17.08.2020 D: Konzepte und Politik Grupp/Hahn: Beitrag D19-2020

Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise: Expertinnen und Experten beantworten aktuelle Fragen online – Teil I – Zusammenfassung der Diskussion im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (7. April bis 3. Mai 2020)

Im vorliegenden Beitrag fassen die Autorinnen die von der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) mit ihren wissenschaftlichen Kooperationspartnern vom 7. April bis 3. Mai 2020 veranstaltete interaktive Online-Diskussion „Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise: Expertinnen und Experten beantworten aktuelle Fragen online“ zusammen. Teil I befasst sich mit grundlegenden Fragen der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben im Kontext der Corona-Pandemie. Dabei stellt die Rolle der digitalen Kommunikation einen besonderen Schwerpunkt dar. Auch die Beantragung von Rehabilitationsleistungen unter erschwerten Bedingungen wird diskutiert.

(Zitiervorschlag: Grupp, Hahn: Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise: Expertinnen und Experten beantworten aktuelle Fragen online – Zusammenfassung der Diskussion im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ – Teil I (7. April bis 3. Mai 2020); Beitrag D19-2020 unter www.reha-recht.de; 17.08.2020)

Deutschland im April 2020: Das Robert Koch-Institut schätzte die Gefahr durch das neue Coronavirus (SARS-CoV-2) für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt als hoch ein, für Risikogruppen[1] als sehr hoch. Viele Menschen mit Behinderungen waren wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe gezwungen, Kontakte im Berufs- wie im Privatleben drastisch zu reduzieren. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen agierten maximal im Notbetrieb; wo möglich, arbeiteten Beschäftigte im Homeoffice. Aufgrund der Unsicherheiten in dieser Zeit und den damit verbundenen Fragen von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen, ihren Arbeitgebern, Einrichtungen und Interessenvertretungen veranstaltete die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) mit ihren wissenschaftlichen Kooperationspartnern vom 7. April bis 3. Mai 2020 die interaktive Online-Diskussion „Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise: Expertinnen und Experten beantworten aktuelle Fragen online“.

Folgende Fachleute begleiteten den Austausch mit ihrer Expertise:

  • Janina Bessenich, Geschäftsführerin und Justiziarin beim CBP – Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.
  • Jenny Biessmann, aktiv und selbstbestimmt e. V. (akse)
  • Prof. Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter a. D. am Bundesarbeitsgericht und Honorarprofessor an der Universität Konstanz
  • Dr. Eberhard Kiesche, AoB Bremen - Arbeitnehmerorientierte Beratung Bremen
  • Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Forschungsdirektor Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. (ZSH), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
  • Dr. Hans-Günther Ritz, Sozialrechtler und Soziologe, ehem. Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration
  • Dr. Martin Theben, Rechtsanwalt, Berlin

Zum Start der Online-Diskussion am 7. April hatten die Maßnahmen zur Eingrenzung des neuartigen Coronavirus die Arbeitswelt bereits massiv geprägt. Insbesondere Beschäftigte mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen sahen sich durch die Ausbreitung des Erregers bedroht und suchten mit ihren Arbeitgebern Wege der Kontaktvermeidung. Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)[2] verpflichtet Arbeitgeber, Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz zu beurteilen und über notwendige Schutzmaßnahmen zu entscheiden.

„Für Menschen mit Behinderungen ist es besonders wichtig, dass der Arbeitgeber die Pflichten erfüllt. Sie können zu den besonders schutzbedürftigen Beschäftigtengruppen nach § 4 Nr. 6 ArbSchG zählen, z. B. als Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder mit bestimmten Vorerkrankungen.“ (Dr. Eberhard Kiesche)

In diesem Zusammenhang stellte sich zu Anfang der Diskussion u. a. die Frage, welche Personen einer Risikogruppe zuzurechnen seien. In den meisten Betrieben, hieß es aus dem Kreis der Expertinnen und Experten, werde Bezug genommen auf die Risiko­gruppenbeschreibung auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts[3]. Das sei ein sinnvoller Einstieg, der die Bestimmung der Risikogruppen erleichtere. Aber diese Beschreibung sei nicht abschließend. Gerade bei psychischen Beeinträchtigungen könne eine Pandemie zu weiteren Problemen führen. In diesen Fällen wurde empfohlen, eine auf diesem Gebiet erfahrenen Fachkraft hinzuzuziehen, die bescheinigen könne, dass eine Erkrankung vorliege, die einer Risikogruppe gleichzustellen sei.

