26.06.2025 D: Konzepte und Politik Grupp: Beitrag D3-2025

Wie gelingt der Berufseinstieg für Menschen mit Neurodivergenz oder kognitiven Beeinträchtigungen? – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht (25.02.–17.03.2025)

Die Autorin Livia Grupp fasst die Online-Diskussion über den Berufseinstieg für Menschen mit Neurodivergenz oder kognitiven Beeinträchtigungen zusammen, die die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR) in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Februar und März 2025 im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (FMA) initiiert hat. Die dreiwöchige Diskussion befasste sich mit Herausforderungen und Gelingensbedingungen für einen inklusiven Berufseinstieg. Die Berufsorientierung und Beratung sowie das Zusammenwirken verschiedener Schnittstellen sind dabei zentral. In der Diskussion wurde insbesondere die Bedeutung von Praktika in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts herausgearbeitet und Förderbedarf hierfür aufgezeigt. Die Diskussion wurde im Rahmen des durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aus Mitteln des Ausgleichsfonds geförderten Projekts „Mit Vielfalt zum inklusiven Arbeitsmarkt – Aufgaben für das Reha- und Teilhaberecht“ (VinkA) durchgeführt.

(Zitiervorschlag: Grupp: Wie gelingt der Berufseinstieg für Menschen mit Neurodivergenz oder kognitiven Beeinträchtigungen? Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht (25.02.–17.03.2025); Beitrag D3-2025 unter www.reha-recht.de; 26.06.2025)

Überlegungen zu einer inklusiven Arbeitswelt müssen die Ausbildung junger Menschen mit Behinderungen einschließen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Neurodivergenz stehen hier vor besonderen Barrieren, und ausbildungsbereite Unter­nehmen benötigen fachkundige Unterstützung. Wie Übergänge von der Schule in die Ausbildung gelingen, war im Februar und März 2025 Thema der Online-Diskussion[1] der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR) in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zur Klärung verschiedener Fragestellungen standen die folgenden Expertinnen und Experten zur Verfügung:

  • Sabine Böttcher, Diplom-Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. (ZSH)
  • Susanne Reinhardt, VielfaltFamilien – gemeinsam für neurodivergente Menschen e. V., Lutherstadt Eisleben
  • Angelika Thielicke, Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung (BAG UB) e. V., Hamburg
  • Eva-Maria Thoms, mittendrin e. V. – Projekt „Ausbildung mittendrin“, Beratungs­stelle für Inklusion und Elternverein, Köln
  • Alexander Schwarz und Eva-Maria Popp, Handwerkskammer Stuttgart, Schwerpunkt Unternehmensentwicklung und Inklusion im Handwerk
  • Stefanie Schwecke, Teilhabe Arbeit & Bildung gGmbH, Gemeinnützige Werk­stätten Oldenburg e. V.
  • Belinda Weiland, Referendarin am Kammergericht Berlin, Doktorandin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In neun Diskussionssträngen mit 70 Beiträgen wurden die Herausforderungen und Unter­stützungsmöglichkeiten für einen inklusiven Berufseinstieg beleuchtet sowie Fragen zu rechtlichen Rahmenbedingungen diskutiert. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen kann es z. B. schwerfallen, komplexe Informationen zu verarbeiten oder sich an Gelerntes gut zu erinnern. Manche Menschen brauchen mehr Zeit, um eine Aufgabe zu erledigen. Unter Neurodivergenz hingegen werden u. a. autistische Personen und Menschen mit Aufmerksamkeits- bzw. Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) verortet. Als Fachperson und selbst Betroffener wies das Forenmitglied NDFachberater darauf hin, dass es wichtig sei, das Verständnis von Neurodivergenz bei allen Beteiligten auf den aktuellen Stand zu bringen und Vorurteile abzubauen. Heute gehe man von einem Spektrum von neurodivergenten Menschen mit verschiedenen Stärken und Herausforderungen und einer hohen Überschneidung zu ADHS aus. Erst wenn man sich der Fülle des Spektrums bewusst sei, der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede, und die Betroffenen als Experten in eigener Sache akzeptiere, könne man sie gut in den Arbeitsmarkt integrie­ren. Als beispielhafte Maßnahme dauern Meetings nicht länger als 90 Minuten und die Agenda wird 24 Stunden vorher kommuniziert, dies unterstütze nicht nur Menschen mit Neurodivergenz, sondern verbessere auch den Arbeitsalltag ihrer Kolleginnen und Kollegen (NDFachberater). Angelika Thielicke unterstrich, dass es im Arbeitsleben immer wieder darum gehe, „Modalitäten zu erfinden, wie in konkreten Situationen Menschen in Arbeitsprozessen miteinander zurechtkommen können“.

