17.11.2016 D: Konzepte und Politik Heidt: Beitrag D48-2016

Fragen zu aktuellen Entwicklungen des Heil- und Hilfsmittelrechts – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (24. Juni bis 13. Juli 2016)

Steffen Heidt fasst im vorliegenden Beitrag die wesentlichen Aspekte der im Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (FMA) moderierten Online-Diskussion zu dem Thema „Fragen zu aktuellen Entwicklungen des Heil- und Hilfsmittelrechts“ zusammen. Die von der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) veranstaltete Online-Diskussion fand vom 24. Juni bis 13. Juli 2016 statt und schließt ergänzend an die im Jahr 2014 geführte Diskussion an.

Unter Begleitung von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis befassten sich die Teilnehmenden mit Aspekten in Bezug auf den Umfang der Hilfsmittelversorgung und gingen dabei u. a. auf Grundsätze des Wirtschaftlichkeitsgebots, auf das Prozedere der Bearbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses, auf zusätzliche Zahlungen durch die Versicherten (Zuzahlungen und sog. wirtschaftliche Aufzahlungen) sowie auf das Widerspruchsverfahren und den Entwurf des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG) ein. Zudem gab die Stellungnahme der DVfR zur Heilmittelversorgung den Diskutanten Anlass zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Empfehlung einer stärkeren Teilhabeorientierung der Tätigkeit therapeutischer Fachdienste im Rahmen der medizinischen Rehabilitation.

Insgesamt wurde durch die Diskussion deutlich, dass sich aktuell vor allem Defizite bei der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln im poststationären bzw. ambulanten Bereich sowie hinsichtlich der individuellen Information von Betroffenen ergeben. Dies betreffend konnten durch die Online-Diskussion Fragen zur aktuellen Rechtslage sowie Begriffe und Rahmenbedingungen der Heil- und Hilfsmittelversorgung geklärt werden.

Diskussion "Fragen zu aktuellen Entwicklungen des Heil- und Hilfsmittelrechts" (2016)

Diskussion "Praktische und rechtliche Fragen der Hilfsmittelversorgung" (2014)

(Zitiervorschlag: Heidt: Fragen zu aktuellen Entwicklungen des Heil- und Hilfsmittelrechts – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (24. Juni bis 13. Juli 2016); Beitrag D48-2016 unter www.reha-recht.de; 17.11.2016.)

 


Im Mittelpunkt der Online-Diskussion „Fragen zu aktuellen Entwicklungen des Heil- und Hilfsmittelrechts“ standen zum einen Aspekte in Bezug auf den Umfang der Hilfsmittelversorgung. Hierbei wurden Grundsätze u. a. zum Wirtschaftlichkeitsgebot, zum Hilfsmittelverzeichnis und zu zusätzlichen Zahlungen durch die Versicherten erläutert sowie auch der Entwurf des Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG) aufgegriffen. Zum anderen bot die Stellungnahme der DVfR zur Heilmittelversorgung den Diskutanten Anlass, sich mit der Empfehlung einer stärkeren Teilhabeorientierung der Tätigkeit therapeutischer Fachdienste im Rahmen der medizinischen Rehabilitation auseinanderzusetzen. Thematisiert wurden in diesem Zusammenhang vor allem Probleme bei der poststationären Versorgungskette und mögliche Lösungsansätze.

Der Austausch im moderierten Forum „Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“[1] wurde von folgenden Personen fachlich begleitet:

  • Claudia Breuer (Stv. Geschäftsführerin und Leiterin Referat Recht, Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V., Frechen)
  • Norbert Kamps (Diplom-Ingenieur, Beratender Ingenieur für Hilfsmittelversorgung und Medizintechnik, Xanten)
  • PD Dr. Andreas Weber (Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle [Saale])
  • Prof. Dr. iur. Felix Welti (Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung, Universität Kassel)

In einem ersten Schwerpunkt befassten sich die Diskutierenden vertieft mit dem Thema Umfang der Hilfsmittelversorgung. Dabei ging es zunächst um die Frage nach der Bedeutung des Kriteriums der Wirtschaftlichkeit und um die Rolle von Ausschreibungen.

