29.11.2023 C: Sozialmedizin und Begutachtung Beyerlein: Beitrag C1-2023

Anforderungen an individuelle Bedarfsermittlung in der Rehabilitation – Bericht von der Tagung „Individuelle Bedarfsermittlung – Selbstbestimmt zur Teilhabe am Arbeitsleben“ des Projekts ZIP – NaTAR

In diesem Beitrag berichtet Michael Beyerlein (Universität Kassel) über die wesentlichen Inhalte der interdisziplinären Fachveranstaltung "Individuelle Bedarfsermittlung", die am 27. September 2023 vom Projekt „Zugänglichkeit – Inklusion – Partizipation, Nachhaltige Teilhabe an Arbeit durch Recht“ (ZIP – NaTAR) in Berlin veranstaltet wurde. Der Beitrag berichtet über Selbstbestimmung und Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung, erste empirischer Ergebnisse der Erforschung von Partizipation in der Bedarfsermittlung durch das Projekt, lebensverlaufsbezogene Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung bei den Budgets für Arbeit und Ausbildung, Barrierefreiheit in der Bedarfsermittlung und -feststellung, die Rolle von Hilfebedarfsfeststellungsverfahren für mehr Partizipation und die abschließende Diskussionsrunde der Tagung.

(Zitiervorschlag: Beyerlein: Anforderungen an individuelle Bedarfsermittlung in der Rehabilitation – Bericht von der Tagung „Individuelle Bedarfsermittlung – Selbstbestimmt zur Teilhabe am Arbeitsleben“ des Projekts ZIP – NaTAR; Beitrag C1-2023 unter www.reha-recht.de; 29.11.2023)

I. Einleitung

Der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs kommt im Reha-Prozess eine wesentliche Bedeutung zu.[1] Das SGB IX macht dazu seit der Reform des BTHG abweichungsfest für alle Rehabilitationsträger die Vorgabe, dass für die individuelle Ermittlung des Reha-Bedarfs standardisierte Instrumente zu verwenden sind, die insbesondere erfassen, ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht, welche Auswirkung die Behinderung auf die Teilhabe der Leistungsberechtigten hat, welche Ziele mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen und welche Leistungen voraussichtlich zur Erreichung der Ziele erfolgreich sind (§ 13 SGB IX). Die Gemeinsame Empfehlung der Rehabilitationsträger konkretisiert, dass bei der individuellen Bedarfsermittlung und -feststellung die aktuelle Lebenssituation des Individuums mit seinen jeweiligen Kompetenzen und Unterstützungsbedarfen Ausgangspunkt der Ermittlung ist.[2] Es ist darum geboten, die Leistungsberechtigten von Beginn an partizipativ in die Ermittlung ihres Bedarfs einzubeziehen.[3] Das ergibt sich rechtlich bereits aus den allgemeinen Vorgaben zum Sozialverwaltungsverfahren (§ 21 Abs. 2 SGB X) und wird beispielsweise im Leistungsrecht der Eingliederungshilfe durch die Vorgabe konkretisiert, dass Leistungsberechtigte an allen Verfahrensschritten (also auch der Bedarfsermittlung) zu beteiligen sind (§ 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Es folgt aber vor allem aus den Vorgaben des § 13 SGB IX, der konsequent im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der ICF zu verstehen und anzuwenden ist. Die Feststellung eines individuellen Rehabilitationsbedarfs zur selbstbestimmten Teilhabe ist nur denkbar, wenn die leistungsberechtigte Person aktiv eingebunden ist. Die Partizipation der Leistungsberechtigten soll insbesondere durch Teilhabeplankonferenzen nach § 20 SGB IX gestärkt werden, die die Koordination bei der Beteiligung mehrerer Leistungsträger oder Leistungsgruppen[4] am Reha-Prozess erleichtern sollen. Der Anteil der Verfahren mit Teilhabeplankonferenz an allen Reha-Antragsverfahren betrug jedoch im Jahr 2021 nur 0,10 Prozent.[5]

Das Projekt „Zugänglichkeit – Inklusion – Partizipation. Nachhaltige Teilhabe an Arbeit durch Recht“[6] veranstaltete am 27. September 2023 eine interdisziplinäre Fachtagung zum Thema „Individuelle Bedarfsermittlung". Die Tagung hatte es zum Ziel, rechtliche und empirische Grundlagen zur Partizipation und Barrierefreiheit in der Bedarfsermittlung herauszuarbeiten und in der Diskussion Erfahrungen mit der Ermittlung individueller Ziele, u. a. für das Arbeitsleben, auszutauschen. In diesem Beitrag wird über wesentliche Inhalte und Diskussionen auf der Tagung berichtet.

