20.07.2021 B: Arbeitsrecht Rabe-Rosendahl: Beitrag B5-2021

Die Zuweisung lediglich minderwertiger Tätigkeiten stellt keine behinderungsgerechte Beschäftigung dar – Anmerkung zu LAG Frankfurt vom 20. Mai 2020, Az. 18 Sa 170/19

Die Autorin Cathleen Rabe-Rosendahl bespricht in dem vorliegenden Beitrag das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 20. Mai 2020, Az. 18 Sa 170/19. Das Gericht befasste sich mit der Frage, ob eine minderwertige Tätigkeit als behinderungsgerechte Beschäftigung i. S. d. § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX gelten kann und auch eine höherwertige Tätigkeit in diesem Zusammenhang in Betracht kommt.

In ihrer Würdigung des Urteils stellt die Autorin auch praktisch relevante prozessuale Aspekte des Anspruchs auf behinderungsgerechte Beschäftigung aus der Entscheidung dar und setzt sich zudem kritisch mit den Ausführungen des Gerichts zu einem Anspruch auf Entschädigung wegen einer Diskriminierung durch die Versagung angemessener Vorkehrungen auseinander.

(Zitiervorschlag: Rabe-Rosendahl: Die Zuweisung lediglich minderwertiger Tätigkeiten stellt keine behinderungsgerechte Beschäftigung dar – Anmerkung zu LAG Frankfurt vom 20. Mai 2020, Az. 18 Sa 170/19; Beitrag B5-2021 unter www.reha-recht.de; 20.07.2021)

I. Thesen der Autorin

  1. Im Rahmen des Anspruchs aus § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX kommt auch eine höherwertige Tätigkeit als behinderungsgerechte Beschäftigung in Betracht.
  2. Schwerbehinderte Beschäftigte sind nicht verpflichtet, minderwertige Tätigkeiten als behinderungsgerechte Beschäftigung zu akzeptieren.
  3. Der Diskriminierungstatbestand der Versagung angemessener Vorkehrungen muss bei fehlender Umsetzung einer behinderungsgerechten Beschäftigung stets geprüft werden.

II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung

  1. Die Zuweisung lediglich minderwertiger Tätigkeiten stellt keine behinderungs-gerechte Beschäftigung i. S. d. § 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX dar.
  2. Der schwerbehinderte Beschäftigte muss nicht alle Anforderungen eines Tätigkeitsprofils erfüllen, wenn eine Umorganisation möglich ist.

III. Der Sachverhalt

Der 1964 geborene, schwerbehinderte Kläger ist bei der Beklagten, der Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt Main mbH, seit 1999 beschäftigt. Die Beklagte betreibt den Schienen- und Busverkehr in der Stadt Frankfurt. Der Kläger ist ausgebildeter Berufskraftfahrer und wurde zunächst als Omnibusfahrer beschäftigt. Nach Abbau des Fahrbetriebs „Bus“ und einer Umschulung des Klägers, arbeitete dieser seit 2002 als Schienenbahnfahrer. Im Dezember 2016 stellte der Betriebsarzt fest, dass der Kläger dauerhaft fahrdienstuntauglich für Straßen- und U-Bahnen ist. In einem darauffolgenden Gespräch bei der Beklagten über den weiteren Einsatz des Klägers im Unternehmen wurde diesem eine Tätigkeit an Endhaltestellen angeboten, die die Überprüfung der ankommenden Fahrzeuge auf Verschmutzungen sowie etwaige Fundsachen bedeutet hätte, außerdem die Fahrzeuge – soweit durchführbar – wieder abfahrbereit zu machen. Zusätzlich sollte der Kläger flexibel bei Fahrgastinformationen zu besonderen Anlässen eingesetzt werden. Solche Aufgaben in der Fahrgastinformation und -lenkung fallen wiederkehrend für begrenzte Zeiträume bei Sonderveranstaltungen, Baumaßnahmen, Schienenersatzverkehren usw. an, überwiegend dann für mehrere Tage oder Wochen. Der Kläger nahm die Tätigkeit an und erhielt weiterhin die Vergütung der Entgeltgruppe 4, Stufe 5 verbunden mit bestimmten Zuschlägen, diese jedoch nur noch anteilig.

