In dem zweiteiligen Beitrag berichtet René Dittmann von der Fachveranstaltung „Das Behindertengleichstellungsgesetz in Recht und Praxis“.
Nachdem im ersten Beitragsteil über das Konzept der angemessenen Vorkehrungen, dessen rechtlicher Verankerung und den praktischen Erfahrungen damit berichtet wurde, folgt in diesem Teil ein Bericht über die praktischen Erfahrungen mit dem BGG aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen und über die Positionen der Bundesfachstelle Barrierefreiheit zu den Verpflichtungen aus dem BGG. Abschließend folgt eine kurze Zusammenfassung der Fachveranstaltung.
(Zitiervorschlag: Dittmann: Angemessene Vorkehrungen und Sozialrecht – Bericht zur Fachveranstaltung der Schlichtungsstelle BGG und der Bundesfachstelle Barrierefreiheit: „Das Behindertengleichstellungsgesetz in Recht und Praxis“ – Teil II; Beitrag D32-2018 unter www.reha-recht.de; 30.08.2018)
I. Einleitung
Die Schlichtungsstelle BGG und die Bundesfachstelle Barrierefreiheit haben am 29. Mai 2018 gemeinsam die Fachveranstaltung „Das Behindertengleichstellungsgesetz in Recht und Praxis“ veranstaltet, bei der Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis über das Behindertengleichstellungsgesetz referierten und von ihren Erfahrungen damit berichteten. Nachdem im ersten Teil des Tagungsberichts das Konzept der angemessenen Vorkehrungen, das mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts[1] im Jahr 2016 in das BGG eingefügt wurde, im Mittelpunkt steht, wird in diesem Teil von den Erfahrungen mit dem BGG aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen und von den Verpflichtungen zur Gleichstellung und Barrierefreiheit berichtet.
II. Erfahrungen mit dem BGG aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen
1. Die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht des deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands e.V. (DBSV)
Für den DBSV berichtete Christiane Möller (Rechtsreferentin) über die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht der Menschen, die von einem Sehverlust betroffen oder bedroht sind[2]. Aus verbandspolitischer Sicht sei mit der umfassenden Definition der Barrierefreiheit im BGG im Jahre 2002[3] ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. Die gesetzliche Verankerung in § 4 BGG habe über dessen Anwendungsbereich hinaus Wirkung entfalten können. Problematisch sei hingegen, dass sich die Zielvereinbarungen nach § 5 BGG bisher noch nicht als praktisches Instrument eignen. Auch habe die Möglichkeit der Verbandsklage (§ 15 BGG) nicht gefruchtet, weshalb der DBSV ein dreijähriges Projekt ins Leben gerufen habe, das die Mitarbeiter mittlerer und kleiner Selbsthilfeverbände zur Verbandsklage berät und coacht[4]. Aus individueller Sicht begrüßt Möller, dass das BGG konkret greifbare Rechte zur Verfügung stellt, wie bspw. das Recht auf barrierefreie Dokumente (§ 10 BGG). Danach können blinde und sehbehinderte Menschen verlangen, dass ihnen unter anderem Bescheide ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden (§ 10 Abs. 1 S. 2 BGG). Auch sei positiv, dass die barrierefreie IT (§ 12 BGG) ihren Platz im BGG gefunden hat. Negativ sei hingegen, dass die Umsetzung bestimmter Rechte praktische Schwierigkeiten bereite, z. B. im Fall der barrierefreien Bescheide. Hierbei eröffne sich den Behörden ein Konflikt zwischen Informationssicherheit bzw. Datenschutz und der Barrierefreiheit.
Bezüglich der BGG-Novelle im Jahr 2016 seien die Einführung der Schlichtungsstelle und des Schlichtungsverfahrens erfreulich. Doch gebe es weiterhin Verbesserungsbedarf hinsichtlich eines effektiven Durchsetzungsmechanismus der digitalen Barrierefreiheit, bezüglich der Einbeziehung privater Dienstleister sowie mit Blick auf die Nutzung bereits bestehender Rechte im BGG.