II. Selbstbestimmung und Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung

In ihrem einleitenden Vortrag klärte Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin) den Begriff des Bedarfs und setze ihn in den Kontext relevanter rechtlicher Vorgaben.

Bedarf sei im allgemeinen Wortsinn als ein „gerichtetes Nötig-haben“ oder „konkretisiertes Brauchen“ zu verstehen, wie Wansing ausführte. Bei der Feststellung von Bedarfen an Teilhabeleistungen sei Selbstbestimmung und Partizipation der Leistungsberechtigten von großer Bedeutung. Selbstbestimmung bedeute, Entscheidungen gemäß eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu treffen, was auch die UN-BRK aufgreife, die in Art. 3 die Achtung der individuellen Autonomie und Selbstbestimmung betont. Das konkretisiere sich in einfachgesetzlichen Regelungen wie § 8 SGB IX. Die Norm garantiert ein weitgehendes Wunsch- und Wahlrecht[7] bei der Ausführung von Teilhabeleistungen. Die persönliche Lebenssituation und Bedürfnisse der Leistungsberechtigten sollen berücksichtigt werden, ihre Selbstbestimmung bei der Ausführung der Leistungen gefördert werden. Dafür seien auch Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung zentral. Darin werde entscheidend über die Lebenschancen der Betroffenen verhandelt. Die dafür vorgesehenen gesetzlichen Instrumente, insbesondere § 13 SGB IX, verlangen eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung. Auch die Teilhabeplankonferenz nach § 20 SGB IX sei ein wichtiges Mittel zur gemeinsamen Beratung der Feststellungen zum Rehabilitationsbedarf.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Selbstbestimmung und Partizipation in der Bedarfsfeststellung und Teilhabeplanung seien klare individuelle Teilhabeziele, Erkennen von Beeinträchtigungen und notwendiger Unterstützung sowie Kenntnis über mögliche Leistungen erforderlich. Auch ein passendes Gesprächssetting mit Klarheit, Kontrolle über teilnehmende Personen und Verständnis für die Relevanz von Redebeiträgen sei entscheidend.

Katja Nebe (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) referierte anschließend zu „Reserven in der Rechtsumsetzung“. Sie betonte das Ziel des SGB IX, Menschen mit Behinderung durch Sozialleistungen Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Trotz der gesetzlichen Verankerung bestünden erhebliche Barrieren und Teilhabehindernisse, vor allem bei der Bedarfsermittlung. Nebe vertiefte dabei die Umsetzung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und die Verwirklichung der Personenzentrierung. Die ICF basiere auf dem bio-psycho-sozialen Modell, das Behinderung als Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt beschreibt. Instrumente zur Ermittlung des Reha-Bedarfs sollen Behinderungen ICF-konform beschreiben (§ 13 Abs. 2 SGB IX). In der Praxis bestehe trotz verschiedener Arbeitshilfen[8] jedoch Unsicherheit bei der Nutzung der ICF in der Bedarfsermittlung. Fortbildung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden seien darum entscheidend.

Personenzentrierung sei ein wichtiges Ziel der BTHG-Reform, die Umsetzung jedoch noch defizitär.[9] Der Arbeitsmarkt bleibe so vielen Menschen mit Behinderung noch verschlossen und viele seien immer noch in Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschäftigt. Teilhabe am Arbeitsleben könne nur dann gelingen, wenn Leistungen personenzentriert zusammengestellt werden.[10] Auch sie verwies darauf, dass bisher noch in viel zu geringem Umfang trägerübergreifende Teilhabeplanungen und Teilhabeplankonferenzen durchgeführt werden. In den anschließenden, parallelen Workshops wurden verschiedene Aspekte vertieft behandelt.

