03.05.2018 D: Konzepte und Politik Liebsch: Beitrag D12-2018

Tagungsbericht zum 35. Internationalen Kongress für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – Teil 2: Schwerbehindertenvertretung und Prävention

Vom 17. bis zum 20. Oktober 2017 veranstaltete die Bundesarbeitsgemeinschaft für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (Basi) e.V. in Düsseldorf den 35. Internationalen Kongress für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. In seiner Kontinuität bietet der Kongress für alle Akteure des Arbeitsschutzes eine geeignete Möglichkeit, sich über die Themen Sicherheit, Gesundheit und Arbeitsgestaltung auszutauschen und sich sowohl über praktische als auch rechtliche aktuelle Entwicklungen zu informieren. Eine tagesumfassende Veranstaltung am 19. Oktober 2017 widmete sich dem Thema „Schwerbehindertenvertretung und Prävention – Inklusion und Teilhabe im Arbeitsleben“ unter der Federführung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Hiervon berichtet der Autor Matthias Liebsch im zweiten Teil des Tagungsberichts.    

(Zitiervorschlag: Liebsch: Tagungsbericht zum 35. Internationalen Kongress für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Teil 2: Schwerbehindertenvertretung und Prävention; Beitrag D12-2018 unter www.reha-recht.de; 03.05.2018)

I. Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben

Unter Federführung der DGUV erfolgte am 19. Oktober 2017 der Dialog von Inklusions- und Präventionsakteuren. Die SBV und ihre zentrale Rolle für die Wahrnehmung der Interessen von behinderten Menschen sowie ihr Potential für eine inklusive Arbeitsgestaltung standen im Mittelpunkt der ganztägigen Veranstaltung. Themen wie Barrierefreiheit sowie verschiedene Schnittstellenthemen zwischen Arbeitsschutz und Inklusion bestimmten die Diskussion.

Dr. Friedrich Mehrhoff (DGUV) und Torsten Einstmann (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS) moderierten die Tagesveranstaltung. Einleitend wiesen die Moderatoren darauf hin, dass die Titelwahl zutreffend die präventive Rolle der SBV beschreibe. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) werde sowohl auf Bund- als auch auf Länderebene durch Aktionspläne ausgestaltet.[1] Zudem habe die DGUV sowie auch private Unternehmen zunehmend Aktionspläne erstellt, welche die demographische Entwicklung als auch den aktuellen Fachkräftebedarf als Herausforderung aufnehmen. Um eine sachgerechte Umsetzung der Aktionspläne zu gewährleisten, müssen hierbei betriebliche Akteure wie die Schwerbehindertenvertretung (SBV), der Betriebs- bzw. Personalrat insbesondere Einfluss auf Fragen behinderungsgerechter Beschäftigung, stufenweiser Wiedereingliederung und des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nehmen. Zahlreiche Schnittstellen von Inklusion und Prävention werden durch die Kooperation der SBV mit den Sicherheitsexperten deutlich. Fachkräfte für Arbeitssicherheit sowie Betriebsärzte seien gehalten, mit der SBV zu kooperieren. Die SBV ist eine weltweit einmalige Rechtsinstitution und habe Erfolg, wenn der Arbeitgeber sie umfassend beteilige. Durch die Einführung der seit 30. Dezember 2016 geltenden Unwirksamkeitsklausel gemäß § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX (seit 01.01.2018 § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) habe das BTHG eine erste Antwort auf die von den SBV’en beklagten Umsetzungsdefizite gefunden.