Im Sommer/Herbst 2017 wurde der Kläger befristet im Bereich „Ticket Center“ beschäftigt, da dort aufgrund der Einführung des Schülertickets Hessen vorübergehend zusätzlicher Personalbedarf bestand. Im Anschluss kehrte der Kläger wieder auf seinen Arbeitsplatz als „Schienenbahnfahrer ohne Fahrertätigkeit im Endhaltestellenservice“ zurück. Gegen diese Rückkehr auf einen nach seiner Bewertung nicht behinderungsgerechten Arbeitsplatz wehrte sich der Kläger gerichtlich vor dem Arbeitsgericht und forderte, gestützt auf § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX eine behinderungsgerechte Beschäftigung im TicketCenter, hilfsweise in der Fahrgastbetreuung. Für solche Tätigkeiten sei er qualifiziert. Aufgrund seiner Tätigkeit als Bus- und Schienenbahnfahrer habe er sehr gute Strecken- und Tarifkenntnisse und besitze langjährige und umfangreiche Erfahrung in der Betreuung von Fahrgästen.

Seit Januar 2018 bewarb sich der Kläger mehrfach erfolglos auf bei der Beklagten ausgeschriebene Stellen für Tätigkeiten als Fachkraft für Service & Info (Fahrgastbetreuerin/Fahrgastbetreuer). Die Beklagte brachte vor, dass für die Tätigkeit in der Fahrgastbetreuung englische Sprachkenntnisse erforderlich seien, welche der Kläger nicht besitze. Seine Klage vor dem Arbeitsgericht wurde hinsichtlich der behinderungsgerechten Beschäftigung abgewiesen. Der Kläger verfolgte sein Ziel der behinderungsgerechten Beschäftigung als Fahrgastbetreuer nun vor der Berufungsinstanz, dem Landesarbeitsgericht Frankfurt, weiter.

Der Kläger war hierbei der Ansicht, seine Tätigkeit als „Schienenbahnfahrer ohne Fahrertätigkeit“ sei nicht gleichwertig, sondern minderwertig, denn alle berufstypischen Aufgaben einer Fahrerin/eines Fahrers seien ihm entzogen worden. Seine Tätigkeit an den Endhaltestellen bestehe im Wesentlichen daraus, die Schienenfahrzeuge während des Wendevorgangs zu begehen und auf Fundsachen u. Ä. zu überprüfen. Hiermit entlaste er die Fahrer jedoch kaum, denn in drei Jahren habe er in lediglich vier Fällen je einen Fahrstandswechsel für eine Fahrerin/einen Fahrer vorgenommen und einmal einen Fahrer in einer besonderen Situation unterstützt. Die Fundsachen gebe er lediglich an die Fahrerinnen/Fahrer weiter. Der Kläger macht zudem geltend, dass die Fahrerinnen/Fahrer nach den Dienstanweisungen der Beklagten ihre Aufgaben eigenverantwortlich erledigen müssten und deshalb in der Praxis nicht auf andere Beschäftigte delegierten. Der Kläger bringt vor, er fühle sich unterfordert und ausgegrenzt, da andere fahruntüchtige Mitarbeitende im Gegensatz zu ihm auch mit anderen Aufgaben betraut worden seien.

Neben diesem Sachverhalt klagte der Kläger darüber hinaus vor dem Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht als Berufungsinstanz auf Entschädigung wegen Benachteiligung bei der Bewerbung zum Fahrgastbetreuer sowie die Fortzahlung der Fahrdienst-Zuschläge in voller Höhe. Auf diese Fragen soll in diesem Beitrag jedoch nicht eingegangen werden.