III. Partizipation in der Bedarfsermittlung – Erste Forschungsergebnisse

In Workshop 1 wurde von einem Forschungsteam, bestehend aus Lea Mattern, Tonia Rambausek-Haß, Marco Kölln und Philipp Greite, anhand von ersten Ergebnissen der Studie „Partizipation an der Bedarfsermittlung" ein Blick auf die Praxis geworfen. Die Studie untersucht anhand einer Fokusgruppe (sechs Personen) und mit fünf Einzelinterviews, wie Menschen mit Behinderungen ihre Partizipation an den Verfahren erleben. Berichtet wurde, dass die Einbeziehung in die Bedarfsermittlung für viele der Befragten auch mit Gefühlen der Ohnmacht und Bevormundung sowie einem gefühlten Zwang zur Offenbarung einhergehe. Einige der Befragten fühlten sich mit der Situation zudem überfordert.

Der Einbezug in die Bedarfsermittlung müsse jedoch nicht negativ erlebt werden. Die Studie konnte ebenfalls förderliche Faktoren für eine individuelle und partizipative Bedarfsermittlung identifizieren. Dazu gehören selbst verfasste Teilhabeberichte, die Möglichkeit für Menschen mit Behinderungen, ihren eigenen Bedarf zu erkennen, das Wissen über verfügbare, individuell passende Leistungen und ein Bewusstsein für die eigenen Rechte. Auch Barrieren, die die individuelle Bedarfsermittlung erschweren, wurden ermittelt. Zu nennen seien mangelnde Aufklärung über Leistungen, Resignation aufgrund negativer Erfahrungen, die zu Verweigerung der Kommunikation und Beteiligung führen kann, sowie das Fernbleiben relevanter Akteure bei Terminen.

Die Forschenden resümierten, dass für eine individuelle und partizipative Bedarfsermittlung das Machtgefälle zwischen Menschen mit Behinderungen und anderen Akteuren im Prozess der Bedarfsermittlung reflektiert werden müsse, entsprechend Zeit eingeplant werden sollte und es bereits im Vorfeld Unterstützungsangebote und barrierefreie Informationen brauche, damit Partizipation gelingen könne.

Diskutiert wurde u. a. über Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen den Beteiligten an der Teilhabeplanung bei  Leistungsträgern und Leistungserbringern, eine mögliche Verpflichtung der Leistungsträger zum Teilhabeplanverfahren nach dem Vorbild des Gesamtplanverfahrens, enge Zeitrahmen in der Bedarfsermittlung, das Für und Wider der direkten Kommunikation der Leistungsträger mit gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern und die Haltung der beteiligten Akteure zur Frage der Personenzentrierung.

IV. Lebensverlaufsbezogene Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung bei den Budgets für Arbeit und Ausbildung

Im zweiten Workshop standen die neuen Instrumente für eine personenzentrierte Arbeitsmarktteilhabe, das Budget für Arbeit (BfA) und das Budget für Ausbildung, im Mittelpunkt.[11] Da beide Teilhabeleistungen dazu dienen, zum einen Wege aus Sonderarbeitswelten zu eröffnen (Übergang aus der Werkstatt für behinderte Menschen, WfbM) bzw. den direkten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt (quasi „vorbei“ an der WfbM) zu ermöglichen, spielen hier die lebensverlaufsbezogene Bedarfsermittlung und Bedarfsfeststellung eine ganz besondere Rolle, denn die Berufswegeplanung beginnt bei allen jungen Menschen typischerweise schon in der Schule. Katja Nebe führte in das Thema ein. Sie betonte in ihrem Vortrag die Notwendigkeit einer lebensverlaufsorientierten Rehabilitation. Das sei insbesondere für Kinder und Jugendliche relevant. Inklusion erfordere ein „Denken vom Menschen her“. Das werde durch immer wieder wechselnde Zuständigkeiten verschiedener Träger und deren Eigenlogiken erschwert. Es sei darum wichtig, frühzeitig die im Lebensverlauf zu erwartenden Bedarfe und damit auch die sich ändernden Zuständigkeiten in den Blick zu nehmen.[12]

