren. Schließlich hatte der Kläger bereits fast 10 Jahre die Tätigkeit ohne Beanstandung ausgeführt. Dass solch ein absoluter gesetzlicher Ausschluss behinderter Menschen von bestimmten Aufgabenbereichen erforderlich ist, hat der EuGH in letzter Zeit zu Recht bezweifelt.[6]

Es ist bereits in der Richtlinie selbst festgehalten, dass Arbeitgeber niemanden beschäftigen müssen, der für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen eines Arbeitsplatzes nicht kompetent, fähig und verfügbar ist (Erwägungsgrund 17). Für die Beurteilung muss der Arbeitgeber allerdings seinerseits seiner Verpflichtung aus Art. 5 RRL genügen.[7] Eine Kündigung ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH somit auch immer nur dann möglich, wenn auch mit angemessenen Vorkehrungen die Tätigkeit nicht mehr verrichtet werden kann.[8]

3. Angemessene Vorkehrungen bei Kündigungssachverhalten im deutschen Recht

Artikel 4 RRL wurde 2006 weitgehend inhaltsgleich als § 8 Abs. 1 im Allgemeinen Gleich­behandlungsgesetz (AGG) in das deutsche Recht umgesetzt. Ausgangspunkt für eine Prüfung des § 8 Abs. 1 AGG ist zunächst die Schlechterbehandlung einer/eines geeig­neten behinderten Beschäftigten wegen ihrer/seiner Behinderung. Bei der Prüfung der Eignung bzw. der Erfüllung der Anforderungen der Tätigkeit ist dabei zu beachten, dass die angemessenen Vorkehrungen, die Arbeitgeber gegenüber behinderten Beschäftig­ten vornehmen müssen[9]mitgedacht“ und daher mitgeprüft werden müssen. Die Frage ist also, ob die  behinderte Person mit angemessenen Vorkehrungen in der Lage wäre, die vertragliche Tätigkeit auszuführen und dadurch die Anforderungen zu erfüllen.[10] Für Kündigungssachverhalte gilt es demnach stets zuerst zu prüfen, ob angemessene Vorkehrungen hätten vorgenommen werden können. Das BAG hatte bereits 2013 im Fall der Kündigung eines HIV-infizierten Arbeitnehmers klargestellt, dass die Berufung auf § 8 Abs. 1 AGG für den Arbeitgeber nur dann in Frage komme, wenn das Beschäf­tigungshindernis nicht durch eine angemessene Vorkehrung überwunden werden könne.[11] Denn eine Kündigung ist diskriminierend und nach § 134 BGB i. V. m. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG bzw. § 1 KSchG unwirksam, wenn eine Einsatzmöglichkeit mit an­gemessenen Vorkehrungen gegeben wäre.[12] Auf eine Prüfung, ob die Anforderungen wesentlich und entscheidend i. S. d. § 8 Abs. 1 AGG sind, kommt es dann nicht mehr an.[13]

Lediglich für die Fälle, in denen auch mit einer Vorkehrung die Tätigkeit nicht ausführbar wäre oder es keine angemessenen Vorkehrungen gibt, die in Fragen kämen, sind die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 AGG zu prüfen, d. h. ob das mit der Behinderung in Zusammenhang stehende Merkmal wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Einen Fall wie im Ausgangsverfahren vor dem EuGH, in welchem angemessene Vorkehrungen bereits absolut ausgeschlossen sind, dürfte aufgrund der oftmals fehlenden Erforderlichkeit einer solchen Regelung wohl nur in seltenen Ausnahmefällen rechtmäßig sein.

VI. Fazit

Die Entscheidung des EuGH in der Sache Tartu Vangla reiht sich ein in die bisherige Rechtsprechung und verdeutlicht einmal mehr, dass der Ausschluss behinderter Menschen von bestimmten Aufgabenbereichen nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich ist.

Bei Einstellungsuntersuchungen sowie bei arbeitsmedizinischen Untersuchungen, vor allem nach der ArbMedVV, kann sich ergeben, dass z. B. eine verminderte Hörleistung festgestellt wird. In solchen Fällen darf nicht automatisch eine mangelnde Eignung für eine bestimmte Tätigkeit bescheinigt werden. Zunächst ist vielmehr festzustellen, wie diese Verminderung durch Hilfsmittel wie Hörgeräte (also durch angemessene Vorkeh­rungen) ausgeglichen bzw. verringert werden kann. Dies ist nicht durch Betriebs- oder Amtsärztinnen und -ärzte, sondern im Rahmen der Untersuchungen der sachnahen Hörgeräteakustikerinnen und -akustiker festzustellen. Weil bei der Feststellung einer solchen Minderung der Hörleistung noch angemessene Vorkehrungen möglich sind, dürfen diese Ergebnisse weder für eine Nichteinstellung noch für irgendwelche anderen personellen Maßnahmen (z. B. Versetzung) benutzt werden. Auch hier sind die Ergeb­nisse der hörakustischen Beratung zeitlich und sachlich vorrangig.