2. Die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe setzt sich für die Gleichberechtigung und Barrierefreiheit der Menschen mit geistiger Behinderung ein.[5] Lilian Krohn-Aicher berichtete, dass die Aufnahme der Leichten Sprache in § 11 BGG[6] aus Sicht des Verbandes begrüßenswert sei. Bisher sei aber noch kein Schlichtungsantrag wegen Leichter Sprache gestellt wurden, was vermutlich an der Unbekanntheit des Gesetzes liegen könne. Kritisch sieht Aicher, dass der § 11 BGG eine „Soll-Vorschrift“ ist und fordert einen bindenden Anspruch auf Leichte Sprache. Zudem müssen auch die Behörden auf die Ansprüche des BGG hinweisen. Dies passiere, so ein Teilnehmer der Tagung, in der Praxis so gut wie gar nicht. Eine weitere Institution, die auch über die Ansprüche aus dem BGG aufklären müsse, sei die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung nach § 32 SGB IX. Damit können auch die Menschen erreicht werden, die nicht verbandlich organisiert sind.
3. Die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht eines Fachanwalts für Arbeitsrecht
Dr. Martin Theben (Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht) stellte das gerichtliche Verfahren in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Mit Blick auf die Menschen mit Lernschwierigkeiten müssten ggfs. die Verfahrensordnungen überarbeitet und ergänzt werden, sodass die Betroffenen auch tatsächlich an den Verhandlungen teilnehmen können. Auch er befürwortete einen Anspruch auf Leichte Sprache, sah aber ein weiteres Problem darin, dass es keine Legaldefinition des Begriffes gebe. Zwar enthalte die Anlage 2 der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem BGG (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV 2.0) Vorgaben für die Bereitstellung von Informationen in Leichter Sprache, doch werde damit kein einheitlicher Standard gesetzt. Bezüglich der Umsetzung der Leichten Sprache komme z. B. ein ähnliches Modell wie bei der Gebärdensprache in Betracht.[7] Weiterhin kritisierte er, dass die öffentlichen Stellen, die vom Umsetzungsauftrag betroffen sind, bei der Vergabe von Aufträgen zu wenig auf die Einhaltung der BGG-Vorgaben achteten. Eine Verknüpfung von Vergabe und Berücksichtigung des Behindertengleichstellungsrechts komme daher in Betracht. Des Weiteren forderte Theben konkrete Sanktionen für die Nichtbeachtung der Barrierefreiheit. Ein Problem sah er zudem darin, dass es bei den Schlichtungsparteien zu Verzögerungen komme, weil in den Organisationen häufig keine Ansprechpartner für z. B. digitale Barrierefreiheit existieren.
4. Die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht einer Fachanwältin für Sozialrecht
Judith Hartmann (Rechtsanwältin, Fachanwältin für Sozialrecht) berichtete insbesondere über die Erfahrungen von Menschen mit Hörbehinderungen und Sprachbehinderungen. Ein wichtiger Schritt für hörbehinderte Menschen sei die Verankerung der Gebärdensprache im BGG gewesen. Von besonderer Bedeutung seien daher die §§ 6, 9, aber auch 12 BGG. Nach § 9 Abs. 1 BGG besteht ein Recht auf Kommunikation in Deutscher Gebärdensprache, mit lautsprachebegleitenden Gebärden oder über andere geeignete Kommunikationshilfen im Verwaltungsverfahren. Hierbei sei eine Abgrenzung bzw. Klarstellung wünschenswert, wann ein Verwaltungsverfahren eröffnet ist. Zudem spiele auch für Menschen mit einer Hörbehinderung die behinderungsgerechte Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken nach § 10 BGG eine Rolle. Häufig können diese nicht verstanden werden, denn Schriftsprache sei für hörbehinderte Menschen wie eine Fremdsprache. Bezüglich § 12 BGG merkt Hartmann an, dass regelmäßig nur die Startseiten der Internetauftritte und grafische Programmoberflächen für taube Menschen barrierefrei seien. Eine Qualitätskontrolle gebe es nicht.