Anschließend referierte Christoph Beyer (Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, BIH) frei über den Leitsatz des BTHG „Nicht ohne uns über uns“: Die SBV als Partizipationsmodell für die Inklusion im Betrieb. Die SBV sei aufgrund ihrer gesetzlichen Konzeption in Vertrauensperson und deren Stellvertreter*innen ein Einzelkämpfer. Durch das BTHG habe sich das Aufgabenfeld der SBV deutlich erweitert. In einer Inklusionsvereinbarung nach § 83 SGB IX (seit 01.01.2018 § 166 SGB IX) müsse das gesamte Unternehmen berücksichtigt werden. Letztlich hänge jedoch sowohl die Umsetzung von Aktionsplänen als auch der Abschluss einer Inklusionsvereinbarung vom Willen des Arbeitgebers ab.[2] Die Unwirksamkeitsklausel nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX verdeutliche, dass die SBV lediglich kraft ihrer Argumente auf den Arbeitgeber einwirken könne. Die SBV sei daher ein „zahnloser Tiger“, welcher jedoch ernst genommen werde müsse. Ferner sei die SBV im Rahmen eines Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX (seit 01.01.2018 § 167 Abs. 1 SGB IX) in besonderem Maße geeignet, bereits bei Gefährdungen des Arbeitsverhältnisses beschäftigungssichernde Maßnahmen zu entwickeln und deren Umsetzung zu begleiten. Die Verpflichtung des Arbeitgebers, die SBV „möglichst frühzeitig“ einzuschalten, müsse ernst genommen werden. Unabhängig von einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses müsse zudem auf jedem Arbeitsplatz eine Gefährdungsbeurteilung nach Maßgabe des § 5 ArbSchG durchgeführt werden. Sofern diese den Arbeitsplatz eines Menschen mit Behinderung oder eines von Behinderung bedrohten Menschen betreffen, sei auf einen inklusiven Ansatz der Gefährdungsbeurteilung zu achten.[3] Bestehende Gefährdungsbeurteilungen seien hierauf regelmäßig zu überprüfen.

Prof. Dr. Katja Nebe (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) widmete sich sodann dem BTHG und der arbeits- und sozialrechtlichen Stellung der SBV. Die Staatenprüfung Deutschlands vom 26./27. März 2015 zum Umsetzungsstand der UN-BRK empfahl der BRD eindringlich die umfassende Entwicklung von Rahmenvorschriften für eine inklusive, umfassende und transparente Beteiligung von Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten; zudem sollen hierfür erforderliche Mittel bereitgestellt werden.[4] Hier setze das BTHG an. Durch das BTHG werde die Selbstbestimmung schwerbehinderter Menschen und deren gleichberechtigte Teilhabe gefördert. Wichtige Hilfestellungen böten hierbei die SBV’en. Die fehlende Beteiligung einer bestehenden SBV könne ein Indiz für eine Benachteiligung wegen Behinderung sein, § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG),[5] so dass Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG bestehe. Von besonderer Bedeutung sei die neu eingeführte Unwirksamkeitsklausel von Kündigungen schwerbehinderter Menschen ohne die Beteiligung der SBV nach § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX.[6] Die Verbotsnorm schütze und stärke somit die Arbeit der SBV’en. Gleichwohl bestünden noch einzelne Schutzlücken, so greife etwa die Unwirksamkeitsklausel nach derzeitiger Ansicht des BAG nicht bei einem Abschluss von Aufhebungsverträgen.[7] Anders als der Betriebsrat habe die SBV kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht. Bei guter Zusammenarbeit von Betriebsrat und SBV könne der Betriebsrat jedoch beispielsweise seine Zustimmung zu einer personellen Einzelmaßnahme gemäß § 99 Abs. 2 BetrVG verweigern, wenn die Beteiligung der SBV nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX umgangen wurde.[8]

Von herausragender Bedeutung sei zudem die Zusammenarbeit der SBV mit den sonstigen Inklusions- und Präventionsakteuren. Gemäß § 99 Abs. 2 SGB IX (seit 01.01.2018 § 182 SGB IX) komme der SBV eine Vermittlerrolle zur Bundesagentur für Arbeit und dem Integrationsamt zu. Diese Rolle müsse aktiv ausgeübt werden. Die Reha-Träger verfügen über eine Vielzahl an sozialrechtlichen Unterstützungsleistungen. Bei der Rechtsanwendung von Anspruchsgrundlagen sei darauf zu achten, dass unbestimmte Rechtsbegriffe immer auch unter Berücksichtigung der UN-BRK auszulegen seien. Nach Art. 2 UN-BRK bedeuten „angemessene Vorkehrungen“ hierbei notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und im Einzelfall erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen und ausüben können. Es bestehe hierbei eine enge Verknüpfung mit dem Antidiskriminierungsrecht.