„Eine humane Gesellschaft ist eine inklusive Gesellschaft, die nicht mehr ausgrenzt, sondern Rahmenbedingungen schafft, in der möglichst alle Menschen zurechtkommen.“ (Angelika Thielicke)

Auch und gerade bei der Berufsorientierung für beeinträchtigte Menschen wurde auf die Notwendigkeit von individuellen und maßgeschneiderten Unterstützungsangeboten hin­gewiesen.[2] In den Auftaktfragen wurde erörtert, wann und wie in den Schulen die Weichen für den Übergang in eine (inklusive) berufliche Ausbildung gestellt werden und welche Unterstützung verschiedene Akteure bieten. Die Diskussionsteilnehmenden waren sich einig, dass berufliche Orientierung auch für Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen bzw. mit Neurodivergenz frühzeitig in der Schule thematisiert werden sollte. Entscheidend seien praktische Erfahrungen, insbesondere im Rahmen eines begleiteten Praktikums in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts, aber auch bei einem Bildungsträger oder in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Es wurde allerdings auch unterstrichen, dass ein Praktikum für Jugendliche mit Neuro­divergenz eine Ausnahmesituation darstelle, die zu Verunsicherung führen könne bzw. Konfliktpotenzial berge (Sabine Böttcher). Geeignete Praktika seien zudem schwer zu finden. Dass Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Beeinträchtigungen wiederum viel zu selten Praktika in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes absolvieren, wird mit einer „Förderlücke“ erklärt, die es zu schließen gelte:

„Allerdings fehlt es für Schülerpraktika von Schüler*innen mit Behinderung auch an der Möglichkeit, sie im Betrieb durch ein Jobcoaching zu begleiten. Dies führt dazu, dass stattfindende Praktika wenig Erfolg haben oder dass die Schulen zu betrieblichen Prak­tika gar nicht ermutigen, weil sie diese ohne Jobcoaching nicht für zielführend halten. Im Ergebnis finden Praktika oft nicht betrieblich statt, sondern in der WfbM.“ (Eva-Maria Thoms)

