I. Kooperations- und Interaktionsprobleme
Die Vielzahl der in Deutschland auf dem Gebiet der Arbeitsteilhabe tätigen Akteure führt zu Kooperations-, Schnittstellen- und Interaktionsproblemen. Auf Bundes- und Landesebene arbeiten Sozialversicherung, staatliche und Kommunalbehörden auf verschiedene Weise. Sie müssen Zuständigkeiten an den Schnittstellen abstimmen und sie müssen gut mit Arbeitgebern, Beschäftigten und Behindertenvertretern zusammenarbeiten und interagieren.
Insbesondere ist keine klare Zuständigkeit für die Arbeitgeberförderung in dem Fall vorgesehen, dass der kranke oder behinderte Beschäftigte nicht als schwerbehindert anerkannt wird. Im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind nunmehr alle öffentlichen Rehabilitationsträger verpflichtet, Anlaufstellen für Arbeitgeber zu haben.
Auf medizinischem Gebiet arbeiten die die Arbeitsunfähigkeit feststellenden Hausärzte, die für die Arbeitsplätze zuständigen Arbeitsmediziner und die von den Wohnorten und Arbeitsplätzen meist weit entfernten Rehabilitationsfachkräfte nicht planmäßig zusammen.[1]
Gesetzesreformen 1974, 2001 und 2016 versuchten der mangelnden Kooperation entgegenzuwirken. 2001 versuchte eine Reform, gemeinsame Servicestellen für alle öffentlichen Träger auf kommunaler Ebene einzurichten.[2] Die Gesetzesreform 2016 ließ dieses Konzept fallen, weil sich öffentliche Stellen nicht darangehalten haben. Nunmehr wird versucht, Kooperationsprobleme durch individuelle Teilhabepläne zu überwinden (§ 19 SGB IX).
II. Reform der Ansätze zur Teilhabe
Teilhabe könnte der Schlüssel zu einer besseren Kooperation und höheren Effizienz des deutschen Systems der Prävention von Arbeitsbeeinträchtigung[3] und der Rehabilitation darstellen. Rehabilitation wird nunmehr Leistungen zur Teilhabe genannt, berufliche Rehabilitation wird nunmehr Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben39 und Rehabilitationspläne werden nunmehr Teilhabepläne genannt. Die Bedeutung dieser neuen Begriffe kann im weiteren Sinne der Definition der Teilhabe der ICF (als „Eingebundensein in eine Lebenssituation“)[4] verstanden werden und manchmal im Sinne einer Teilhabe an Verfahren und Politik,[5] wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) betont wird.
Auf individueller Ebene bezwecken die seit 2018 verpflichtenden Teilhabepläne durch die Beteiligung der behinderten Personen an ihren eigenen Teilhabeplankonferenzen[6] das Zusammenbringen verschiedener Akteure und eine teilhabeorientierte Fallbetreuung. Ein Teilhabeplan ist in jedem Fall aufzustellen, wenn zwei staatliche Rehabilitationsträger beteiligt sind (z. B. Renten- und Krankenversicherung) oder wenn zwei Arten von Leistungen gewährt werden (z. B. medizinische und berufliche Rehabilitation). Findet zudem die übliche medizinische Behandlung statt, sollte fast jeder Fall einer Teilhabeplanung unterliegen. Der Plan ersetzt nicht die Entscheidungen der verschiedenen Träger, sollte aber eine gemeinsame Basis für die Entscheidungen der Träger schaffen. Ein Teilhabeplan muss auch erstellt werden, wenn die versicherte Person dies wünscht.
Obwohl noch keine gesetzliche Verpflichtung zur Beteiligung von Arbeitgebern, Betriebsräten, gewählten Schwerbehindertenvertretern, Hausärzten, Arbeitsmedizinern oder Spezialisten bei der Erstellung eines Teilhabeplans einer Person besteht, könnten solche Ergänzungen von den Rehabilitationsträgern eingefordert werden, die gesetzlich zur Einbeziehung dieser Akteure in den Rehabilitationsprozess beauftragt sind.
Auf Unternehmensebene haben die neuesten Reformen der Verpflichtung zur Wahl von Schwerbehindertenvertretern, zur Förderung von barrierefreien, inklusiven Arbeitsplätzen und zur Stärkung von Unternehmensplänen und -prozessen zum Umgang mit Behinderungen und Langzeiterkrankung Nachdruck verliehen. Die gewählten Vertreter müssen zu allen schwerbehinderte Arbeitnehmer einzeln oder insgesamt betreffende Fragen gehört werden und seit 2017 können schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht mehr gekündigt werden, wenn die Schwerbehindertenvertretung nicht angehört wurde (§ 178 SGB IX). Der Arbeitgeber ist zur Unterstützung der Schwerbehindertenvertretung und zur Zahlung der Büro- und Schulungskosten verpflichtet und diese ist berechtigt, ihrer Arbeit während der Arbeitszeit nachzugehen. Dieser teilhabeorientierte Ansatz erfährt im Arbeitsrecht[7] sowie bei Arbeitgebern und Gewerkschaften immer größere Akzeptanz.
Innerhalb der staatlichen Träger (z. B. der Unfallversicherungsträger) entwirft die jeweilige Verwaltung, unter Beteiligung von Behindertenorganisationen, Aktionspläne, die der UN-BRK entsprechen, um barrierefreier und teilhabeorientierter zu werden.[8] Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation[9] wurde beauftragt, Teilhabe durch Beteiligung der Behindertenverbände an der konzeptionellen Arbeit der Arbeitsgemeinschaft und durch die Schaffung gemeinsamer Empfehlungen für die Rehabilitationsträger zu fördern.