Hieraufhin erörterte Alfons Adam (Gesamtschwerbehindertenvertretung, GSBV, Daimler) die Kooperation von SBV’en, Arbeitsschutz und BGM. Durch das BTHG sei die Rechtslage für SBV’en deutlich gestärkt worden. Ein enger Zusammenhang bestehe in besonderem Maße zwischen Sicherheitsbeauftragten und der SBV-Arbeit, da beide Experten in Sachen Arbeitsschutz und Gesundheit seien. Wichtig für die Präventions- und Inklusionsarbeit sei ein strukturiertes betriebliches Vorgehen. Hierbei müssen nicht zwingend Aktionspläne entwickelt werden, auch Jahrespläne in Form von Zielvereinbarungen seien zielführend. So könne die Errichtung von Gesundheitszentren oder auch die Abarbeitung der Barrierefreiheit an den einzelnen Arbeitsstandorten effizient organisiert werden. Die SBV müsse aktiv von ihrem beratenden Teilnahmerecht gemäß § 95 Abs. 4 SGB IX an Betriebs- bzw. Personalratssitzungen, deren Ausschüssen sowie des Arbeitsschutzausschusses Gebrauch machen und inklusive sowie präventive Angelegenheiten auf die Tagesordnungen setzen lassen. Die SBV ist ein Experte für Gesundheitsthemen. Sie ist daher auch bei der Planung und Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen nach § 5 ArbSchG einzubeziehen. Die erweiterten Handlungsfelder der SBV erfordern neben Erfahrung auch die Inanspruchnahme möglicher Fortbildungsmaßnahmen. So sei es zweckmäßig, sich als Disability Manager fortbilden zu lassen.

Anschließend präsentierte Kilian Roth (GSBV, Evonik Industries) verschiedene Methoden, Instrumente, Strategien – Praxisbeispiele „SBV und Prävention“. Nach Art. 25 UN-BRK hat die BRD für Menschen mit Behinderungen das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit zu gewährleisten. Hierbei könne die SBV als Experte in Sachen Prävention mitwirken. Die SBV sei übergreifend im gesamten Sozialrecht tätig, so unterstütze sie beispielsweise in Fragen der Erwerbsminderungsrente. Oft sei eine Vertrauensperson oder deren Stellvertreter*innen zugleich auch Betriebsratsmitglied, so dass bereits hierdurch die umfassenden Aufgaben und Ansatzpunkte der SBV-Arbeit auch in das Betriebsratsgremium Eingang finden. Für ein strukturiertes Vorgehen der betrieblichen Inklusions- und Präventionsakteure sei eine Inklusionsvereinbarung unverzichtbar. Insbesondere stellen sich im Zusammenhang mit einer digitalisierten Zugänglichkeit von Informationen sowie der immer schneller werdenden und komplexeren Kommunikation technische Fragen zur Barrierefreiheit. Ein geeigneter Ansprechpartner in Fragen der Barrierefreiheit sei unter anderem die Bundesfachstelle Barrierefreiheit.[9] Hinsichtlich medizinischer Angelegenheiten könne sich die SBV gegebenenfalls über einen werksärztlichen Dienst beraten lassen. Demgegenüber bestünden in der Kommunikation zu den verschiedenen Reha-Trägern oft Unsicherheiten über deren Zuständigkeitsbereiche.