„Arbeitgeber sind verpflichtet, auf die Situation von ‚Risikogruppen‘ Rücksicht zu nehmen (§ 4 Nr. 6 ArbSchG). Dies ist keine ‚Großzügigkeit‘, sondern eine Rechtspflicht, die auch in den Arbeitsschutzstandards des BMAS angesprochen worden ist.“ (Prof. Wolfhard Kohte)

Bereits bei der Einstellung von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, die einer Risikogruppe angehören, waren Arbeitgeber in besonderer Weise gefordert. Stellenbewerberinnen und -bewerbern könne eine Anreise für ein Bewerbungsgespräch in Corona-Zeiten nicht zugemutet werden, wenn sie zu einer Risikogruppe gehören. Natürlich müsste man in der jetzigen Situation zuerst prüfen, ob eine Videokonferenz oder eine Skype-Kommunikation möglich seien, wurde dazu ausgeführt.

Nicht nur in der inklusiven Arbeitswelt erlebte die digitale Kommunikation in der Corona-Krise einen erheblichen Aufschwung. In der jetzigen Situation seien die Unternehmen im Vorteil, in denen bereits durch Betriebsvereinbarung die Nutzung des Homeoffice geregelt sei, so der Arbeitsrechtler Prof. Wolfhard Kohte. In den letzten Wochen hätten darüber hinaus einige Unternehmen und Dienststellen zusammen mit Schwerbehinder­tenvertretungen (SBV), Betriebs- und Personalräten vereinbart, dass Personen mit einer ärztlichen Bescheinigung (ohne Diagnose) ebenfalls das Recht auf die Arbeit im Homeoffice erhalten.

Die Diskussion zeigte aber auch, dass für den kurzfristigen Rückgriff auf digitale Alternativen bzw. das Arbeiten im geschützten heimischen Umfeld mitunter geeignete Voraussetzungen fehlten. Eine Nutzerin bzw. ein Nutzer erkundigte sich, was geschehe, wenn sich Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer mit Hochrisiko als Zwischenlösung krankschreiben ließen, weil der Arbeitgeber ihnen keinen Schutz gewähren könne, aber das Problem über die möglichen sechs Wochen (der Krankschreibung) hinaus bestehen bleibe.

Arbeitsunfähigkeit kann mehr als sechs Wochen dauern, nur die Entgeltfortzahlung ist auf sechs Wochen beschränkt. Danach hat die Krankenkasse Krankengeld zu leisten, wenn der entsprechende Versicherungsstatus vorliegt. Eine Zwangsbeurlaubung unter Anrechnung auf regulären Urlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubsgesetz sah ein Experte kritisch, da es nicht um ein Erholungsbedürfnis des Arbeitnehmers gehe. Entweder stelle der Arbeitgeber frei, biete Homeoffice an oder er wäre (grundsätzlich) zu krankheitsbedingter Kündigung berechtigt, müsse aber in der Regel vorher ein Verfahren des Betrieblichen Eingliede­rungsmanagements (BEM) anbieten, so dass kurzfristige Kündigungen in der Pandemie ausscheiden.

Auch über Arbeitsschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz selbst diskutierten die Teilnehmenden, insbesondere über die Beschaffung und Beschaffenheit von Mund-Nasen-Schutz, den sogenannten Masken. Diese galten zum Diskussionszeitpunkt als Mangelware und brachten zudem Kommunikationsprobleme für Menschen mit Hör­beeinträchtigung mit sich, weil sie das Verstehen bei verdecktem Mundbild erschweren.

„Aus meinem Beratungsalltag weiß ich das viele Menschen mit Hörbehinderung aktuell schon selbst kreativ werden und im Arbeitsumfeld und Privatleben durchsichtige Masken verteilen, um weiterhin am Arbeits- und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.“ (Jenny Biessmann)

Es wurde in diesem Kontext auf eine Pressemitteilung des Deutschen Gehörlosen-Bundes (DGB)[4] aufmerksam gemacht: Für wichtige Gespräche forderte der Deutsche Gehörlosen-Bund Dolmetscherinnen bzw. Dolmetscher für Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Deutsch über den Vermittlungsdienst Tess oder über Videotelefonie bzw. Webcam, mit iPad, Smartphone oder Laptop einzubeziehen.

Die Corona-Pandemie legte bundesweit Lücken in der Ausstattung und Erfahrung mit digitalen Medien offen. Für Menschen mit Behinderungen oder chronischer Erkrankung bedeutete dies nicht nur erschwerte Bedingungen im Arbeitsleben, sondern auch bei der Beantragung von Leistungen bzw. im Rahmen der Bedarfsfeststellung.

Nach § 20 SGB IX kann der für die Durchführung des Teilhabeplanverfahrens nach § 19 SGB IX verantwortliche Rehabilitationsträger mit Zustimmung der/des Leistungs-berechtigten zur gemeinsamen Beratung eine Teilhabeplankonferenz durchführen. Grundsätzlich, so Dr. Martin Theben, könnten Teilhabeplankonferenzen natürlich auch als Videokonferenzen durchgeführt werden. Ob ein Rechtsanspruch darauf bestehe, sei in der Rechtsprechung noch nicht geklärt.