Hierbei wurde zunächst auf das Erfordernis verwiesen, jedes individuell beantragte Hilfsmittel in vier Schritten darauf zu überprüfen, ob es notwendig, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Bei der Notwendigkeit gehe es darum, was im Einzelfall wirklich benötigt wird, um das Versorgungsziel zu erreichen. Dabei müsse sich das Versorgungsziel an den Aufgaben des jeweiligen Reha-Trägers orientieren. Ausreichend sei ein Hilfsmittel immer dann, wenn es nach Art der Ausführung und Umfang der Versorgung genügt, um die jeweilige Zielsetzung zu erreichen. Es müsse also eine punktgenaue Versorgung erzielt werden, wobei Kosten zunächst keine Rolle spielten. Für die Zweckmäßigkeit sei erforderlich, dass die Eigenschaften des jeweiligen Hilfsmittels das Erreichen des Ziels ermöglichen, mithin ein Wirksamkeitsnachweis für den Einzelfall vorliegt. Erst bei Schritt vier gehe es darum, unter allen die vorgenannten Kriterien erfüllenden Produkten die preisgünstigste Ausführung auszuwählen.

„In der Praxis wird das Wirtschaftlichkeitsgebot leider häufig mit ‚billig‘ gleichgesetzt.“ (Dipl.-Ing. Norbert Kamps)

Dies dürfe allerdings nicht zu einer Vernachlässigung der vorab festzustellenden Qualitätsmerkmale führen, da ansonsten die vorgeschriebene Versorgung im Einzelfall (vgl. § 33 SGB V) zugunsten einer Pauschalierung aufgegeben würde. Tatsächlich komme es in der Praxis häufig genau dazu, wenn nämlich Ausschreibungen vor dem genannten ersten Prüfungsschritt erfolgen bzw. sich auf im Hilfsmittelverzeichnis genannte Produkt- bzw. Produktuntergruppen beziehen. Ausschreibungen seien daher tatsächlich oft kein Garant für eine wirtschaftliche Versorgung, die zugleich die Kriterien der Notwendigkeit, des ausreichenden Maßes und der Zweckmäßigkeit erfüllt.

Ein weiterer Kritikpunkt an Ausschreibungen sei, dass sie das in § 33 Abs. 6 SGB V verbriefte Recht der Versicherten, unter allen vertraglich an ihre Krankenkasse gebundenen Leistungserbringern frei zu wählen, zugunsten der Wirtschaftlichkeit einschränken: Sofern die Kasse Verträge nach § 127 Abs. 1 SGB V (= Ausschreibungen) über die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln geschlossen habe, erfolge die Versorgung durch einen Vertragspartner, der den Versicherten von der Krankenkasse zu benennen sei. Zwar könnten die Versicherten bei Vorliegen einer Ausschreibung ausnahmsweise im Fall eines berechtigten Interesses einen anderen Leistungserbringer wählen; dadurch entstehende Mehrkosten hätten sie aber selbst zu tragen. Eine Verbesserung sei im Entwurf des Heilmittel- und Hilfsmittelversorgungsgesetzes (HHVG)[2] vorgesehen: Danach bestehe für die Kassen zwar nicht die Pflicht, aber die Möglichkeit, auch bei Ausschreibungen mehrere Vertragspartner zu benennen.[3]

Der in der Diskussion ebenfalls geäußerten Forderung, Ausschreibungen von Hilfsmitteln grundsätzlich zu verbieten, wurde entgegengehalten, dass das Leistungsrecht von den Ausschreibungen unberührt bleibe. Schlechte Versorgung müsse daher im Einzelfall im Widerspruchs- und Gerichtsverfahren angegangen werden. Die Verbände hätten die Möglichkeit, dies individuell sowie durch die Prozess-Standschaft (§ 63 SGB IX) zu unterstützen. Im Extremfall könne schlechte Versorgung zu Amtshaftungsansprüchen gegen die Krankenkassen führen.[4]

Eine andere Frage stellte die Hilfsmittelversorgung in den Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Konkret ging es darum, ob die Ratifizierung der Konvention und damit die Anerkennung des Rechts auf „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe“ den Gesetzgeber nicht zur Klarstellung verpflichte, dass die Versorgung „optimal“ sein muss. In der Antwort wurde auf den bereits hohen anzustrebenden Standard verwiesen, der sich in § 10 Abs. 1 Satz 2 SGB IX widerspiegele: Demnach muss ein Hilfsmittel als Leistung zur Teilhabe eine den Zielen von Selbstbestimmung und Teilhabe entsprechende umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zügig, wirksam, wirtschaftlich und auf Dauer ermöglichen.