Sodann erörterten Dominik Heydweiller (Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, VBG) und Karin Klopsch (Deutsche Rentenversicherung Bund, DRV) Fragen zur Prävention im Betrieb – Neue Partner finden sich. Am 14. Dezember 2016 vereinbarten DGUV und DRV Bund eine gemeinsame Erklärung über die Unterstützung von Betrieben und Unternehmen im BEM.[10] Ziel der Erklärung sei die Förderung der Zusammenarbeit sowie die Gewährleistung einer Beratung „wie aus einer Hand“. Dabei gelte es, den Grundsatz: „Prävention vor Rehabilitation vor Rente“ zu verwirklichen. Durch das FlexiRentenGesetz[11] seien Reha-Leistungen zu Pflichtleistungen der DRV Bund geworden. Neben der normativen Ebene sei eine gelebte und gute Prävention aber entscheidend vom Willen der Geschäftsführung abhängig. Schnittstellen der Reha-Träger ergeben sich unter anderem im Bereich der individuellen BEM-Planung/Gestaltung, der Gewährung von Präventionsleistungen sowie in Fragen der Unternehmensführung und Unternehmenskultur. VBG und DRV Bund begutachten in den Betrieben daher gemeinsam den jeweiligen Handlungsbedarf und teilen sich sodann notwendige Aufgaben auf. Hierzu bedürfe es einer eingehenden Qualifizierung auch der eigenen Beschäftigten. Ein internes Argumentationspapier könne eine geeignete Grundlage für Betriebsbegehungen sein. Zudem könne durch Kooperationsstrategien unter den Reha-Trägern eine effektive Lotsenfunktion der Aufsichtspersonen bei der Betriebsberatung gewährleistet werden.

In einer anschließenden Podiumsdiskussion wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich sowohl inner- als auch außerbetriebliche Strukturprozesse in besonderem Maße eignen, um langfristige Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) erforsche in diesem Zusammenhang mögliche Chancen eines überbetrieblichen Tätigkeitswechsels.[12] Ferner haben Unternehmen die Möglichkeit, verschiedene außerbetriebliche Beratungsstellen zur Unterstützung zu konsultierten. Nach § 20b Abs. 3 SGB V können Unternehmen von Krankenkassen über gemeinsame regionale Koordinierungsstellen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung beraten und unterstützt werden. Ferner seien die zum 01.01.2018 neu einzurichtenden Ansprechstellen aktiv zu nutzen, wonach Unternehmen von den jeweiligen Reha-Trägern über mögliche Reha-Leistungen informiert werden können. Ebenso könne gemäß § 99 Abs. 2 SGB IX (seit 01.01.2018 § 182 Abs. 2 SGB IX) das Integrationsamt hinzugezogen werden. Das Integrationsamt sei zugleich Leistungsträger als auch Leistungserbringer.

II. Barrierefreiheit: Grundlagen, Praxis, Perspektiven

Nach einer Mittagspause referierte Werner Sterk (Kommission Arbeitsschutz und Normung, KAN) zum Verhältnis Inklusion trifft „Normenmensch“. Sein Referat konzentrierte sich auf die Frage, inwieweit sicherheitstechnische Aspekte dazu führen können, dass Menschen mit Behinderungen von der Anwendung von Betriebsmitteln ausgeschlossen werden. Im Wege eines Ausgleichs müsse beim Entwurf von Betriebsmitteln auch die Selbstbestimmung behinderter Menschen berücksichtigt werden. Demgegenüber werde oft vom Normenmenschen ausgegangen und nicht auf mögliche Individualitäten eingegangen. Denn eine individuelle Normung bedeute für Hersteller eine große Herausforderung, die es jedoch zu handhaben gelte. Bereits Normungsgremien müssten in diesem Zusammenhang sensibilisiert werden. Beispielsweise könnten Produkte für einzelfallgerechte Fähigkeitsprofile entwickelt und genormt werden. Ein ernst genommenes Inklusionsverständnis verlange, dass jeder benachteiligende Zwischenschritt bei der Verwendung eines Produktes – beispielsweise eines Arbeitscomputers von dessen Einschaltung bis zur Bearbeitung von Texten oder auch ein behinderungsgerechter Flugzeugzustieg von der Sicherheitskontrolle bis zur Flugzeugtreppe – bedacht werde.