IV. Die Entscheidung

Das Landesarbeitsgericht verpflichtete die Beklagte, den Kläger als Fahrgastbetreuer zu beschäftigen. Bevor es den Anspruch nach § 164 Abs. 4 S.1 Nr. 1 SGB IX erörterte, klärte das Landesarbeitsgericht zunächst eine wichtige prozessrechtliche Frage: die Bestimmtheit des Klageantrags. Den Klageantrag, in welchem der Kläger mehrere Tätigkeiten zur Erfüllung des Beschäftigungsanspruchs anführte, sei, so das Gericht, hierbei nicht unbestimmt und verstoße nicht gegen § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Zwar räume § 164 Abs. 4 S.1 Nr. 1 SGB IX dem Kläger keinen Anspruch auf eine bestimmte Tätigkeit ein, jedoch liefe der Kläger bei Angabe eines einzigen konkreten Arbeitsplatzes Gefahr, dass die Klage abgewiesen würde, weil der Arbeitgeber ihm einen anderen als den beantragten Arbeitsplatz zuweisen dürfe.

In materieller Hinsicht stehe dem Kläger ein Anspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung, bei der er seine Fähigkeiten und Kenntnisse verwerten und weiterentwickeln kann, nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX zu. Ein solcher Anspruch komme nicht nur in Betracht, wenn Beschäftigte ihre bisherige Tätigkeit überhaupt nicht mehr ausüben können, sondern auch dann, wenn ein Arbeitgeber einen schwerbehinderten Menschen zwar noch beschäftigt, ihn aber nur „unterwertig“ einsetze, obwohl Alternativen bestünden. Hierbei sei es für die Anspruchserfüllung auch unerheblich, ob die der bisherigen Tätigkeit entsprechende Vergütung weitergezahlt werde, obwohl nur noch Tätigkeiten mit geringeren Qualifikationsmerkmalen erfüllt werden.

Eine solche Konstellation liege hier vor. Der Kläger werde als „Schienenbahnfahrer ohne Fahrertätigkeit im Endhaltestellenservice“ nicht vertragsgemäß, sondern unterwertig beschäftigt. Faktisch für keine vom Kläger wahrgenommene Aufgabe sei die Ausbildung und Qualifikation eines Fahrers notwendig. Die Entlastung anderer Fahrerinnen und Fahrer an den Endhaltestellen durch den Kläger finde mangels Übertragung von Aufgaben durch die anderen Fahrerinnen und Fahrer nicht statt. Die Tätigkeit des Klägers bestehe insofern nur aus der Abfallbeseitigung und dem Einsammeln von Fundsachen. Reinigungs- und einfache Kontrollaufgaben seien jedoch nur von der Entgeltgruppe 2 des Tarifvertrages umfasst. Die Beklagte könne dem Kläger qualifiziertere Aufgaben zuweisen, die über das Durchschreiten von Zügen hinausgehen und seinen Fähigkeiten und Kenntnissen besser entsprechen. Es gäbe Alternativen, die nach ihrer Wertigkeit eher der bisherigen Eingruppierung des Klägers entsprechen würden, die der Kläger im Bereich der Fahrgastinformation und -lenkung auch bereits ausgeführt habe.

Dass der Kläger für eine solche Tätigkeit im Fahrgastbetreuungsbereich ungeeignet und der Beklagten eine solche Beschäftigungszuweisung unzumutbar sei, habe die Beklagte nicht ausreichend dargelegt. Es sei nach der Rechtsprechung gerade nicht notwendig, dass ein behinderter Mensch sämtliche Qualifikationsanforderungen für eine Tätigkeit erfülle, um einen Anspruch auf eine Beschäftigung gemäß § 164 Abs. 4 S.1 Nr. 1 SGB IX zu erlangen. Es komme zunächst eine Umorganisation des Arbeitsplatzes und die Übertragung von Teilaufgaben in Betracht und dies sei auch grundsätzlich zumutbar. Auch dass der Kläger bisher in Bewerbungsverfahren um Stellen im Fahrgastbetreuungsbereich nicht erfolgreich war, schließe nicht aus, dass die Beklagte den Kläger mit Teilaufgaben betraue, die er tatsächlich bereits ausgeführt habe bzw. bei der Endhaltestellen-betreuung auch auszuführen hätte. Insbesondere nachdem er bereits im Servicebereich (Ticketverkauf) eingesetzt worden war, sei nicht anzunehmen, dass der Kläger das von der Beklagten geforderte kundendienstfreundliche Serviceverhalten nicht erbringen könne. Dass in der Fahrgastbetreuung nur Beschäftigte mit Englischkenntnissen arbeiten dürfen, habe die Beklagte dagegen selbst mit ihren Stellenausschreibungen widerlegt. Dort sei aufgeführt, dass es lediglich „von Vorteil“ wäre, wenn Englisch-Grundkenntnisse vorhanden seien. Eine zwingende Erforderlichkeit ergebe sich daraus gerade nicht.