Der Vortrag von Monika Labruier (ProjektRouter) gab einen Einblick in die praktische Umsetzung von Unterstützungsdienstleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Als Inklusionsdienstleister gestalte das Unternehmen ProjektRouter individuelle Qualifizierungs- und Beschäftigungswege für Menschen mit Behinderungen in Kooperation mit regionalen Unternehmen. Dieses Bemühen führe zu nachhaltiger Besetzung der Arbeitsplätze und inklusiver Beschäftigung. Verschiedene Leistungen dienen dabei als Brücke zwischen WfbM und dem Arbeitsmarkt, darunter Budgets für Ausbildung und Arbeit nach §§ 61 und 61a SGB IX, betriebliche Qualifizierung und Supported Employment[13]. Wesentliche Elemente eines inklusiven Coaching- und Unterstützungsangebotes seien betriebliches Ausbildungs- und Arbeitstraining, modulares Bildungstraining, Persönlich­keits­entwicklung, flankierende Aufklärung, Beratung, Einzelcoachings, Schulungen und Gruppencoachings sowie verbindliche Netzwerkarbeit und Verzahnung. Anschließend wurden Fragen gestellt und gemeinsam diskutiert. Dabei brachten sich immer wieder auch Menschen mit ihren persönlichen Erfahrungen ein. Torsten Schaumberg (Hochschule Nordhausen) stand für die rechtliche Einordnung der Fragen und Berichte aus der Praxis sachkundig zur Verfügung. Zentral waren folgende Fragen und Anstöße:

Wie kommen die Leistungen zu den Menschen? Wer öffnet Türen? Wer unterstützt bei der Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen? Die Eingliederungshilfe oder die Bundesagentur? Wie ist die sozialrechtliche Absicherung ausgestaltet?[14] Wer gibt Unternehmen die nötige Orientierung und die Unterstützung, damit die Beschäftigung im Rahmen eines BfA gelingt? Wer stellt sicher, dass Unternehmen „alles aus einer Hand“ erhalten? Welche Rolle spielen die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (§ 185a SGB IX)? Welche Rolle spielen Werkstattleistungen, um Menschen direkt am allgemeinen Arbeitsmarkt zu „platzieren“?

Wenn es sich um sogenannte Außenarbeitsplätze handelt, dann hängt deren Beitrag als Brücke in den allgemeinen Arbeitsmarkt vor allem davon ab, wie lange auf einem Außenarbeitsplatz gearbeitet wird. Gerade Außenarbeitsplätze, so eine stark vertretene Meinung, können bei unbefristeter Beschäftigung das „System WfbM“ als Sonderarbeitswelt noch verschärfen. Wie können die Barrieren am allgemeinen Arbeitsmarkt gesenkt werden, um hier tatsächlich Öffnung für Menschen mit erheblichem Unterstützungsbedarf zu erreichen? Welche Unterstützungsleistungen gibt es z. B. bei notwendiger Begleitung am Praktikumsplatz und auf dem Weg zur Praktikumsstelle? Als problematisch erachtet wird, wenn die WfbM selbst die Bedarfsplanung durchführt. Thematisiert wurde, dass es bei der Gewährung von BfA in den einzelnen Bundesländern Unterschiede gibt. Nordrhein-Westfalen z. B. unterscheidet zwischen Berechtigten, die aus der WfbM auf den Arbeitsmarkt wechseln, und denen, die von vornherein ein BfA als Alternative zur WfbM beantragen. In Thüringen wird eine Orientierungshilfe angeboten.