Als Leistung der Eingliederungshilfe ist das Instrument Schulbegleitung zwar inzwischen bekannt und verbreitet, aber bislang regelmäßig nur im Bereich Schule.[3] Die Gewährung der Schulbegleitung auch für die Zeit des betrieblichen Praktikums ist in der Praxis noch keine Selbstverständlichkeit[4], obwohl schon wegen des Grundsatzes der Vollständigkeit gem. § 4 Abs. 2 S. 2 SGB IX der Anspruch auf Schulbegleitung sämtliche schulischen Maßnahmen, einschließlich der betrieblichen Praktika während der Schulzeit umfassen muss.[5] Integrationsfachdienste (IFD) hätten wiederum nicht genug Ressourcen, um standardmäßig Praktika durch ein fachkundiges Jobcoaching zu begleiten.[6] In der Diskussion berichtete Stefanie Schwecke von guten Erfahrungen mit dem niedersächsi­schen Programm „Berufliche Orientierung Geistige Entwicklung“ (BOGE)[7], welches eine vertiefte berufsfeldbezogene Berufsorientierung inklusive Vor- und Nachbereitung von Praktika umfasst.[8] Als weitere wichtige Unterstützung beim Übergang Schule-Beruf wurde eine gute Verzahnung der Akteure genannt. Diese umfasse die aktive Zusam­menarbeit zwischen Jugendlichen, Eltern, Lehrkräften, möglichen Arbeitgebern und Leistungsträgern, aber auch Bildungspartnerschaften zwischen Schulen und Unter­nehmen. Wichtig ist zudem der Aufbau von Netzwerken zu Betrieben, die Praktika anbieten. Dabei wurde als besonders problematisch hervorgehoben, dass durch die Umsetzung solcher Berufsorientierungsmodule im Wege der Vergabe durch die Bundes­agentur eine zuvor aufgebaute regionale Expertise weggefallen sei (Stefanie Schwecke). Als weiterer Baustein für gelingende Übergänge wurden die Informations- und Beratungsstrukturen genannt: Es sei wichtig, die Jugendlichen wie auch ihre Angehörigen und die Lehrkräfte über die verschiedenen Möglichkeiten der Berufs­orientierung sowie über Alternativen zur WfbM zu informieren. Ein Forenmitglied brachte Ergebnisse des Forschungsprojekts „Online-Dabei“ in die Diskussion ein: Jugendliche mit Lernschwierigkeiten nutzten durchaus auch das Internet für die eigene Recherche zu Berufs- und Ausbildungsmöglichkeiten.[9] Dabei sei festgestellt worden, dass auch insoweit ein besonderer Bedarf an Informationen zu behinderungsspezifischen Ausbil­dungen bzw. Maßnahmen bestehe. Auch sei die Gestaltung von Internetseiten oder Apps häufig nicht besonders zugänglich.[10] Online-Angebote werden auch im Rahmen berufsvorbereitender Bildungsmaßnahmen eingesetzt. Beispielhaft wurde hierzu auf den Maßnahmenfinder von REHADAT für die Berufsorientierung verwiesen.[11] Vorgebracht wurde auch, dass es an Informationsangeboten mit Identifikationspotenzial für Jugend­liche mit Beeinträchtigungen mangele. Sichtbare Inklusion ende häufig mit der Schulzeit, es fehlten inklusive Beispiele aus der Arbeitswelt.

„Kinder und Jugendliche entwickeln ihre Berufswünsche doch auch aus der Identifikation mit Vorbildern, denen sie sich verbunden fühlen oder mit denen sie sich identifizieren können, weil sie ihnen ähnlich sind. Aus meiner Sicht fehlt dies für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen und Behinderungen.“ (Sabine Böttcher)

Weiter wurde unterstrichen, dass es die Bereitschaft brauche, individuelle Lösungen zu suchen. Mit Blick auf die Berufsorientierung würden von einem individuellen Vorgehen nicht nur neurodivergente, sondern auch neurotypische Schülerinnen und Schüler profitieren (Susanne Reinhardt). Im Verlauf der Diskussion wurde bspw. auf den „Leitfaden Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Autismus“[12] verwiesen. Von Schulen, Arbeitgebern, Leistungsträgern und Dienstleistern erwarten die Diskussions­teilnehmenden Akzeptanz für die Individualität der Jugendlichen und ihre Bedarfe sowie eine bessere Verzahnung. Leistungsträger sollten den tatsächlichen individuellen Unter­stützungsbedarf des einzelnen Menschen für eine betriebliche Tätigkeit ermitteln und umfassend über die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und das Persönliche Budget sowie über regionale Dienstleister informieren (Thielicke).[13] Um für Menschen mit Behinderungen wie in § 1 SGB IX zugesichert tatsächlich „ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern“, müsse es möglich sein, alle vorhandenen Teilhabeleistungen (§§ 49 ff. SGB IX) so lange wie notwendig nahtlos auch nacheinander personenzentriert nutzen zu können.

„Mit einem individuell personenzentrierten ‚Unterstützungsrucksack‘ ausgerüstet zu sein, ist die notwendige Voraussetzung für eine individuelle betriebliche Qualifizierung, von der man zu Anfang nicht weiß, auf welchem Level sie enden kann.“ (Angelika Thielicke)

In der Diskussion wurde hier auf ein systematisches Problem hingewiesen: Während die schulische Seite verschiedene Förderschwerpunkte, wie Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Sehen, Hören und Sprache, vorsehe und entsprechend differenziert mit Barrieren umgehe, unterscheide das Beschäftigungssystem nur zwischen Menschen mit anerkannter (Schwer-)Behinderung oder Gleichgestellten.