5. Die Erfahrungen mit dem BGG aus Sicht der Schwerbehindertenvertretung
Zuletzt berichtete Dr. Alexander von Boehmer (Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretung des Bundes). Trotz IT-Sicherheit oder Denkmalschutz müsse Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen erreicht werden. Es sei stets nach Lösungen zur Vereinbarkeit von möglicherweise widersprüchlichen Vorgaben zu suchen. Kritisch sah er die Ausnahmetatbestände in den §§ 8 („unangemessene wirtschaftliche Belastungen“) und 12 („unverhältnismäßiger technischer Aufwand“) BGG. Diese werden häufig als Ausrede für die Nichtumsetzung entsprechender Maßnahmen genutzt. Mit Sorge blicke er daher auf den Gesetzesentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/2102[8]. Dieser sieht für die Umsetzung barrierefreier Informationstechnik im Einzelfall den Vorbehalt der unverhältnismäßigen Belastungen vor.[9]
Die Umsetzung von Barrierefreiheit könne durch die Einführung pflichtiger Bestandteile in bestimmten Studiengängen (z. B. Architektur oder Informatik) verbessert werden. Auch müsse die Vergabe von Aufträgen durch die Träger der öffentlichen Gewalt an die Umsetzung der Barrierefreiheit gebunden werden.
III. Die Verpflichtungen des BGG zur Gleichstellung und Barrierefreiheit aus Sicht der Bundesfachstelle Barrierefreiheit
Zum Abschluss der Fachveranstaltung referierte Klemens Kruse (Fachbereichsleiter Recht der Bundesfachstelle Barrierefreiheit) zu den Positionen der Bundesfachstelle Barrierefreiheit hinsichtlich der §§ 8, 11 und 12 BGG.
Zivile Neu-, Um- und Erweiterungsbauten im Eigentum des Bundes (einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts) sollen nach § 8 Abs. 1 S. 1 BGG entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei gestaltet werden. Davon eingeschlossen seien auch Arbeitsstätten und Wohnungen, denn die Rechtsauslegung müsse sich an der UN-BRK orientieren.[10]
Der § 11 BGG verpflichtet die Träger öffentlicher Gewalt zur verständlichen Kommunikation mit Menschen mit geistigen sowie Menschen mit seelischen Behinderungen und ggfs. zur Verwendung Leichter Sprache. Unterschieden werde zwischen Kommunikation durch Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke (§ 11 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, Abs. 3 BGG) sowie sonstiger Kommunikation (§ 11 Abs. 1 S. 1 BGG). Ein subjektiv-rechtlicher Anspruch bestehe nicht („Soll-Vorschrift“) und der Anspruch auf Erläuterung von Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken in einfacher und verständlicherweise Weise oder in Leichter Sprache setze ein „Verlangen“ voraus.
Bezüglich der Verpflichtung von Trägern öffentlicher Gewalt i. S. v. § 1 Abs. 2 S. 1 BGG zur barrierefreien Gestaltung der Informationstechnik verwies Kruse darauf, dass davon auch Internetauftritte auf externen Plattformen betroffen sind. Mit Blick auf den Gesetzesentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/2102 sah er ein Problem darin, dass die bisherige Formulierung des Anwendungsbereichs gekürzt werde.[11] Die Gefahr bestehe darin, dass Internetauftritte auf Portalen wie z. B. Facebook aus den Anwendungsbereich der barrierefreien Informationstechnik entfielen.[12]
IV. Zusammenfassung der Fachveranstaltung
Die Schlichtungsstelle BGG und die Bundesfachstelle Barrierefreiheit haben im Rahmen der Fachveranstaltung „Das BGG in Recht und Praxis“ zahlreiche Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis zusammengebracht, die zu den Themen Gleichstellung und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen referierten und diskutierten. Mit der Implementierung des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen in das BGG ist der Gesetzgeber einer Verpflichtung aus der UN-BRK nachgekommen, wobei im Laufe der Veranstaltung mehrmals auf die fehlende Bindung privater Dienstleister hingewiesen wurde. Für die Sozialleistungsträger gilt, dass die einschlägigen spezialgesetzlichen Regelungen im Sozialgesetzbuch (§ 33c SGB I; § 19a SGB IV, § 2a SGB V) das Benachteiligungsverbot des § 7 BGG nicht verdrängen, sondern unter dessen Berücksichtigung auszulegen sind. Auch müssen die Sozialleistungsträger im Verhältnis zu den Sozialleistungserbringern im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Berücksichtigung des Benachteiligungsverbotes und der Barrierefreiheit hinwirken. Festzuhalten bleibt zudem, dass angemessene Vorkehrungen und Barrierefreiheit keine konkurrierenden Konzepte sind, sondern vielmehr komplementär anzuwenden sind.