Der Beschäftigungsanspruch nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX komme auch in Betracht, wenn die behinderungsgerechte Tätigkeit eine höhere Vergütung mit sich bringen würde, denn der Anspruch aus dieser Norm schließe einen Beförderungsanspruch nicht grundsätzlich aus. Insofern sei es nicht entscheidend, dass die Fahrgastbetreuung nach der Entgeltstufe 5 bezahlt würde.

V. Würdigung/Kritik

Dieses im Hinblick auf Umfang und Inhalt des Anspruchs auf behinderungsgerechte Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX begrüßenswerte Urteil des LAG Frankfurt am Main behandelt in diesem Zusammenhang gleich mehrere wichtige Aspekte des Beschäftigungsanspruches – sowohl in prozessualer als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht.

Neben diesen Aspekten soll im Anschluss kurz auf einen vom LAG leider wenig beachteten Aspekt des Anspruchs auf behinderungsgerechte Beschäftigung eingegangen werden: die Diskriminierung bei Unterlassen der Zuweisung einer solchen Beschäftigung.

1. Prozessuale Aspekte des Anspruchs auf behinderungsgerechte Beschäftigung

Im Arbeitsgerichtsprozess müssen die Klageanträge hinreichend bestimmt sein, um § 253 Abs. 2 Nr. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 64 Abs. 6 S. 1 Arbeitsgerichtsgesetz zu genügen und den Streit der Parteien nicht in die Vollstreckung zu verlagern.[1] Grundsätzlich genügt für die Bestimmtheit die Aufzählung der behinderungsgerechten Tätigkeiten in Form von Alternativanträgen. Der Kläger hatte im vorgestellten Fall u. a. die folgenden Anträge gestellt:

  • die Beklagte zu verurteilen, ihn als Fahrgastbetreuer zu beschäftigen;
  • hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, ihn als Mitarbeiter im Bereich TicketCenter (NA 21.22), alternativ Postbote, alternativ Kontrolleur für die Haltestellen, alternativ Kontrolleur für die Rolltreppen zu beschäftigen;
  • hilfsweise die Beklagte zu verurteilen, ihn als „Fachkraft für Service und Info“ zu beschäftigen.

Gerade weil § 164 Abs. 4 S.1 Nr. 1 SGB IX keinen Anspruch auf einen selbst gewählten Arbeitsplatz einräumt, bleibt im Gerichtsprozess nur die Aufzählung in Frage kommender Tätigkeiten. Wie das LAG im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG[2] zutreffend hervorhebt, würde der Kläger bei Angabe nur einer Tätigkeit Gefahr laufen, dass die Klage abgewiesen würde, weil der Arbeitgeber ihm auch einen anderen behinderungsgerechten Arbeitsplatz zuweisen dürfte.[3] Insofern ist es für die Klage essentiell, dass die klagende Partei unterschiedliche Tätigkeiten anführt, die sie nach ihrer Auffassung entsprechend ihren Fähigkeiten und Kenntnissen unter Berücksichtigung ihrer Behinderung und den festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen ausüben kann.[4] Sofern sich die zuzuweisende Tätigkeit bestimmen lässt, ist es auch ausreichend, dass das Berufsbild oder die betriebliche Bezeichnung eines Einsatzbereichs (wie im vorliegenden Fall: „Fachkraft für Service und Info“) bezeichnet wird.[5]  Bei einer vorsichtigen Prozessführung werden auch – wie im vorliegenden Fall – zusätzliche Hilfsanträge gestellt.