„Mit dem Wechsel vom Schulsystem in das rechtliche Rahmenwerk zur Regelung der Teilhabe am Arbeitsleben ändern sich also die Definitionen der Zielgruppen, was den Zugang in die Berufswelt für ehemalige Förderschüler:innen erheblich erschwert. Für einen inklusiven Übergang müsste demnach vor allem an der Kompatibilität dieser Systeme gearbeitet werden.“ (Belinda Weiland)

Der Wechsel der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten beim Übergang von der Schule in den Beruf wurde in der Diskussion mehrfach angesprochen und sogar als „eine der vielen systemimmanenten problematischen Schnittstellen, die Menschen behindern und inklusive Arbeit verhindern“, bezeichnet (Angelika Thielicke). Abhilfe sei möglich durch das Engagement von Schulleitung und Lehrkräften, um Schülerinnen und Schüler auf ein Leben nach der Schule vorzubereiten. Hingewiesen wurde auch auf die in Baden-Württemberg verpflichtende Berufswegekonferenz, bei der in Federführung mit der Schule und unter Beteiligung verschiedener Akteure verbindliche Schritte und Ziele der beruflichen Vorbereitung verabredet werden.[14]

„Um einen gelungenen Trägerwechsel durchzuführen könnte es aus unserer Sicht hilf­reich sein, dass sich ‚alter‘ und ‚neuer‘ Träger gemeinsam mit dem Betroffenen (und ggf. Unterstützungspersonen) zu einem Gespräch zusammenfinden, um bisher bewährte Hilfen auszuwerten und ggf. neue Hilfen zu etablieren. Somit kann ausgeschlossen wer­den, dass ‚über den Kopf des Betroffenen hinweg‘ entschieden wird und derjenige sich gehört fühlt.“ (Susanne Reinhardt)

Im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Planverfahren (sei es Gesamtplanverfahren gem. § 117 SGB IX oder sei es Teilhabeplanverfahren gem. § 19 SGB IX) müssen die im Lebensverlauf von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen aufeinander folgen­den Trägerzuständigkeiten (hier vor allem der Wechsel von der Eingliederungshilfe zur Zuständigkeit der Bundesagentur) konsequent berücksichtigt werden.[15]

Unter der Überschrift „Ausbildung für alle. Ein Träumchen…“ initiierte das Forenmitglied Kirsten Ehrhardt eine Diskussion über die Barrieren, die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen den Weg in eine Ausbildung versperren. Hemmnisse seien u. a., dass die schulische Vorbereitung vor allem auf den Weg in die WfbM (inklusive Praktika) vorbereite, zu früh eine Erwerbsunfähigkeit festgestellt werde sowie Arbeitsassistenzen nicht bewilligt würden. Auch wurde vorgebracht, dass Betriebe mehr Unterstützung bräuchten, um junge Menschen mit Beeinträchtigungen erfolgreich einzuarbeiten. Als eine Ausnahme wurde auf das Modellprojekt „Ausbildung mittendrin“ in Köln verwiesen, das junge Menschen mit Beeinträchtigungen auf ihrem Weg in und durch eine duale Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt begleitet.[16] Menschen mit Beeinträchtigungen können in bestimmten Fällen eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 Berufsbildungsgesetz und § 42r Handwerksordnung absolvieren und anschließend ggf. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Jedoch können viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Anforderungen nicht erfüllen. Auch gibt es diese Ausbildungen nicht in allen Berufen.

