14.04.2023 D: Konzepte und Politik Weyrich: Beitrag D4-2023

Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen – Bericht von der Auftaktkonferenz des Kassel Institute for Sustainability

Die Autorin Katharina Weyrich berichtet in diesem Beitrag von einem Panel der Auftaktkonferenz des Kassel Institute for Sustainability, in dem die Zusammenhänge der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) thematisiert wurden.

In zwei Impulsreferaten von Prof. Felix Welti (Universität Kassel) und Kamil Goungor (European Network on Independent Living) erfolgten eine Einordnung der UN-Nachhaltigkeitsziele als politisches Aktionsprogramm, das im Gegensatz zu vorherigen UN-Strategien auch explizit Menschen mit Behinderungen adressiert. Beide Referenten gingen auf die Wechselwirkung der SDG und der UN-BRK ein – letzte müsse bei der Umsetzung der SDG berücksichtigt werden, sei aber auch selbst unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele auszulegen. Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion stand insbesondere der in den UN-Nachhaltigkeitszielen genutzte Begriff der Vulnerabilität und wurde kritisiert, da er ein biomedizinisches Verständnis von Behinderung zulasse. 

(Zitiervorschlag: Weyrich: Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen – Bericht von der Auftaktkonferenz des Kassel Institute for Sustainability; Beitrag D4-2023 unter www.reha-recht.de; 14.04.2023)

I. Einführung

Vom 14. bis 16. September 2022 widmete sich das an der Universität Kassel neu eingerichtete Kassel Institute for Sustainability[1] in seiner Auftaktkonferenz („Challenges in Sustainability Research") den Chancen, Problematiken und Wirkungen ökologischer, ökonomischer und sozialer Transformation(en) im Sinne der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDG) und deren Herausforde­rungen für die Wissenschaft. Diese Konferenz nahm die AG Teilhabeforschung des Forschungsverbunds für Sozialrecht und Sozialpolitik (FoSS) der Hochschule Fulda und der Universität Kassel zum Anlass[2], um mit Kamil Goungor (European Network on Independent Living, ENIL) und Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) über die Zusam­menhänge der SDG und den in der UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Rechten von Menschen mit Behinderungen zu diskutieren.[3]

II. Impulsreferate

1. Rechte von Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechts­konvention und in den Sustainable Development Goals (SDG)

Einleitend referierte Prof. Dr. Felix Welti über die Verankerung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in internationalen Menschenrechtsverträgen. Insbesondere die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)[4] habe die Rechte von Menschen mit Behinde­rungen spezifiziert und gestärkt. Inzwischen ist die UN-BRK von 185 Vertragsstaaten und der EU ratifiziert und als internationaler Vertrag in nationales Recht umgesetzt worden.

Die SDG stellen eine einstimmige Resolution der UN-Generalversammlung[5] dar, die als Agenda 2030 an die Millenium Goals[6] anknüpft. Es handelt sich dabei um einen politi­schen Aktionsplan mit 17 globalen Zielen für eine bessere Zukunft von Mensch, Planet und Wohlstand, der in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen allen Ländern und Akteuren umgesetzt werden soll[7]. Darin wird auch die Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der weiteren internationalen Menschenrechte und ihrer Instrumente bekräftigt und die staatliche Verantwortung für die Achtung, den Schutz und die Förderung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten für alle betont, ohne dass es hierbei Unterscheidungen, z. B. aufgrund von Behinderung, geben darf.[8]

Indirekt werden Menschen mit Behinderung auch unter Punkt 23 der Resolution adres­siert, wo sie als vulnerable[9] Bevölkerungsgruppe bezeichnet werden, deren Bedürfnisse sich in der Agenda für eine nachhaltige Entwicklung widerspiegeln müssen.

Darüber hinaus beleuchtete Welti einzelne Nachhaltigkeitsziele, in denen die Rechte von Menschen mit Behinderung explizit adressiert werden. Zum einen handelt es sich um das Ziel 4.5, das dem übergeordneten Ziel der Sicherstellung einer integrativen und gerechten Bildung und der Förderung eines lebenslangen Lernens zuzuordnen ist. Dem­nach sollen bis 2030 […] Ungleichheiten in der Bildung und Gewährleistung des gleich­berechtigten Zugangs zu allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung [für] Menschen mit Behinderungen beseitigt werden[10]. Ein ähnliches Ziel verfolgt 8.5 zum Thema Arbeit. Auch hier sollen Menschen mit Behinderungen bis 2030 eine produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit sowie gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit erreichen.[11] Der Ausgleich von Bildungs- und Beschäftigungsbenachteiligungen für Menschen mit Behinderungen wird nochmals in Ziel 10.2 zur Reduzierung von sozia­len, wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten aufgegriffen und gefordert, dass die Eingliederung aller Menschen u. a. unabhängig von ihrer Behinderung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu stärken und fördern ist.[12] Dazu trägt Ziel 11.2 ebenfalls bei. Der Zugang zu sicheren, erschwinglichen, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssyste­men soll auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten und ermöglicht werden.[13] Nicht zuletzt muss zur Umsetzung der Ziele auch die Verfügbarkeit aktueller und zuverlässiger Daten über Menschen mit Behinderungen gestärkt werden. Insbeson­dere in Entwicklungsländern, wo die Ressourcen bislang nur gering ausgebaut sind (Ziel 17.18[14]).