Martha Rutkowski und Dr. Volker Sieger (beide Bundesfachstelle Barrierefreiheit) widmeten sich anschließend den Chancen der Digitalisierung für die Inklusion in der Arbeitswelt. Hauptaufgabe der Bundesfachstelle Barrierefreiheit sei die Beratung von Behörden und innerbetrieblichen Akteuren, so auch der SBV. Die Digitalisierung biete zum einen Chancen zur Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstverantwortung behinderter Menschen, zum anderen bestünden zugleich auch Risiken, Befürchtungen und Ängste zunehmender Ausgrenzung. Eine ständige Erreichbarkeit, Probleme des Datenschutzes und auch die Rationalisierung von Arbeitsprozessen gefährden die Arbeitsplatzsicherung. Es müssten Konzepte ausgearbeitet werden, um die Chancen für das Arbeitsleben umsetzen. In der Arbeitswelt 4.0 werde derzeit der Inklusionsgedanke nicht hinreichend gelebt, obgleich Chancen und Potentiale vorhanden seien. Bereits das Aktion Mensch-Inklusionsbarometer 2016[13] zeige, dass Beschäftigte in Zeiten der Digitalisierung zunehmend als Kreativlöser gefragt seien, da es nunmehr zunächst um die Anwendung von Wissen gehe. Hinsichtlich der Arbeitsplatzanpassung müssen hierbei frühzeitig die Interessenvertretungen beteiligt werden.

Hieraufhin informierte Andres Voigt (Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin) über die barrierefreie Arbeitsgestaltung von Arbeitsstätten anhand der Arbeitsstättenregel ASR V3a.2. Die ASR V3a.2 konkretisiere die Norm des § 3a Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), welche neben dem Bauordnungsrecht, den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder (BGG Bund/Länder) sowie neben dem SGB IX die entscheidende Rechtsgrundlage für die Gewährleistung barrierefreier Arbeitsstättengestaltung darstelle. Der Ausschuss für Arbeitsstätten (ASTA) habe den Handlungsauftrag, alle bereits bestehenden ASR um das Tatbestandsmerkmall der Barrierefreiheit zu ergänzen und es in neue ASR einzupflegen. So müsse etwa die ASR A4.1 zu Sanitärräumen nachgebessert werden. Es müsse beispielhaft eine Sensorik installiert werden, die es allen körperbehinderten Beschäftigten ermögliche, zu spülen. Argumente des Bestandsschutzes seien insoweit nachrangig. Jeder ASR müsse ein gesteigertes Bewusstsein für Inklusion vorausgehen. Hierfür seien Fragen der Inklusion wahrnehmbar zu machen. SBV’en sollten Betriebsärzte, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, BG’en sowie Arbeitsschutzbehörden als Ansprechpartner bzw. Beschwerdestellen aktiv nutzen.

Maynhard Schwarz (Schwarz Brandschutz, Brandinspektor) erläuterte sodann Möglichkeiten barrierefreier Rettungswege/Brandschutz- und Evakuierungskonzepte. Anknüpfend an seinen Vorredner griff er die ASR V3a.2 auf. Bedienelemente von Türen und Toren – beispielsweise Türgriffe, Schalter, Kartenleser – müssen für Menschen mit Behinderung wahrnehmbar, erkennbar, erreichbar sowie letztlich nutzbar gestaltet sein. So müsse insbesondere die Ausschilderung von Brandschutztüren und Sicherheitsaufzügen inklusiv gestaltet werden, um im Brandfall reagieren zu können. Eine praktische Kollision entstehe, wenn Aufzüge im Brandfall abgeschaltet werden sollen und körperbehinderte Menschen sodann auf die Nutzung von Treppen verwiesen würden. Somit sei es äußerst wichtig, bereits bei der Gestaltung/Planung von Sicherheitsaufzügen inklusiv anzusetzen.