„Instrumente, die noch viel mehr in den Vordergrund rücken sollten und mehr an Bedeu­tung gewinnen sollten, sind die Qualifizierungsbausteine und die Teilqualifizierungen, die momentan entwickelt werden. So können auch Teil-Bausteine einer Ausbildung anerkannt/ zertifiziert werden. Wenn so etwas z. B. auch Bildungsträgern vermittelt werden kann, kann man im Anschluss vielleicht auch leichter in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln.“ (Eva-Maria Popp)

Ergänzend erfolgte ein Hinweis auf das Mitte 2024 in Kraft getretene Berufsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG), das in § 28 Absatz 2 S. 2 Berufsbildungsgesetz (BBiG) eine „mobile Ausbildung“ eingeführt hat. Damit wird auch eine digitale und mobile Vermittlung von Ausbildungsinhalten ermöglicht. Dabei dürfe allerdings die digitale Barrierefreiheit nicht vernachlässigt werden. [17] Mehrfach wurde der Blick auf die gesell­schaftliche Akzeptanz von Inklusionsbestrebungen geworfen. Wenn es um Menschen mit Beeinträchtigungen gehe, überwiege die Defizitwahrnehmung (Angelika Thielicke). Es herrsche die Einstellung vor, dass für die Zielgruppe in erster Linie Versorgung an­zustreben sei, dies verhindere auf breiter Front Fortschritte für die Teilhabe am Arbeits­leben. Es fehle durchweg an Ermutigung, den Weg in Arbeit überhaupt zu versuchen. Stattdessen müsse ein solcher Weg von den Betroffenen und ihren Familien in den allermeisten Fällen gegen Beratung, Bürokratie und Widerstände durchgesetzt werden (Eva-Maria Thoms). Hier müssten auch die Beratungsstrukturen und die Haltungen in (Förder-)Schulen in den Blick genommen werden. Eine Diskussionsteilnehmerin regte an, im Bildungsplan ab der Sekundarstufe auch für Schülerinnen und Schüler mit kognitiven Einschränkungen Wert auf Kompetenzen zu legen, die Teilhabe an Arbeit erleichtern (Sabine Böttcher).

„Ein Rückschrauben des Unterrichtsehrgeizes ("das braucht er/sie ohnehin nicht, weil er/sie mit Sicherheit in die Werkstattbeschäftigung gehen wird") sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Neben das Fördern sollte auch für diese Schüler*innen ein Fordern treten. Schüler*innen müssen (noch) mehr das Gefühl bekommen, dass man ihnen etwas zutraut.“ (Sabine Böttcher)

Das Rehabilitations- und Teilhaberecht bietet viele individuelle Fördermöglichkeiten und Teilhabeleistungen in unterschiedlichster Form, die sich auf Kinder und Jugendliche individuell anpassen lassen. In der Diskussion wurden die Umsetzung und die Verfahrensdauer als problematisch beschrieben. Gegen die z. T. sehr langen Bearbeitungszeiten von Anträgen auf Teilhabe könnte die Ausweitung der Genehmigungsfiktion nach § 18 Abs. 3 SGB IX auf alle Bereiche der Eingliederungshilfe helfen, so Eva-Maria Thoms. Darüber hinaus sei die Funktionsweise mancher Teilhabeleistungen – wie zum Beispiel das Persönliche Budget oder der Assistenzhund – noch nicht ausreichend bekannt und würden daher seltener bewilligt. Der Bedarf einer Förderung für die Begleitung von Schulpraktika wurde bereits angesprochen. Diskutiert wurde auch über die Voraussetzung einer mindestens 15 Wochenstunden umfassenden Tätigkeit für die Bewilligung einer Arbeitsassistenz.[18] Dies betreffe z. B. Arbeitnehmende mit Behinderung, die verschiedene Teilzeitstellen haben, sowie Menschen mit Behinderung, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erst aufbauen. Probleme mit der Bewilligung von Assistenz hätten verstärkt auch Menschen mit Behinderungen in selbständigen Tätigkeiten. Eine Problematik wurde deutlich bei einem geförderten Modellprojekt in Köln, welches eine Schauspielausbildung für Werkstattberechtigte betreibt.[19] Die Werkstattberechtigten konnten Engagements als bezahlte Tätigkeiten nicht annehmen, weil sie kein Honorar einnehmen dürfen bzw. dies mit anderen Leistungen verrechnen müssten. Ganz aus dem Werkstattrahmen auszusteigen und sich vollständig auf den volatilen künstlerischen Arbeitsmarkt zu verlassen, sei für den Personenkreis jedoch zumindest zu Beginn nicht möglich (Eva-Maria Thoms).