Ein Arbeitgeber, der solche Mindesthörschwellen oder vergleichbare gesundheitliche Anforderungen setzen will, formuliert damit eine Auswahlrichtlinie[14], die nach § 95 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats bzw. nach § 80 Abs. 1 Nr. 12 BPersVG der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt.

Beitrag von Dr. iur. Cathleen Rabe-Rosendahl, LL.M. (Nottingham)

Fußnoten

[1]    Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303 v. 02.12.2000, S. 16–22.

[2]    Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12.01.2010, C-229/08 (Wolf), EU:C:2010:3, Rn. 40; vom 13.11.2014, C-416/13 (Vital Pérez), EU:C:2014:2371, Rn. 40 und 41; sowie vom 15.11.2016, C-258/15 (Salaberria Sorondo), EU:C:2016:873, Rn. 36.

[3]      Rn. 33; vgl. in diesem Sinne EuGH v. 13.09.2011, C-447/09 (Prigge u. a.), EU:C:2011:573, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung.

[4]    Siehe hierzu bereits EuGH, Urteile vom 12.01.2010, C‑341/08 (Petersen), EU:C:2010:4, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung; sowie Urteil vom 21.01.2021, C‑843/19 (INSS), EU:C:2021:55, Rn. 32.

[5]    Vgl. die englische („nature of the particular occupational activities concerned“) und franzö­sische („en raison de la nature d'une activité professionnelle“) Fassung des Art. 4 RRL.

[6]    Vgl. hier auch die EuGH-Entscheidung zu blinden Schöffen: EuGH v. 21.10.2021, C-824/19, ECLI:EU:C:2021:862- hierzu Boysen, Beiträge B1 und B2/2022 unter www.reha-recht.de.

[7] EuGH v. 11.07.2006, C‑13/05 (Chacón Navas), EU:C:2006:456, Rn. 51.

[8] EuGH v. 11.07.2006, C‑13/05 (Chacón Navas), EU:C:2006:456, Rn. 52.

[9] Diese Pflicht ergibt sich aus § 164 Abs. 4 SGB IX für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte sowie aus § 241 Abs. 2 BGB für behinderte Beschäftigte ohne Schwerbehinderungs- oder Gleichstellungsstatus; vgl. BAG - 19. 12. 2013 - 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372ff.

[10] Däubler/Bertzbach-Brors, AGG, § 8 Rn. 33.

[11] BAG - 19. 12. 2013 - 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378. Ausführich hierzu: Rabe-Rosendahl, Angemessene Vorkehrungen für behinderte Menschen im Arbeitsrecht, S. 450ff.

[12] Vgl. BAG - 19. 12. 2013 - 6 AZR 190/12, NZA 2014, 372, 378.

[13] Däubler/Bertzbach-Brors, AGG, § 8 Rn. 33; FKS-SGB IX-Faber/Rabe-Rosendahl, § 164 Rn. 106.

[14] LAG Baden-Württemberg 13.12 2002–16 TaBV 4/02 – NZA-RR 2003, 417; DKW-BetrVG/Klebe § 95 Rn. 10; Fitting § 95 Rn. 22, HaKo-BetrVG-Kohte § 87 Rn. 89.


Stichwörter:

Diskriminierung, Angemessene Vorkehrungen, Einstellungsvoraussetzungen, Einstellungsverfahren, Behinderung


Kommentare (1)

  1. Dmitrij Reusenmann
    Dmitrij Reusenmann 08.04.2022
    Sehr geehrte Damen und Herren,
    Sie haben sehr gut über Schwerbehinderte Menschen geschrieben, die einen Festarbeitsvertrag haben. Was sollen Schwerbehinderte Menschen (GdB mehr als 50 und 60+) machen, wenn sie ab 02.2017 immer nur verlängert wurde.
    Laut §14TzBfG (3) darf ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer fünf Jahre befriste Arbeitsvertrag verlängern. Im 02.2022 hat der Arbeitgeber wieder nur für ein Jahr der Arbeitsvertrag verlängert.
    1. ob der Arbeitgeber ein Festvertrag vorschlagen soll?
    2. wenn der Schwerbehinderter kein Arbeitsschutzrecht hat, gibt es Stiftungen für die Hilfe?

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