2. Minderwertige Tätigkeiten sind keine Beschäftigung i. S. d. § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX

Nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX hat ein schwerbehinderter Mensch Anspruch auf eine Beschäftigung, bei der er seine Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst vollständig verwerten und weiterentwickeln kann. Begrenzt wird dieser Anspruch durch den Verhältnismäßigkeitsvorbehalt des § 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX, d. h. die Maßnahmen müssen für den Arbeitgeber zumutbar sein. Wenn schwerbehinderte Beschäftigte wie im vorliegenden Fall ihre Tätigkeiten nicht mehr wie bisher erfüllen können, besteht ein Anspruch auf die Zuweisung einer anderweitigen, kenntnis- und fähigkeitsgerechten Tätigkeit. Das LAG weist an dieser Stelle noch einmal daraufhin, dass auch gleichgestellte behinderte Beschäftigte (§ 2 Abs. 3 SGB IX) bereits einen Anspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung haben. In der Vergangenheit wurde in diesem Zusammenhang oft an sog. „Schonarbeitsplätze“ z. B. im Pfortenbereich eines Betriebes gedacht. Spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verlangt jedoch das Teilhaberecht – das eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen auch im Arbeits- und Berufsleben verlangt – vorrangig Beschäftigungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die eine möglichst optimale Nutzung der vorhandenen Fähigkeiten ermöglichen. Dies bedeutet, dass zunächst ein dem bisherigen Arbeitsplatz gleichwertiger Arbeitsplatz oder gleichwertige Tätigkeiten zu berücksichtigen sind. Beschäftigte sind nicht verpflichtet, nachteilige Änderungen der Arbeitsbedingungen und minderwertige Tätigkeiten in Kauf zu nehmen, wenn die Möglichkeit einer gleichwertigen Tätigkeit besteht und diese dem Arbeitgeber zumutbar ist. Dass der Arbeitgeber bei Zuweisung einer Tätigkeit, die nur geringere Qualifikationsmerkmale erfüllt, weiterhin die frühere Vergütung zahlt, führt, so das LAG Frankfurt, folgerichtig nicht zu einer anderen Bewertung. Schwerbehinderte Beschäftigte sind dementsprechend auch nicht verpflichtet, solche minderwertigen Beschäftigungsangebote anzunehmen.[6]

3. Anspruch umfasst ggf. auch Versetzung auf Tätigkeit einer höheren Entgeltgruppe

Die vom LAG Frankfurt betonte Auslegung, dass auch höherwertige Tätigkeiten in Betracht kommen, entspricht der ständigen Rechtsprechung[7] und ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX, der gerade auch von der Weiterentwicklung der Fähigkeiten und Kenntnisse spricht. Insbesondere sind anspruchsvollere Tätigkeiten in Erwägung zu ziehen, um einer aufgrund der Erfahrungen und der Kenntnisse ungerechtfertigten behinderungsbedingten Dequalifizierung entgegenzuwirken.[8] Dieser Aspekt des Anspruchs kann auch dazu führen, dass, wie im geschilderten Fall, der behinderte Mensch einen Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung bei der Besetzung auch einer höher bezahlten Stelle hat.[9] Hierbei spielt es zutreffend keine Rolle, dass der Kläger nicht alle Aufgaben der Tätigkeit ausführen kann. Es ist jedoch auch, wie das LAG betont, gerade nicht notwendig, dass der behinderte Mensch alle Qualifikationsmerkmale für die neue Tätigkeit erfüllt, denn um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der Arbeitgeber auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet.[10] Dies ist dem Arbeitgeber in der Regel auch zumutbar, denn die Organisationsfreiheit eines Arbeitgebers ist durch die Verpflichtung zu einer behinderungsgerechten (Um-)Gestaltung der Arbeitsorganisation gerade eingeschränkt.[11] Darüber hinaus besteht zudem stets die Möglichkeit dem behinderten Menschen die Aneignung der fehlenden Qualifikation durch Schulungen – wie im geschilderten Fall z. B. die Erlangung englischer Sprachkenntnisse – zu ermöglichen. Hier kann sich ein spezieller Anspruch aus § 164 Abs. 4 Nr. 2 und 3 SGB IX ergeben. Das Integrationsamt kann in solchen Fällen auch Hilfeleistungen nach § 24 SchwbAV erbringen, die auch dem beruflichen Aufstieg dienen können.[12] Eine solche Umorganisation nach § 164 Abs. 4 SGB IX ist auch bei der Beschäftigung von Beamtinnen und Beamten geboten.[13]