„Ich wäre da skeptisch, ob wir zeitnah noch Teilhabeplankonferenzen als Videokonferenzen erleben werden. Diese Teilhabekonferenzen ohne Video sind heute bereits sehr selten.“ (Dr. Hans-Günther Ritz)

Die Diskussion zeigte, dass es bei Betroffenen, aber auch einzelnen Rehabilitationsträgern noch große Unsicherheiten über die Realisierung von Teilhabeplankonferenzen gab. Fehlt es an der nötigen Kommunikation zwischen den Trägern und mit der leistungsberechtigten Person, kann daraus ein Fehler in der Bedarfsfeststellung und in der Leistungsentscheidung entstehen. Die Amtsermittlung, auch unter schwierigen Bedingungen, ist Aufgabe des Rehabilitationsträgers. Ihr Fehlen kann den Leistungsanspruch nicht schmälern.

Zugleich wurde auf das Vertragsrecht bei Leistungsvereinbarungen zwischen Leistungs­träger (Träger der Eingliederungshilfe) und Leistungserbringer Bezug genommen. Eine Änderung könne auch bei unvorhergesehenen Situationen wie der Corona-Krise nicht einseitig verfügt werden, sondern nach § 127 Abs. 3 SGB IX nur durch Neuverhandlung erfolgen. Solange es keine neue Vereinbarung gebe, gelte die bisherige Leistungs­vereinbarung. Auch zwischen Rehabilitationsträgern und Leistungsberechtigten könne eine einseitige Absenkung nicht erfolgen – unabhängig davon, dass die Betroffenen in der jetzigen Situation nicht weniger, sondern mehr Hilfe benötigten.

Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat der Gesetzgeber in § 67 SGB II[5] vorübergehend neu geregelt. In der Diskussion spielte die Neuregelung insbesondere als Grundlage einer notwendigen „Zwischenfinanzierung“ für ausstehende Renten­ansprüche eine Rolle. Es sei ein Ärgernis, dass die Antragsbearbeitung bei Erwerbsminderungsrenten in einigen Fällen sehr lange dauere, befand Prof. Wolfhard Kohte. In der Zwischenzeit erhielten die meisten, die einen solchen Antrag stellen, Krankengeld von der Krankenkasse oder Arbeitslosen­geld von der Bundesagentur für Arbeit – beides befristet. Nach Ablauf der Frist könne das Arbeitslosengeld II nach dem SGB II beim Jobcenter beantragt werden. Dieser Antrag sei durch den neuen § 67 SGB II deutlich erleichtert worden:

„… die Zeiten haben sich geändert. Für die nächsten 6 Monate gibt es Leistungen zum Lebensunterhalt nach der neuen Norm des § 67 SGB II (BGBl I 2020, S. 575 – im Netz unter bgbl.de) für fast alle ohne Vermögensprüfung.“ (Prof. Wolfhard Kohte)

Es sei erforderlich beim Antrag zu erklären, dass man „kein erhebliches Vermögen“ habe. Das Jobcenter wende die Vermögensgrenze des Wohngeldrechts an (Barvermögen von 60.000 Euro). Außerdem würden die tatsächlich gezahlten Miet- und Heizkosten als „angemessen“ eingestuft. – Die vorübergehende Neuregelung gelte unter der Bedingung, dass die weiteren Voraussetzungen des § 56 Infektions­schutzgesetz (IfSG) i. V. m. § 2 IfSG gegeben seien.

Beitrag von M.A. Livia Grupp und M.A. Nikola Hahn, Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V., Heidelberg

Fußnoten

[1] Risikogruppen für schwere Verläufe, vgl. Robert Koch-Institut: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 2. Krankheitsverlauf und demografische Einflüsse, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2; zuletzt abgerufen am 11.05.2020.

[2] Vgl. Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (ArbSchG) unter https://www.gesetze-im-internet.de/arbschg/, zuletzt abgerufen am 28.05.2020.

[3] Vgl. Robert Koch-Institut: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), 2. Krankheitsverlauf und demografische Einflüsse, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2; zuletzt abgerufen am 11.05.2020.

[4] Vgl. DGB-Pressemitteilung 03/2020 unter http://www.gehoerlosen-bund.de/coronavirus/dgb-stellungsnahme, zuletzt abgerufen am 28.05.2020.

[5] Vgl. § 67 SGB II – Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2; Verordnungsermächtigung unter https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/__67.html, zuletzt abgerufen am 13.08.2020.


Stichwörter:

Diskussionszusammenfassung, Erwerbsminderungsrente, Arbeitsunfähigkeit, Teilhabeplankonferenz, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Digitalisierung, Corona (SARS-CoV-2)


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