„Sollten wir also Wert darauf legen, dass auch werkstattberechtigte Menschen die Möglichkeit haben sich eine künstlerische Berufstätigkeit aufzubauen, müssten hier Regelungen entworfen werden, wie dies gelingen kann.“ (Eva-Maria Thoms)[20]

Die Rehabilitationspädagogische Zusatzqualifikation für Ausbilderinnen und Ausbilder (ReZA) im Umfang von mindestens 320 Stunden wurde kritisch diskutiert. Die ReZA wurde als Hindernis für die Verbreitung von Fachpraktiker-Ausbildungen auf dem Arbeits­markt betrachtet und als Grund dafür, warum diese Ausbildungen weit überwiegend außerbetrieblich stattfänden (Eva-Maria Thoms). Insbesondere im Handwerk würde eine so zeitaufwändige Qualifizierung nicht ohne konkreten Anlass erworben. Auch seien die Betriebe angesichts des Fachkräftemangels vor allem damit beschäftigt, die vorhande­nen Personalressourcen effizient einzusetzen und hätten keine Zeit, sich um Auszubil­dende mit erhöhtem Betreuungsaufwand zu kümmern (Alexander Schwarz).

„So hat sich bei den meisten Handwerkskammern ein eher pragmatischer Weg durchgesetzt. Ausbildungsverhältnisse werden auch ohne ReZA akzeptiert, wenn die Auszubildenden von einer fachkundigen Person begleitet werden. Das kann jemand vom IFD oder BBW [Berufsbildungswerk, d. V.] sein, ein Jobcoach oder eine andere Begleitung. Nach meiner Erfahrung stellt sich dann eher die Frage nach der Finanzierung dieser Begleitung.“ (Alexander Schwarz)

Gegen Ende der Debatte wurde diskutiert, welche Wege für junge Menschen mit Behin­derungen bestehen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Hier wurden ins­besondere die Optionen Einstiegsqualifizierung[21] und berufsvorbereitende Bildungs­maßnahmen[22] vorgestellt (Alexander Schwarz, Belinda Weiland). Diese sollen dabei helfen, praktische Erfahrungen zu sammeln und Fähigkeiten zu entwickeln, die beim Übergang in eine Ausbildung oder Beschäftigung unterstützen können. Hierzu wurde eingeschränkt, dass Gruppen-Bildungsmaßnahmen nicht für alle Menschen mit kog­nitiven Beeinträchtigungen oder mit Neurodivergenz geeignet sind. Dagegen böten Freiwilligendienste, bei denen keine 40 Wochenstunden abzuleisten seien, auch Jugendlichen mit Neurodivergenz die Möglichkeit, sich in verschiedenen Berufsfeldern auszuprobieren. Als ultima ratio könnten auch außerbetriebliche Berufsausbildungen (BaE) in Frage kommen, die durch die Bundesagentur für Arbeit gefördert und bei einem Bildungsträger durchgeführt werden. In der Diskussion wurde diese Möglichkeit als ein erster Schritt ins Berufsleben bezeichnet, auch für Menschen mit Autismus.

„Gerade bei jungen Menschen ist es entscheidend in den jeweiligen Entwicklungs­phasen die passende Unterstützung zu finden und zu gewähren. Das geht nur, wenn man die betroffenen jungen Menschen mit einbezieht. Sind diese einmal isoliert, ist die Teilhabe am sozialen Leben in der Gemeinschaft sehr schwer, für die Menschen mit Behinderung sehr anstrengend und die Leistungsträger am Ende kostenintensiver.“ (Belinda Weiland)

Beitrag von Livia Grupp, Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V., Heidelberg