4. Das Unterlassen der Zuweisung einer behinderungsgerechten Beschäftigung als Benachteiligung i. S. d. § 7 AGG

Leider hat sich das Gericht nicht näher mit dem vom Kläger vorgebrachten Diskriminierungsvorwurf aufgrund der nicht behinderungsgerechten Beschäftigung auseinandergesetzt. Ohne weitere Begründung lehnt das Gericht eine Benachteiligung nach § 7 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ab, stellt jedoch an anderer Stelle selbst fest, dass der Kläger bisher nicht behinderungsgerecht beschäftigt wurde, obwohl dem Arbeitgeber eine solche Beschäftigung zumutbar gewesen wäre.

Das Unterlassen einer behinderungsgerechten Beschäftigung nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX und somit einer angemessenen Vorkehrung i. S. d. Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK und Artikel 5 der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG stellt jedoch neben einer ggf. schadensersatzauslösenden Vertragsverletzung nach § 280 BGB auch eine Diskriminierung dar (Art. 2 Unterabs. 3 UN-BRK).[14] Die Bestimmungen der UN-BRK sind Bestandteil der Unionsrechtsordnung[15] und damit zugleich Bestandteil des – ggf. unionsrechtskonform auszulegenden – deutschen Rechts.[16] Für das deutsche Arbeitsrecht fehlt bisher eine gesetzliche Verankerung dieser Benachteiligungsform, daher ist das AGG unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass es die Versagung angemessener Vorkehrungen i. S. d. § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX umfasst.[17] Schwerbehinderte Beschäftigte haben bei Versagung angemessener Vorkehrungen somit einen Anspruch auf Schadensersatz und Entschädigung wegen einer erfolgten Benachteiligung. 

VI. Fazit

Das im Hinblick auf den Erfüllungsanspruch aus § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX begrüßenswerte Urteil des LAG hat verschiedene wichtige Aspekte der gleichberechtigten Teilhabe (schwer)behinderter Menschen am Arbeitsleben aufgegriffen, leider jedoch die Diskriminierungsdimension des Anspruchs nicht ausreichend berücksichtigt. Hier wird erneut deutlich, dass es einer Kodifizierung der Diskriminierungsform „Versagung angemessener Vorkehrungen“ im AGG bedarf, um auch den behinderten Beschäftigten transparent ihre Ansprüche aufzuzeigen. Selbst wenn das LAG hier von einer Diskriminierung ausgegangen wäre, wäre der Kläger im konkreten Fall aber leer ausgegangen. Er hatte die Diskriminierung nicht rechtzeitig gegenüber seinem Arbeitgeber geltend gemacht. Diese Geltendmachung nach § 15 Abs. 4 AGG muss innerhalb von zwei Monaten ab Kenntnis von der Diskriminierung schriftlich erfolgen. Ohne eine solche Geltendmachung scheiden Ansprüche wegen einer Diskriminierung aus. Lehnt der Arbeitgeber den Anspruch nach Geltendmachung ab, muss innerhalb von drei Monaten Klage vor dem Arbeitsgericht eingereicht werden, § 61b Abs. 1 ArbGG.[18]

Beitrag von Dr. iur. Cathleen Rabe-Rosendahl, LL.M. (Nottingham)

Fußnoten

[1] BAG v. 10.05.2005 – 9 AZR 230/04 - NZA 2006, S. 155, Rn. 29ff.

[2] BAG v. 03.12.2019 – 9 AZR 78/19 – NZA 2020, 578, Rn. 11; BAG v. 10. Mai 2005 – 9 AZR 230/04 – NZA 2006, S. 155, Rn. 31, 34.