V. Barrierefreiheit in der Bedarfsermittlung und -feststellung

Ein weiterer Workshop behandelte Barrierefreiheit in der Bedarfsermittlung und -feststellung. Felix Welti (Universität Kassel) skizzierte zunächst die rechtlichen Grundlagen. Art. 9 der UN-BRK verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation zu ermöglichen, was im Bundesrecht durch § 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) konkretisiert wird. Barrierefreiheit bedeute, dass die Umwelt für behinderte Menschen ohne besondere Erschwernisse zugänglich und nutzbar sein muss. Auch Sozialleistungsträger auf verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung müssen Barrierefreiheit gewährleisten, wie durch § 17 SGB I und die BGG des Bundes und der Länder vorgegeben. Fehlende Barrierefreiheit stelle eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung dar, was im Bedarfsfeststellungsverfahren ein problematischer Verfahrensfehler sei. Betroffene könnten dies im Widerspruchs- und Gerichtsverfahren anfechten oder im Schlichtungsverfahren nach § 16 BGG und im Verbandsklageverfahren nach § 15 BGG oder Landesrecht vortragen.

Matthias Schmidt-Ohlemann (Landesarzt für Körperbehinderte Rheinland-Pfalz und Deutsche Vereinigung für Rehabilitation) referierte über Barrierefreiheit in der Bedarfsermittlung und -feststellung aus sozialmedizinischer Sicht. Barrieren in der sozialmedizinischen Begutachtung könnten z. B. ein fehlender Aufzug, unzureichende Beleuchtung oder ein Mangel an Assistenz sein. Auch im Schriftverkehr könnten durch komplizierte Anschreiben und fehlende Informationen in Leichter Sprache Barrieren bestehen. Das setze sich in den Gesprächssituationen zur Bedarfsfeststellung fort. Dort könnten zahlreiche Barrieren, wie z. B. mangelnde Kommunikationshilfen und eine zu komplizierte Fachsprache vorhanden sein. Die zunehmende Digitalisierung und nicht barrierefreie Webseiten könnten ebenfalls Hindernisse darstellen. Da die meisten Rehabilitanden Arztpraxen aufsuchen müssten, sollten auch diese barrierefrei sein. Da solche Barrieren rechtlich nicht immer fassbar seien, könne Barrierefreiheit allein durch Vorschriften nicht erzwungen werden. Organisationen könnten jedoch die Verwendung Leichter Sprache fördern und zur Beteiligung und Mitwirkung anregen.

Abschließend referierte Martin Theben aus anwaltlicher Sicht. Er betonte die Unterscheidung zwischen abstrakten Bedarfen und tatsächlichen Bedürfnissen bei der Bedarfsermittlung. Alltagstaugliche Nachteilsausgleiche seien wichtig, da zentralisierte und starre Instrumente die individuellen Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigen könnten. Die aktive Beteiligung der leistungsberechtigten Person an der Gestaltung des Bedarfsfeststellungsverfahrens ergebe sich aus Art. 4 Abs. 3 UN-BRK, dem verfassungs­rechtlichen Benachteiligungsverbot und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Verwendung einfacher/Leichter Sprache könne das Verwaltungsverfahren barrierefreier machen, sei in der Praxis aber noch nicht hinreichend angekommen. Um die noch geringe Bekanntheit und Umsetzung der Barrierefreiheitsregelungen in den Behörden zu verbessern, sollten Amtspersonen sowie Gutachterinnen und Gutachter nach dem Peer-Prinzip[15] geschult werden.

In der Diskussion wurde berichtet, dass viele der vorgestellten Vorschriften in der Praxis nicht ausreichend bekannt und fehlende Barrierefreiheit sowie benachteiligende Praktiken weit verbreitet seien. Auch werde gegen fehlende Barrierefreiheit zu wenig rechtlich vorgegangen, da dies für Betroffene kräftezehrend sei. In der Praxis der Bedarfsermittlung problematisch seien zudem anspruchsvolle und zu schematische Instrumente. Felix Welti bemerkte dazu, dass das Gesetz zwar Standardisierung vorgebe, aber auch individuelle Anpassungen erlaube.