„Wenn mit ,optimal‘ … gemeint ist, dass Wirtschaftlichkeit keine Rolle spielen soll, also auch kleine Verbesserungen mit hohen Mehrkosten geschuldet wären, würde das Sozialrecht überspannt.“ (Prof. Dr. Felix Welti)

Wollte man die Orientierung auf Teilhabeziele in der Hilfsmittelversorgung konsequenter als bisher umsetzen, wäre bei der problematischen Beschränkung auf „Grundbedürfnisse“ (§ 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX)[5] sowie bei § 33 SGB V anzusetzen.

Als weiteren Aspekt zum Umfang der Hilfsmittelversorgung diskutierten die Teilnehmer das Thema Mehrfachausstattung. Konkret ging es um die Konstellation, dass ein Hilfsmittel (hier: Elektrorollstuhl) an einem Zweitwohnsitz benötigt wird. Hierbei wurde zunächst auf § 6 Abs. 8 Satz 1 der Hilfsmittel-Richtlinie verwiesen. Demnach kann eine Mehrfachausstattung mit Hilfsmitteln nur dann verordnet werden, wenn dies aus medizinischen, hygienischen oder sicherheitstechnischen Gründen notwendig oder aufgrund der besonderen Beanspruchung durch die oder den Versicherten zweckmäßig und wirtschaftlich ist. Im geschilderten Fall wäre demzufolge maßgeblich, ob durch eine Zweitversorgung der Verschleiß des Hilfsmittels beim Transport vermieden werden kann. Insgesamt müsse darauf abgestellt werden, ob der erforderliche Behinderungsausgleich im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse nicht anders als durch eine Doppelversorgung erfüllt werden kann, wobei die Betroffenheit des gesamten alltäglichen Lebens ausschlaggebend sei (was bei der Situation eines Zweitwohnsitzes im Einzelfall geklärt werden müsse).

Hingewiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf Besonderheiten im Recht der gesetzlichen Unfall- und Krankenversicherung: In der gesetzlichen Unfallversicherung gelte über die genannten Kriterien hinaus der Entschädigungsgedanke: Der Gesundheitsschaden sei „mit allen geeigneten Mitteln“ auszugleichen (§ 26 Abs. 2 SGB VII). Für die gesetzliche Krankenversicherung sei zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Richtlinien für die Hilfsmittelversorgung den Anspruch des Einzelnen nicht abschießend begrenzen.

Die hierfür angeführte Entscheidung aus dem Jahr 1997[6] behandelte konkret das Hilfsmittelverzeichnis, dessen Bedeutung für die Hilfsmittelversorgung auch in verschiedenen Beiträgen der Diskussion Thema war. Hierzu wurde klargestellt, dass es sich beim Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V um eine unverbindliche Auslegungshilfe handelt, die für den Individualanspruch der Versicherten keine Bindungswirkung entfaltet. Auch wenn das Hilfsmittelverzeichnis Definitionen und Aussagen zu Leistungsrecht, medizinischen Indikationen, Produktanforderungen und -informationen sowie allgemeine Hinweise zur Verordnung enthalte, seien diese nicht abschließend und stellten keine Positivliste dar, sondern vielmehr eine Handlungsempfehlung für alle Beteiligten im Versorgungsprozess (vgl. auch § 6 Absatz 5 der Hilfsmittelrichtlinie).

„... (Das) Hilfsmittelverzeichnis (kann) nicht die Probleme lösen, die durch ,schlechte‘ Verträge verursacht werden. Eine Überarbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses – egal in welchen Bereichen – verbessert noch lange nicht die Versorgung.“ (Dipl.-Ing. Norbert Kamps)

Zum Prozedere der Bearbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses wurde erläutert, dass die im Hilfsmittelverzeichnis aufgestellten Anforderungen alleine durch den GKV-Spitzenverband erstellt werden. Dieser stimme sich dafür in der Regel mit den Kassenartenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen ab. Zudem sei vor einer Weiterentwicklung und Änderungen der Systematik und der Anforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses den Spitzenorganisationen der betroffenen Hersteller und Leistungserbringer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (vgl. § 139 Abs. 8 SGB V); die Stellungnahmen seien dann in die Entscheidung einzubeziehen. Weiterhin bestehe die Möglichkeit, dass sich der GKV-Spitzenverband bei der Erstellung bzw. Fortschreibung von Produktgruppen durch den Medizinischen Dienst (MDS bzw. MDK) beraten lässt. Dies sei aber nicht vorgeschrieben und tatsächlich werde oft auch kein Gebrauch von dieser Möglichkeit gemacht. Welche Konsequenzen aus einer Beratung gezogen werden, liege in jedem Fall im Ermessen des GKV-Spitzenverbandes.