Fußnoten

[1] Der Diskussionsverlauf ist abrufbar im Forum Fragen – Meinungen – Antworten (FMA) unter folgendem Link: https://fma.reha-recht.de/index.php?board/216-berufseinstieg-fuer-menschen-mit-neurodivergenz-oder-kognitiven-beeintraechtigungen/, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[2] Vgl. hierzu auch die Praxisbroschüre „Inklusion am Übergang Schule – Beruf. Aus Perspek­tive junger Menschen Barrieren abbauen und Experimentierräume für alle schaffen“ (2024) des InBiT-Projektes u. a. mit den Kernbotschaften 1. Bedingungslos an Interessen der jun­gen Menschen ansetzen, 2. Experimentierräume für alle schaffen und 3. die Lebenslagen junger Menschen diversitätssensibel berücksichtigen; abrufbar unter DOI 10.18442/309, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[3] Vgl. allgemein Jordan, Schulbegleitung als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII – Anmerkung zu Niedersächsisches OVG, Beschluss v. 23. Juni 2022 – 14 ME 243/22; Beitrag A11-2023 unter www.reha-recht.de (Stand 14.09.2023) sowie Huppert, Schulbegleitung im Landesrahmenvertrag NRW – Zwischen Qualitätssteigerung und Verantwortungsverlagerung; Beitrag D1-2022 unter www.reha-recht.de (Stand 14.01.2022).

[4] Vgl. auch den Austausch unter https://www.rehakids.de/ftopic134117.html, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[5] In § 4 Abs. 2 S. 2 SGB IX heißt es: Die Leistungsträger erbringen die Leistungen im Rahmen der für sie geltenden Rechtsvorschriften nach Lage des Einzelfalles so vollständig, umfas­send und in gleicher Qualität, dass Leistungen eines anderen Trägers möglichst nicht erforderlich werden.

[6] https://www.bildungsketten.de/bildungsketten/de/themen/inklusion-in-ausbildung-und-beruf/uesb-inklusiv.html, zuletzt abgerufen am 04.06.2025, – im Gegensatz dazu gibt es aber Begleitung in der Ausbildung https://www.arbeitsagentur.de/menschen-mit-behinderungen/spezielle-hilfe-und-unterstuetzung/unterstuetzung-bei-der-ausbildung, zuletzt abgerufen am 04.06.2025, oder Berufseinstiegsbegleitung nach § 49 SGB III (die Agentur für Arbeit kann förderungsbedürftige junge Menschen durch Maßnahmen der Berufseinstiegsbegleitung fördern, um sie beim Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung zu unterstützen, wenn sich Dritte mit mindestens 50 Prozent an der Förderung beteiligen).