Die unmittelbare Adressierung von Menschen mit Behinderungen mache deutlich, so Felix Welti, dass Rechte für Menschen mit Behinderungen in einem Wechselverhältnis zu den UN-Nachhaltigkeitszielen stehen und als Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung gelten müssen. Im Umkehrschluss sei eine nachhaltige Entwicklung voraus­setzungsvoll für die Umsetzung von Rechten für Menschen mit Behinderungen. Die Nachhaltigkeitsziele können für die Auslegung von Menschenrechten herangezogen werden, wie es bereits die UN-Ausschüsse, einschließlich des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, bereits praktizieren. Die Verknüpfung von SDGs und Menschenrechten kann auch durch die UNESCO, ILO, WHO, WTO etc. und durch wissenschaftliche Zusammenarbeit weiter gestärkt werden.

Die Verknüpfung von Menschenrechten und Nachhaltigkeitszielen steht im Einklang mit dem Konzept der CRPD über die Unteilbarkeit der sozialen und bürgerlichen Rechte und einer partizipativen und integrativen Gesellschaft.

2. Die UN-BRK als Anleitung zur Umsetzung der SDG

Der zweite Impuls des Panels kam von Kamil Goungor. Die beharrliche, strategische und koordinierte Lobbyarbeit von Menschen mit Behinderungen führte zu einer Ände­rung des Narrativs – dass Menschen mit Behinderungen im Gegensatz zu den von 2000 bis 2015 bestehenden Millenium-Goals in den Formulierungen für eine nachhaltige Ent­wicklung aufgegriffen werden. Dadurch wurde Behinderung als Einschränkung gesell­schaftlicher Teilhabe anerkannt. In der Präambel der UN-BRK heißt es, dass Behinde­rung ein sich entwickelndes Konzept ist und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert, die ihre volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft auf gleich­berechtigter Basis mit anderen behindert. Die Einschränkung(en) der Teilhabe resultie­ren somit daraus, dass Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer Umwelt auf umwelt­bedingte, physische, politische, einstellungsbedingte und kommunikative Barrieren stoßen.

Mit diesem Menschenrechtsmodell der Behinderung werden behinderte Menschen zu Expertinnen und Experten ihrer Situation ernannt und in die Ermittlung von behindern­den Faktoren im Alltag und deren Überwindung einbezogen. Das decke sich mit der Zielstellung der Agenda 2030 für eine nachhaltige und transformative Entwicklung, bei der niemand zurückgelassen werden solle. Menschen mit Behinderungen werden explizit als anerkannte und beteiligte Gesellschaftsmitglieder miteingeschlossen. Goungor plä­dierte dafür, dass die Umsetzung einer behindertengerechten Agenda 2030 die wichtig­sten Menschenrechtsgrundsätze der UN-BRK berücksichtigen müsse. Die UN-BRK diene demzufolge als Anleitung, wie die SDG zu erreichen sind. Somit bedingen sich beide – Rechte für Menschen mit Behinderungen und Nachhaltigkeitsziele – gegen­seitig, wenn sie den Grundsatz „niemanden zurücklassen zu wollen“ realisieren. Die UN-BRK biete für die Umsetzung der SDG eine Menschen­rechtsperspektive, die auf Barrieren hinweist und konkrete Lösungen zur Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen enthält.

Die Frage welchen Nutzen die gesamte Bevölkerung hat, wenn Sie die Menschenrechts­perspektive wahrt, beantwortete Goungor mit Gleichheit und Nichtdiskriminierung als Basis zur Erreichung der SDG. Menschen mit Behinderungen sind von systema­tischer Ungleichheit betroffen und erfahren durch Gesetze, Politiken und spezifische Hand­lungsweisen strukturelle Diskriminierung. Dies bedeutet insbesondere einen weit ver­brei­teten Ausschluss von Entwicklungsprogrammen und -fonds sowie von allen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen, sozialen, zivilen und kulturellen Lebens, einschließlich Beschäftigung, Bildung und Gesundheitsversorgung. Menschen mit Behinderungen sind beispielsweise in dem Vorreiterprogramm der Agenda 2030, den sogenannten Millenium-Zielen, nicht zu finden. Infolgedessen waren sie von vielen wich­tigen Entwicklungszielen und Finanzströmen ausgeschlossen. Um diesen gegen­wärtigen Zustand zu überwinden und zu einem integrativen Umfeld beizutragen brauche es spezifische Maßnahmen, individuelle Vorkehrungen und positive Aktionen. Menschen mit Behinderungen seien der festen Überzeugung, so Goungor weiter, dass nur durch die Nutzung der UN-BRK die Umsetzung der SDG sichergestellt werden kann und dadurch Ausgrenzung und Ungleichheit nicht geschaffen oder aufrechterhalten werden. Dazu gehören die Überwindung von u. a. institutionellen, einstellungsbedingten, physi­schen und rechtlichen Barrieren sowie Barrieren im Bereich Information und Kommuni­kation.