Daraufhin stellte Daniel Gruyters (VBG) den Leitfaden „Barrierefreie Arbeitsgestaltung“, Teil 2: Grundsätzliche Anforderungen vor[14], welcher von der DGUV als Praxishilfe erstellt wurde. Der Leitfaden sei Teil der DGUV Information 215-111. Zu empfehlende Prinzipien einer barrierefreien Arbeitsplatzgestaltung seien eine inklusive visuelle, auditive sowie taktile Gestaltung. Für die Unternehmenspraxis, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen, könne hierbei auf eine Checkliste zurückgegriffen werden.[15]

Martin Bsdurek (SBV Stadtverwaltung Bochum) und Wolfgang Trappe (SBV DGUV) stellten sodann praktische Instrumente, Produkte und Beispiele einer barrierefreien Arbeitsgestaltung vor. So seien etwa automatische Schiebetüren inklusiver als Drehtüren und sollten diese daher ersetzen. Ferner könne einer Sehbehinderung mittels Braille-Punkt-Schrift entgegnet werden, wobei hier auch sonstige vielfältige Ansätze für eine inklusive Gestaltung denkbar seien (bspw. Computer-Headsets). Nicht nur einen inklusiven, sondern auch einen präventiven Ansatz verfolge zudem die Verwendung von höhenverstellbaren Servicetheken und Schreibtischen. Diese dienten zum einen der Gesundheitsförderung als auch der Gestaltung eines geeigneteren Arbeitsplatzes für körperbehinderte Menschen. In dieser Schnittstelle sei die präventive Gestaltung eines inklusiven Arbeitsplatzes für den Arbeitgeber wesentlich kostengünstiger als eine nachträgliche Umgestaltung. Zudem diene sie dem Gesundheitserhalt der Beschäftigten.

In einer thematisch abschließenden Podiumsdiskussion zwischen Martin Bsdurek, Michael Kloth (Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit, VDS), Oliver Fröhlke (BEM Beauftragter DGUV) und Dr. Annette Wahl-Wachendorf (leitende Ärztin Arbeitsmedizinisch-Sicherheitstechnischer Dienst, ASD, der BG Bau) wurden Fragen zum Arbeitsschutz, BEM, Barrierefreiheit – Probleme und Chancen der Kooperation erörtert. Fröhlke erläuterte aus Sicht eines BEM Beauftragten, dass diese zwar keine Fachleute, wohl aber Lotsen in Sachen Prävention und Inklusion seien. Um diese Aufgaben effektiv zu gestalten, benötigen BEM Beauftragte zum einen finanzielle Unterstützung, zum anderen sei aber auch eine enge Zusammenarbeit mit Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit erforderlich. Möglichkeiten eines kollektiven Zusammenwirkens könnten insbesondere Steuerungskreise sein. Wahl-Wachendorf gab hierbei zu Bedenken, dass Betriebsärzte der Schweigepflicht unterlägen. Folglich erfordere die Wahrnehmung ihrer Beratungsfunktion gegenüber den sonstigen Akteuren der Prävention und Inklusion ein erhöhtes Maß an Vertrauen. Kloth meinte in diesem Zusammenhang, dass Inklusionsvereinbarungen geeignet wären, um standardisierte Lösungen der Zusammenarbeit zu regeln, welche zugleich unternehmensspezifisch seien. Ebenso müsse die Gefährdungsbeurteilung aktiv genutzt werden. Diese müsse individuell für jeden Arbeitsplatz geführt werden. Eine voreilige Annahme, es lägen gleichwertige Tätigkeiten vor, so dass die Gefährdungsbeurteilung sich erübrige, widerspräche einem individualisierten Arbeitsschutz.

Als Schlusswort gab Dr. Friedrich Mehrhoff den Teilnehmer*innen mit, dass die Zusammenarbeit in Fragen der Prävention und Teilhabe eine Gemeinschaftsaufgabe sei. Die UN-BRK verpflichte alle Akteure gemeinsam auf die individuellen Bedürfnisse von behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen Antworten zu finden und Lösungen umzusetzen. Dies gelte im Übrigen auch für die Sozialversicherungsträger.