Auch das Widerspruchsverfahren wurde an verschiedenen Stellen der Diskussion angesprochen und mit Blick auf seine Möglichkeiten und Grenzen folgende Hinweise zur Klärung gegeben: Widerspruch könne kostenfrei (§ 64 SGB X) eingelegt werden, über den dann z. B. die Krankenkassen entscheiden müssen. Die Praxis zeige hier hohe Erfolgsquoten. Der Widerspruchsführer könne sich vertreten lassen oder Beistände nutzen (§ 13 SGB X), denkbare Unterstützer seien hier Gewerkschaften, Sozialverbände und Selbsthilfeorganisationen. Ein Vertreter von Amts wegen sei für Personen zu bestellen, die auf Grund Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, im Verwaltungsverfahren selbst tätig zu werden (§ 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X). Dies müsse auf Antrag der Behörde, also z. B. der Krankenkasse, geschehen. Kritisch gesehen wurde die Idee einer Diskutantin, die Unterstützung für Rechtsverfolgung durch die Einführung einer bei den Aufsichtsbehörden angesiedelten Verfahrenspflegschaft zu „verstaatlichen“.

Im Hinblick auf Bedenken wegen des Umgangs mit hochsensiblen Daten von Betroffenen wurde klargestellt, dass das Widerspruchsverfahren nicht-öffentlich ist. Erst im Klageverfahren könnten persönliche Daten öffentlich werden. Die „Öffentlichkeit“ beschränke sich aber im Allgemeinen auf die zur Verschwiegenheit verpflichteten Verfahrensbeteiligten und das Gericht. Eine wirkliche Öffentlichkeit könnten persönliche Daten nur in der mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht finden. Dort könne die Öffentlichkeit nach § 61 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 171b Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ausgeschlossen werden, wenn Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommen. Werde das Urteil veröffentlicht, so erfolge dies anonymisiert.

„Die Bewilligungsquote von Anträgen und die Erfolgsquote von Widersprüchen sagen nur bedingt etwas über die Qualität der Verwaltung aus, denn es gibt ja auch Anträge und Widersprüche, die von vornherein unbegründet sind. Trotzdem wäre es hilfreich, wenn die Statistik genauer nach Leistungsarten unterscheiden würde.“ (Prof. Dr. Felix Welti)

Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildete die Frage nach zusätzlichen Zahlungen durch die Versicherten.

Hierbei wurde auf die grundsätzliche Unterscheidung der Zuzahlungen und Eigenanteile der Versicherten von den sog. wirtschaftlichen Aufzahlungen verwiesen: Gemäß § 33 Abs. 8, 61 SGB V müsse grundsätzlich jeder Versicherte, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, zu jedem Hilfsmittel eine Zuzahlung leisten, wobei zwischen zum Verbrauch bestimmten Hilfsmitteln und nicht zum Verbrauch bestimmten Hilfsmitteln zu unterscheiden sei. Zuzahlungen könnten, da gesetzlich vorgeschrieben, nicht erlassen werden. Die Zahlung müsse direkt an den Leistungserbringer (z. B. Sanitätshaus) gezahlt werden, der die Summe dann mit der Krankenkasse verrechne. Die Höhe der Zuzahlung liege in der Regel zwischen fünf und maximal zehn Euro. Von einer wirtschaftlichen Aufzahlung sei dagegen die Rede, wenn der Versicherte ein höherwertiges Hilfsmittel bzw. zusätzliche Leistungen bestellt, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen. In diesem Fall habe er die Mehrkosten selbst zu tragen (vgl. § 33 Absatz 1 Satz 5 SGB V).