[3] Anders ist der Fall, wenn der Arbeitgeber gänzlich untätig bleibt, hier ist u. U. auch die Aufzählung nur einer Tätigkeit ausreichend. Vgl. hierzu ausführlich: Rosendahl, Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – unmittelbar klagbarer Anspruch auch auf eine konkrete Tätigkeit möglich – Anmerkung zu LAG Frankfurt, Urteil v. 05.11.2012 – 21 Sa 593/10; Forum B, Beitrag B3-2013 unter www.reha-recht.de.

[4] BAG Urteil vom 03.12.2019 – 9 AZR 78/19 – NZA 2020, 578, Rn. 11; BAG Urteil vom 10.05.2005 – 9 AZR 230/04 – NZA 2006, S. 155, Rn. 31, 34.

[5] BAG v. 03.12.2019 – 9 AZR 78/19 – NZA 2020, S. 578, Rn. 11.

[6] Auch würde ein eventueller Schadensersatzanspruch gegen den Arbeitgeber wegen fehlender behinderungsgerechter Beschäftigung nicht gemindert werden, denn der Arbeitgeber ist seiner Pflicht aus § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX gerade nicht nachgekommen. Zum Anspruch auf Schadensersatz bei Verweigerung einer behinderungsgerechten Beschäftigung: LAG Frankfurt, Urteile v. 21.03.2013 – 5 Sa 842/11 und 5 Sa 1720/11, juris; dazu: Rosendahl, Anspruch auf Schadensersatz bei Verweigerung einer behinderungsgerechten Beschäftigung; Forum B, Beitrag B12-2014 unter www.reha-recht.de.

[7] z. B. BAG v. 12.11.1980 – 4 AZR 779/78 – juris, Rn. 23; BAG v. 28.04.1998 – 9 AZR 348/97, juris, Rn. 39; LAG Frankfurt 02.11.2015 – 16 Sa 473/15, br 2016, 87; dazu Kohte/Liebsch JurisPR-ArbR 11/2016, Anm. 1 und LPK-SGB IX/Düwell, 5. Aufl. 2018 § 164 Rn. 193.

[8] FKS-SGB IX-Faber/Rabe-Rosendahl, § 164 Rn. 38, 41.

[9] Vgl. hierzu auch BAG v. 12.11.1980 – 4 AZR 779/78 - juris, Rn. 23.

[10] ebenso LAG Berlin-Brandenburg 26.10.2016 - 15 Sa 936/16, dazu Kohte/Liebsch, Beitrag B1-2017 unter www.reha-recht.de

[11] BAG v. 16.05.2019 – 6 AZR 329/18 – NZA 2019, 1198, Rn. 35; BAG v. 14.03.2006 – 9 AZR 411/05 – NZA 2006, 1214, Rn. 26.

[12] VG Frankfurt 10.11.2010 – 7 K 983/10, BeckRS 2012, 54854.

[13] Beyer, JurisPR-ArbR 1/2015, Anm. 4.

[14] Hlava, Beitrag B1-2020, S. 4f unter www.reha-recht.de; FKS-SGB IX-Faber/Rabe-Rosendahl, § 164 Rn. 38; Fabricius in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 164 (Stand 27.08.2020), Rn. 50.

[15] EuGH v. 11.04.2013 - C-335/11 u. a. - [HK Danmark, auch genannt „Ring, Skouboe Werge“] Rn. 28 ff.

[16]   BAG v. 04.11.2015 - 7 ABR 62/13 - juris, Rn. 27; BAG v. 19.12.2013 - 6 AZR 190/12 - juris, Rn. 53.

[17] So auch BAG v. 21.04.2016 – 8 AZR 402/14- juris, Rn. 19. Auf diese Auslegung kam es jedoch im konkreten Fall des BAG nicht an.

[18]   Zur zweistufigen Ausschlussfrist ausführlich: FKS-SGB IX-Faber/Rabe-Rosendahl, § 164 Rn. 129ff.


Stichwörter:

Behinderungsgerechte Beschäftigung, Angemessene Vorkehrungen, Diskriminierung, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), § 7 AGG


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