Neben den positiven Erfahrungen mit dem BGG wurde auch deutlich, an welchen Stellen weitere Veränderungen gewünscht und erforderlich sind. Mehrfach wurde Unzufriedenheit hinsichtlich der Ausgestaltung der §§ 8 und 11 BGG als „Soll-Vorschriften“ geäußert. Auch wenn hier kein subjektiv-öffentlicher Anspruch eingeräumt wird, sollten die Betroffenen auf die strenge Gesetzesbindung der verpflichteten Träger der öffentlichen Gewalt, die regelmäßig mit einer „Soll-Vorschrift“ einhergeht[13], hinweisen und im Zweifel die Ermessensausübung gerichtlich überprüfen lassen. Ein pauschaler Verweis auf andere Vorschriften (z. B. Daten- oder Denkmalschutz) oder auf wirtschaftliche Interessen, die der Durchsetzung von Barrierefreiheit im Wege stehen, muss nicht ohne Weiteres hingenommen werden. Entgegenstehende Interessen sind abzuwägen und im Zweifel hat der Träger öffentlicher Gewalt substantiiert zu begründen, welche besonderen Gründe im Einzelfall der Umsetzung von Barrierefreiheit im Weg stehen.[14] Es wurde deutlich, dass die durch das BGG eingeräumten Rechte und Instrumente noch stärker genutzt werden müssen. Dies bedarf vor allem weiterer Aufklärung der Betroffenen, sicherlich aber auch der Mitarbeiter oder ehrenamtlich Tätigen in Interessensverbänden und -vertretungen sowie der Behördenmitarbeiter. Letztere müssen auch verstärkt im Verhältnis zu Dritten ihre Hinwirkungspflicht beachten und diesbezügliche Möglichkeiten nutzen.
Einem potenziell zu geringen Bekanntheitsgrad des BGG und der mangelnden Rezeption in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung kann mit Fachveranstaltungen, wie der in Berlin, begegnet werden. Die Schlichtungsstelle BGG und die Bundesfachstelle Barrierefreiheit haben einen umfassenden Austausch zum BGG, seinen Rechten, Erfolgen und Problemen ermöglicht und die fachwissenschaftliche Diskussion vorangetrieben. Weitere Diskussionen und Information, auch über die Grenzen der Fachcommunity hinaus, bleiben zukünftig notwendig, um den Rechten auf Gleichstellung und Barrierefreiheit effektiv Wirkung zu verleihen.
Beitrag von René Dittmann, LL.M., Universität Kassel
Fußnoten
[12] Der Gesetzesentwurf wurde an dieser Stelle vom Ausschuss für Arbeit und Soziales erweitert. Dem § 12a BGG, der zukünftig die barrierefreie Informationstechnik regelt, wurde um einen achten Absatz ergänzt. Darin ist vorgesehen, dass Angebote öffentlicher Stellen im Internet, die auf Websites Dritter veröffentlicht werden, soweit möglich barrierefrei zu gestalten sind (Bundestags-Drucksache 19/2728, S. 8).
Angemessene Vorkehrungen, Barrierefreiheit, Privatwirtschaft, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Bundesfachstelle Barrierefreiheit
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