VI. BTHG – Hilfebedarfsfeststellungsverfahren als Schlüssel und Zugang zur Teilhabe durch Partizipation?!

Der vierte Workshop unter Leitung von Michael Komorek (Evangelische Hochschule Berlin) beschäftigte sich mit der Frage, ob partizipative Bedarfsermittlung einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe leisten kann. Komorek betonte zunächst die große Bedeutung der Bedarfsermittlung für das gesamte Rehabilitationsgeschehen und skizzierte das Verhältnis zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern in der Bedarfsermittlung, das den Leistungsträgern durch das BTHG mehr Verantwortung zuweist, aber auch die Position der Leistungsberechtigten stärken soll („Nichts über uns ohne uns.“). Merkmale einer inklusiven Eingliederungshilfe seien eine gesteigerte Partizipation der Leistungsberechtigten, eine klare Implementation der Sozialraumorientierung[16], die Anwendung wirksamer Methoden zur Inklusionsförderung und eine Bedarfsfeststellung in Orientierung an der ICF. Derzeit zeige sich aber, dass etwas weniger als die Hälfte der Fälle nach Aktenlage beurteilt werde und dieser Anteil steige, umso höher der Grad der Behinderung ist. Gleichzeitig hätten Personen mit niedrigem Grad der Behinderung oder mehr Ressourcen eine größere Chance in die Bedarfsermittlung einbezogen zu werden und bspw. deren Ort zu bestimmen. Vertrauenspersonen werden zudem oft nur auf Nachfrage einbezogen und es werden selten Hinweise auf unabhängige Beratungsmöglichkeiten gegeben. Oftmals würden zudem noch veralte Verfahren angewendet.

VII. Diskussion

In der abschließenden Diskussionsrunde wurden die wesentlichen Ergebnisse aus den Workshops vorgestellt. Martin Theben wies dabei darauf hin, dass die Ermittlung von Rehabilitationsbedarfen auch als ein politischer Prozess betrachtet werden könne, der die Verteilung von Steuer- und Beitragsgeldern an Menschen mit Behinderung zum Gegenstand hat. Durch diese Betrachtung würden auch die Machtverhältnisse zwischen denen, die Gelder verteilen, und denen, die sie beantragen, in den Blick geraten. Leistungsträger könnten z. B. ein Interesse daran haben, Haushaltsmittel nicht übermäßig zu verwenden. Daher sei es wichtig, durch Empowerment[17] Augenhöhe herzustellen, da andernfalls Akteure mit mehr Ressourcen dominieren könnten. Dieser Aspekt sollte näher untersucht werden, auch mittels partizipativer Forschung.

Anschließend wurde diskutiert, wie Teilhabe an der Bedarfsermittlung auch für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen möglich ist. Matthias Schmidt-Ohlemann berichtete aus seiner Praxis, dass zunächst die Mittel unterstützter Kommunikation ausgeschöpft werden müssten. Oft werde fälschlicherweise angenommen, dass Menschen, die sich sprachlich nicht äußern können, die Situation nicht verstehen. Das sei jedoch oft nicht der Fall, und es sollten alternative Kommunikationswege gesucht werden. In Fällen, in denen Personen tatsächlich erhebliche Einschränkungen haben, liege es an professionellen und nicht professionellen Bezugspersonen, Bedarfe möglichst genau zu beschreiben und in die Bedarfsermittlung einzubringen. Eine sorgfältige Vorbereitung der Bedarfsermittlung sei in diesen Fällen entscheidend.

Auch diskutiert wurde das Spannungsfeld zwischen persönlichen Neigungen, zum Beispiel bezüglich eines Berufs, und der (vermuteten) Eignung dafür. Monika Labruier betonte, dass Jobcoaching grundsätzlich viel ermöglichen könne und dass aufgrund des Fachkräftemangels Unternehmen zunehmend daran interessiert seien, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben. Matthias Schmidt-Ohlemann ergänzte, dass zwischen der Eignung für eine Rehamaßnahme und einer beruflichen Prognose unterschieden werden sollte. Letztere sollte sinnvollerweise erst nach Abschluss der Maßnahme getroffen werden. Zudem gebe es viele Möglichkeiten, Arbeitsplätze mit speziellen Vorrichtungen anzupassen.

Martin Theben betonte abschließend, dass einige Begriffe im Recht, wie zum Beispiel „Erwerbsfähigkeit“, kritisch hinterfragt werden müssten.[18] Um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben zu verbessern, seien zudem auch Veränderungen in den Einstellungen der beteiligten Akteure notwendig.