Beitrag von Ass. iur. Matthias Liebsch, Zentrum für Sozialforschung Halle (ZSH) 

Fußnoten

 

[1] Siehe zum Nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung, verabschiedet am 28.06.2016: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/inklusion-nationaler-aktionsplan-2.pdf;jsessionid=CD0A30C412FC8D5DB33B9C1CE7BD0B79?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[2] Anmerkung des Autors: Nach § 83 Abs. 1 Satz 2 SGB IX (seit 01.01.2018 § 166 Abs. 1 Satz 2 SGB IX) hat die SBV keinen Anspruch auf Abschluss einer Inklusionsvereinbarung, sondern lediglich einen Verhandlungsanspruch. Hierzu Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen), Beschluss vom 19.01.2007 – 13 TaBV 58/06.

[3] Eine Handlungshilfe gibt hier die „Inkludierte Gefährdungsbeurteilung“ des LVR-Integrationsamtes, abrufbar unter http://publi.lvr.de/publi/PDF/813-17_2244-Inkludierte-Gef%C3%A4hrdungsbeurteilung-inhalt_internet.pdf, zuletzt abgerufen am 03.05.2018. Vertiefend Brausch, Gefährdungen inklusiv beurteilen, Gute Arbeit 10/2017, S. 36 ff.

[4] Vereinte Nationen CRPD, Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, III. Nr. 10; abrufbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-Dokumente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands_ENTWURF.pdf, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[5] Hierzu bereits Porsche: Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung schon vor der Stellenausschreibung? – Anmerkung zu LAG Mainz, Beschluss vom 28.06.2012 – 10 TaBV 4/12; Forum B, Beitrag B1-2013 unter www.reha-recht.de; 20.02.2013.

[6] Hierzu Kohte/Liebsch, Die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung nach dem BTHG zwischen Programm und Realität, RP-Reha 2/2017, S. 14 ff.; Kohte, jurisPR-ArbR 3/2017 Anm. 2.

[7] Hierzu Kohte/Liebsch: Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung bei Abschluss eines Aufhebungsvertrags – Anmerkung zu BAG, Beschluss v. 14.03.2012 – 7 ABR 67/10; Beitrag B7-2016 unter www.reha-recht.de; 03.11.2016.

[8] Porsche: Zustimmungsverweigerungsrecht des Betriebsrats wegen Nichtanhörung der Schwerbehindertenvertretung bei Versetzung einer gleichgestellten Arbeitnehmerin – Anmerkung zu LArbG Mainz, Beschl. v. 5.10.2011 – 8 TaBV 9/11; Forum B, Beitrag B8-2012 unter www.reha-recht.de; 22.08.2012.

[9] Internetauftritt abrufbar unter: https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Home/home_node.html, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[10] Abrufbar unter: http://www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Infothek/Betriebe_und_Interessenvertretungen/2016/DGUV-DRV_Bund_-_gemeinsame_Erklaerung.pdf, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[11] Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz) vom 8.12.2016, BGBl. I S. 2838 ff.

[12] Siehe zu weiteren Informationen zum Projekt TErrA http://taetigkeitswechsel.de/, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[13] Download zum Inklusionsbarometer 2017 abrufbar unter https://www.aktion-mensch.de/inklusionsbarometer.html, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[14] Download abrufbar unter: http://publikationen.dguv.de/dguv/pdf/10002/215-112.pdf, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.

[15] Abrufbar unter: http://www.vbg.de/SharedDocs/Medien-Center/DE/Broschuere/Themen/Arbeitsstaetten_gestalten/Barrierefreie_Gestaltung_von_Arbeitsplaetzen.pdf?__blob=publicationFile&v=7, zuletzt abgerufen am 03.05.2018.


Stichwörter:

Inklusion, Prävention, Schwerbehindertenvertretung (SBV), Arbeitsschutz, BEM, Barrierefreiheit, Inklusionsvereinbarung


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