II. Diskussionsrunde

Den Impulsen von Prof. Dr. Felix Welti und Kamil Goungor folgte eine lebhafte Diskussion, in deren Mittelpunkt der Begriff der Vulnerabilität rückte. Der Begriff kommt in der Agenda 2030 einundzwanzigmal vor, insbesondere in Verbindung mit Menschen, Ländern oder auch Lebenssituationen, die als vulnerabel bezeichnet werden, weil sie, von dem was in Gesellschaften als „normal“ gilt, abweichen[15]. Allerdings geht die Agenda an keiner Stelle genauer darauf ein, was unter vulnerablen Menschen, Ländern und Situationen im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung zu verstehen ist und wie Nachhaltigkeit zu gestalten ist, um die als vulnerabel Bezeichneten zu erreichen und in die Transformationsprozesse miteinzubinden.

Während sie die Agenda 2030 begrüßt, kritisiert die Behindertenrechtsbewegung, wie Goungor ausführte, den Begriff der Vulnerabilität. Dieses Spannungsverhältnis bildete auch die Diskussion ab. Einerseits zeigten sich die Referierenden und Panelteilnehmen­den erfreut darüber, dass erstmals ein Papier der Weltgemeinschaft die Lebens- und Teilhabebedingungen von Menschen mit Behinderungen aufgreift. Auf der anderen Seite lässt die Zuschreibung von Vulnerabilität die Deutung zu, dass Behinderung in der Agenda 2030 als biologisch bedingtes, persönliches Schicksal[16] wahrgenommen und weniger die Perspektive der UN-BRK, der ICF und der Disability Studies geteilt wird, indem Behinderung über die medizinische Dimension hinaus als sozial konstruiertes Ergebnis von Beeinträchtigungen durch umweltbedingte und gesellschaftliche Barrieren anzuerkennen ist[17]. Die Diskussionsrunde war sich einig, dass die Umsetzungen der Agenda 2030 und die Zielsetzungen in 4.5, 8.5, 10.2 sowie 11.2 im Hinblick auf die chancengerechtere und partizipative Teilhabe von Menschen mit Behinderungen eine Perspektive auf Behinderung einnehmen sollte, die Behinderung als gesellschaftlich konstruiertes Phänomen wahrnimmt, dem es mit der Reduktion von umweltbedingten Barrieren im Zugang gesellschaftlichen Infrastrukturen wie Bildung, Arbeit und Mobilität zu begegnen gilt.

Beitrag von Katharina Weyrich (M. Sc.), Universität Kassel

Fußnoten:

[1]  https://www.uni-kassel.de/forschung/kassel-institute-for-sustainability.

[2]  Unterstützt durch das Projekt ZIP – NaTAR, siehe hier: www.reha-recht.de/zip-natar.

[3]  Das Panel trug den Titel „Sustain(dis)ability – CRPD and the goal to reduce inequalities”.

[4]  Am 13.12.2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (A/RES/61/106), abrufbar unter https://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_61_106.pdf.

[5]  Am 25.09.2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (A/RES/70/1), abrufbar unter https://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_70_1_E.pdf.

[6]  Siehe https://www.un.org/millenniumgoals/ und https://www.bmz.de/de/service/lexikon/mdg-millenniumsentwicklungsziele-mdgs-14674.

[7]  https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/die-un-nachhaltigkeitsziele-1553514.

[8]  A/RES/70/1, Rn. 19.

[9]  Zum Begriff der Vulnerabilität, der ein Schlüsselbegriff der Resolution ist, siehe III. Diskussion.

[10] A/RES/70/1, S. 17.

[11] A/RES/70/1, S. 19.

[12] A/RES/70/1, S. 21.

[13] A/RES/70/1, S. 21.

[14] A/RES/70/1, S. 27.

[15] Köbsell, Swantje (2022): Normalität. In: Hedderich, Ingeborg/Biewer, Gottfried/Hollenweger Judith/Markowetz, Reiner (Hg): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, erneuerte und überarbeitete 2. Auflage, S. 414 ff.

[16] Hirschberg, Marianne/Köbsell, Swantje (2022): Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In: Hedderich, Ingeborg/Biewer, Gottfried/Hollenweger Judith/Markowetz, Reiner (Hg): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, erneuerte und überarbeitete 2. Auflage, S. 573.

[17] Hirschberg, Marianne/Köbsell, Swantje (2022): Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In: Hedderich, Ingeborg/Biewer, Gottfried/Hollenweger Judith/Markowetz, Reiner (Hg): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, erneuerte und überarbeitete 2. Auflage, S. 571.


Stichwörter:

UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Sustainable Development Goals – SDG, Nachhaltigkeit, Behinderung, Vulnerabilität, ICF


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