Auf politischer Ebene waren Behindertenverbände an den neuesten Gesetzesreformen beteiligt. Ihre Lobbyarbeit erreichte fasst den gleichen Einfluss wie der traditioneller Akteure, insbesondere Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Allerdings sind viele Behindertenverbände in dem konkreten Bereich des Arbeitslebens nicht besonders engagiert oder befassen sich nur mit einem Gesichtspunkt; z. B. Behindertenwerkstätten. Die altbewährten, aus den Kriegsopferverbänden hervorgegangenen Behindertenverbände widmen sich eher Fragen der Altersrente oder der Langzeitpflege. Daher wurden die Vertreter schwerbehinderter Arbeitnehmer, ob gewerkschaftsintern oder -extern, zur Stimme rund um Fragen der Arbeitsteilhabe im politischen Prozess, zusammen mit einigen Unternehmensvertretern, die sich für vorbildliche Methoden und Verfahrensweisen und ein neu definiertes wirtschaftliches Interesse an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Arbeitnehmer einsetzten.
Der Aufstieg neuer politischer Einzel- und Verbandsakteure erfolgt nicht ohne Spannungen. Die Behindertenverbände und ihre Anliegen müssen in den zweiseitig besetzten Selbstverwaltungskörperschaften ihren Platz neben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden finden. Für die neuen Akteure besteht die Gefahr der Überlastung durch zu intensive Beteiligung. Daran gewöhnt, auf Initiativen des Sozialstaats zu reagieren, ist es nicht einfach, Verantwortung für die Politikgestaltung zu übernehmen; dies erfordert die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen und Schulung. Zur Füllung dieser Lücke beinhaltete das BTHG ein Fünfjahrespaket über 50 Millionen Euro zur Förderung unabhängiger Beratung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen,[10] das voraussichtlich verstetigt werden wird. Allerdings stellt sich die Frage, wie sehr sich die neuen Beratungsstrukturen der Menschen mit Behinderungen auf die Teilhabe am Arbeitsleben konzentrieren werden.
Der neue Schwerpunkt auf Teilhabe behinderter Menschen stellt auch für die Wissenschaft eine Herausforderung dar. Rehabilitationswissenschaftler in Deutschland waren es gewohnt, mit klassischen Institutionen, insbesondere mit den Rentenversicherungsträgern zu kommunizieren, die eine Schlüsselrolle bei der Vergabe von Forschungsgeldern spielen und zur Forschungsförderung berechtigt sind. Dies gilt auch für die Bundesagentur für Arbeit, welche ihr eigenes Wissenschaftsinstitut beherbergt.[11] Die Verschiebung der Förderungsschwerpunkte von medizinischen und funktionellen Ergebnissen auf Teilhabeergebnisse und darüber hinaus die Beteiligung beeinträchtigter Menschen am Forschungsprozess braucht Zeit. Zudem wird die Rehabilitationswissenschaft in Deutschland immer noch von Ärzten und Psychologen dominiert. Allerdings wurde eine neue, aus Wissenschaftlern und Behindertenverbänden bestehende Organisation, das Aktionsbündnis Teilhabeforschung,[12] gegründet und hat mit der Behandlung und dem Lobbying zu diesen Fragen begonnen.[13]
Die Bundesregierung hat zum zweiten Mal einen Teilhabebericht zur Lebenslage von Menschen mit Beeinträchtigung herausgegeben.[14] Der zweite Bericht enthält mehr soziologische Daten und Interpretationen sowie Verweise auf die UN-BRK.
III. Vorschläge zum Umgang mit Herausforderungen
In der höchst produktiven deutschen Wirtschaft werden mehr inklusive und barrierefreie Arbeitsplätze und Arbeitsmarktbedingungen gebraucht.
Die Schnittstelle zwischen staatlicher und Arbeitgeberzuständigkeit sollte genauer definiert werden. Kleine und mittlere Unternehmen brauchen besser strukturierte Unterstützung für die Einstellung beeinträchtigter Menschen.
Die Zuständigkeit der Arbeitgeber für krank gemeldete Arbeitnehmer nach den ersten sechs Wochen Arbeitsunfähigkeit sollte verstärkt werden. Es ist noch immer für den Arbeitgeber möglich, einen krankgeschriebenen Arbeitnehmer zu ignorieren. Dies ermöglicht den schleichenden Verfall des Arbeitsverhältnisses. Stattdessen sollten Arbeitgeber die Chancen der stufenweisen Wiedereingliederung nutzen.
Regierungsbehörden sollten die Kooperation zwischen Beteiligten auf dem Gebiet der Arbeitsteilhabe verbessern und effizientere Wege der Interaktion, insbesondere zwischen Akteuren der Rehabilitation und den die medizinische Behandlung durchführenden Fachkräften bestimmen. Arbeitsmediziner könnten eine wichtigere Rolle spielen.
Die Beteiligung von arbeitsbeeinträchtigten und behinderten Beschäftigten und ihrer Vertreter am und außerhalb des Arbeitsplatzes könnte die Arbeitsteilhabepolitik sowie die entsprechenden Institutionen verbessern, wenn diese Individuen und ihre Organisationen zur Teilnahme befähigt werden.
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Beitrag von Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel
Fußnoten
Rückkehr ins Erwerbsleben (return to work), berufliche Wiedereingliederung, Arbeitsunfähigkeit, Verminderte Erwerbsfähigkeit
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