[7] Vgl. BOGE ist ein Angebot der Koordinierungsstelle Berufsorientierung (KoBo) in Niedersachsen, weitere Informationen s. unter https://www.ausbildungsregion-osnabrueck.de/thema/koordinierungsstelle-bo, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[8] Die Bundesländer haben für die Berufsorientierung verschiedene Angebote, die sich an Schulen, Eltern und Jugendliche richten, ein Beispiel ist auch der Berufsorientierungs-Baukasten (BOB) in Baden-Württemberg oder das Landesberufsorientierungsprogramm Sachsen-Anhalt BRAFO. Die Programme der Länder basieren i. d. R. auf der Initiative Bildungsketten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), vgl. https://www.berufsorientierungsprogramm.de/, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[9] Hier bietet bspw. die Broschüre „Berufsorientierung digital“ für die Zielgruppe Lehrkräfte und Coaches eine Übersicht zu Tools der Bundesagentur für Arbeit, abrufbar unter https://planet-beruf.de/lehrkraefte-und-bo-coaches/print/berufsorientierung-digital, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[10] Vgl. Projekt „Online-Dabei: Umsetzung der BITV 2.0-Verordnung vor dem Hintergrund der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ an der Universität zu Köln, s. https://www.hf.uni-koeln.de/37610, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[11] Der Maßnahmenfinder des Projekts REHADAT soll dabei helfen, die richtige Bildungsmaßnahme für Jugendliche mit oder ohne Schulabschluss oder für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden zu finden: https://www.rehadat-bildung.de/massnahmenfinder/, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[12] Der Leitfaden wurde gemeinsam von autismus Deutschland e.V. und der Bundesarbeits­gemeinschaft Unterstützte Beschäftigung (BAG UB) 2023 erstellt und ist abrufbar unter https://www.bag-ub.de/news/3/838544/firmennachrichten/leitfaden-teilhabe-am-arbeitsleben-f%C3%BCr-menschen-mit-autismus.html, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[13] Für die unterschiedlichen Fragestellungen am Übergang Schule – Beruf wurden vielerorts Jugendberufsagenturen geschaffen. Dabei kooperieren Sozialleistungsträger aus unterschiedlichen Rechtskreisen untereinander, aber auch mit den Akteuren und Netzwerkpartnern vor Ort, um abgestimmte, individuelle Lösungen für junge Menschen ermöglichen; vgl. https://www.servicestelle-jba.de, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[14] An der Berufswegekonferenz nehmen neben der Schülerin bzw. dem Schüler und den Eltern je ein Vertreter/ eine Vertreterin der Schule, des Integrationsfachdiensts, der Agentur für Arbeit und der Eingliederungshilfe teil. Die Federführung im Auftrag des Schülers liegt bei der Schule; vgl. https://www.kvjs.de/inklusion-beruf/foerderung-der-beruflichen-inklusion/netzwerke/berufswegekonferenzen, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[15] Nebe, Neue Herausforderungen für die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und die Lebensverlaufsperspektive im Rehabilitationsprozess, in: BAR (Hrsg.), Teilhabe braucht Rehabilitation, Peter Lang, Berlin 2019 (Zweitveröffentlichung in RP-Reha 2020, Nr. 1, S. 48–49.

[16] Der Elternverein mittendrin e.V. führt das Modellprojekt „Ausbildung mittendrin“ in Kooperation mit der ProjektRouter gGmbH durch; vgl. https://www.mittendrin-koeln.de/angebote/ausbildung-mittendrin, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[17] Handreichungen und Orientierungshilfen zur digitalen Lehre stellen z. B. die Studierendenwerke bereit unter https://www.studierendenwerke.de/themen/studieren-mit-behinderung/online-bibliothek/barrierefreie-lehre, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[18] Rechtsgrundlagen für die Umsetzung einer Arbeitsassistenz sind § 49 Abs. 8 S. 1 Nr. 3 SGB IX i. V. m. dem jeweiligen Leistungsgesetz, hier vor allem i. V. m. § 112 Abs. 1, 113 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 SGB III i. V. m.§§ 114, 118 SGB III, § 185 Abs. 5 SGB IX i. V. m. § 17 Abs. 1a SchwbAV und § 21 Abs. 4 SchwbAV, § 29 SGB IX; dazu Proufas: Arbeitsassistenz zur Erlangung eines Arbeitsplatzes als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben – Anmerkung zum Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 3. Juni 2021 – L 14 AL 64/18; Beitrag A9-2023 unter www.reha-recht.de; 14.08.2023.

[19] Vgl. https://schauspielschule.koeln/schauspielschule__trashed/rheinkompanie-inklusive-schauspielausbildung/, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[20] Vgl. dazu Bundesbehindertenbeauftragter, Teilhabeempfehlungen für eine inklusive Kultur, 2024, S. 28 ff., zum Download unter https://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/PublikationenErklaerungen/THE_Kultur_2024_AS.pdf?__blob=publicationFile&v=7, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[21] Vgl. https://www.hwk-stuttgart.de/artikel/einstiegsqualifizierung-eq-die-bruecke-in-die-berufsausbildung-67,0,2691.html, zuletzt abgerufen am 04.06.2025.

[22] Die Agentur für Arbeit kann junge Menschen durch berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen fördern, um sie auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorzubereiten oder ihnen die berufliche Eingliederung zu erleichtern; vgl. § 51 SGB III.


Stichwörter:

Berufsausbildung, Assistierte Ausbildung, Inklusive Ausbildung, Berufliche Teilhabe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Schnittstellen, Berufsbegleitung, Schulbegleitung


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