Literaturverzeichnis

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Fuchs, Harry, Patentrezept – Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“ – Anspruch und Wirklichkeit am Beispiel der Bedarfsermittlung gem. § 13 SGB IX; Beitrag A7-2021 unter www.reha-recht.de; 09.02.2021.

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Jordan, Micah/Wansing, Gudrun, Peer Counseling: Eine unabhängige Beratungsform von und für Menschen mit Beeinträchtigungen – Teil 1: Konzept und Umsetzung; Beitrag D32-2016 unter www.reha-recht.de; 11.08.2016.

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Mattern, Lea/Peters, Ulrike/Rambausek-Haß, Tonia, Zur Umsetzung der Partizipation in der Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung – Forschungsstand; Beitrag D5-2023 unter www.reha-recht.de; 25.04.2023.

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Tietz, Alexander/Falk, Angelice Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts bei akzessorischer Nebenleistung, Anmerkung zu LSG Berlin-Brandenburg vom 16.08.2018 – L 23 SO 358/15; Beitrag A3-2019 unter www.reha-recht.de; 13.02.2019.

Waldenburger, Natalie, Unterstützte Beschäftigung nach § 55 SGB IX – Teil I: Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte von „Supported Employment“; Beitrag A21-2018 unter www.reha-recht.de; 29.10.2018.

Walling, Fabian, Wunschrecht und Mehrkosten in der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenversicherung – Anmerkung zu SG Oldenburg, Urteil vom 13. Januar 2022 – S 63 KR 261/20; Beitrag A13-2022 unter www.reha-recht.de; 28.09.2022.

Weiland, Belinda, Mehr Teilhabe durch das Teilhabestärkungsgesetz? – Budget für Ausbildung, Gute Arbeit 2022, 36–39.

Beitrag von Michael Beyerlein,  LL.M., Universität Kassel

Fußnoten

[1] Rambausek-Haß/Beyerlein, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D28-2018; Fuchs, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A7-2021, S. 2.

[2] Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2019 (Hrsg.), Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess, § 36 Abs. 2.

[3] Mattern/Peters/Rambausek-Haß, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D5-2023, S. 1–2.

[4] Z. B. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder Leistungen zur sozialen Teilhabe (siehe § 5 SGB IX).

[5] Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, Teilhabeverfahrensbericht 2022, S. 140.

[6] Vgl. https://www.reha-recht.de/zip-natar.

[7] Tietz/Falk, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A3-2019; Walling, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A13-2022.

[8] Z. B. der ICF-Praxisleitfaden „Zugang zur Rehabilitation“ der BAR. Auch die für die Praxis sehr bedeutsame Gemeinsame Empfehlung „Reha-Prozess“ konkretisiert die Anwendung des Wechselmodells weiter.

[9] Jahn, Soziale Psychiatrie 2023.

[10] Nebe, Soziales Recht 2019.

[11] Grundlegend zu den Budgets für Arbeit und Ausbildung: Mattern/Rambausek-Haß/Wansing, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D9-2021; Schaumberg, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A8-2018; Gast-Schimank, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D18-2019; Weiland, Gute Arbeit 2022; Gast-Schimank, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D18-2019.

[12] Vgl. bereits Nebe, RP-Reha 2020.

[13] Siehe dazu Waldenburger, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A21-2018.

[14] Vgl. bspw. Jahn, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D17-2020.

[15] Siehe dazu Jordan/Wansing, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag D32-2016.

[16] Dazu Beyerlein, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A16-2022.

[17] Empowerment zielt darauf ab, Menschen zu befähigen, mittels Nutzung der eigenen personalen und sozialen Ressourcen, ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten. Siehe Brandes/Stark in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden; Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Handbuch Empowerment.

[18] Vgl. dazu Sellnick, Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht, Beitrag A11-2022.


Stichwörter:

Bedarfsermittlung, Wunsch- und Wahlrecht, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Bundesteilhabegesetz (BTHG), ICF, Begutachtung, Teilhabeplan


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