Da vielen Menschen der Unterschied zwischen Zuzahlung und wirtschaftlicher Aufzahlung nicht bekannt sei, würden Leistungserbringer häufig nur eine zusätzliche Zahlung verlangen und diese insgesamt als „Zuzahlung“ bezeichnen. Auf diese Weise werde häufig – von den Versicherten unbemerkt – der Gewinn für den Leistungserbringer angehoben, wenn nur das „Kassenprodukt“ abgegeben und keine zusätzliche Leistung bestellt oder gewollt wurde. Es sei daher empfehlenswert, sich im Zweifel bei der Krankenkasse nach der Art der zusätzlichen Zahlung zu erkundigen. Handele es sich bei dem Hilfsmittel um eine erforderliche Maßanfertigung (im genannten Fall: Kompressionsstrumpfhose), sei grundsätzlich ebenfalls nur die genannte (gesetzliche) Zuzahlung zu leisten. Wenn der mit der Kasse ausgehandelte Betrag z. B. für das Sanitätshaus nicht kostendeckend ist, dürfe dies nicht auf die Versicherten abgewälzt werden. Dass es in der Praxis oft gleichwohl zu einer von den Kassen geduldete und von den Leistungserbringern durchgeführte Art der Quersubventionierung auf Kosten der Patienten komme, sei nicht zu tolerieren.

Das Problem gesetzlich nicht vorgesehener „Zuzahlungen“ sei in der Rechtsprechung zur Hörgeräteversorgung ein Dauerthema.[7] Das BSG habe hierzu festgestellt, dass Anspruchsgegnerin der Versicherten die Krankenkasse ist; sie muss sicherstellen, dass der Leistungsanspruch bedarfsgerecht ohne gesetzlich nicht vorgesehene Zuzahlungen sichergestellt werden kann (Auftrag gemäß § 17 SGB I). Dem Gericht zufolge ist die Kasse auch für die Realisierbarkeit des Anspruchs verantwortlich. Des Weiteren wurde darauf hingewiesen, dass wettbewerbswidrige Absprachen von Leistungserbringern von den Kartellbehörden zu unterbinden seien. Festbeträge und Vertragspreise der Krankenkassen müssten das Kriterium der Angemessenheit erfüllen; im Falle der Bestimmung von Festbetragsgruppen bzw. der Festsetzung der Festbeträge seien die Verbände behinderter Menschen gemäß § 140 f. Abs. 4 SGB V beratend zu beteiligen.

„(Gerade) im Übergang zum ambulanten Sektor sind aktuell die meisten Reibungsverluste in der Versorgungskette.“ (Dr. Andreas Weber)

Im Kontext der Stellungnahme der DVfR zur Heilmittelversorgung[8] schließlich wurde darauf hingewiesen, dass der Gesetzesrahmen zwar generell die nahtlose Fortführung notwendiger Behandlungsmaßnahmen nach Ende der medizinischen Rehabilitation ermögliche, es gleichwohl insbesondere in der Versorgung mit ambulanten Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie wiederholt zu Abbrüchen, Verzögerungen oder aber Fehlversorgung im unmittelbaren poststationären Zeitraum komme. Dabei stelle die Sicherung der Kontinuität ambulanter Heilmittelversorgung (etwa bei Schlaganfallpatienten) nur einen Baustein von mehreren zum Erreichen von Teilhabe dar; wesentlich seien ebenso die Vorbereitung der Rehabilitanden und deren Angehörigen auf die veränderte Situation zu Hause. Anders als im anglo-amerikanischen Raum (dort unter dem Begriff „transitional care“) fehle es in Deutschland allerdings bisher an strukturierten Vorgaben für solche vorbereitenden Maßnahmen.

Hierzu wurde angemerkt, dass die geschilderten Probleme auch aus der Beteiligung unterschiedlicher Kostenträger resultierten und sich bei einem möglichen Lösungsweg wie dem „transitional care“ die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem gegliederten System stelle. Das Programm zur intensivierten Rehabilitationsnachsorge IRENA der Deutschen Rentenversicherung Bund könne bereits im Anschluss an eine stationäre oder ganztägig ambulante Leistung zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch genommen werden.[9] Es bedürfe allerdings der Weiterentwicklung in Bezug auf die Inanspruchnahme von Heilmitteln und müsse auch noch stärker auf die individuellen Bedürfnisse und den Bedarf des Patienten fokussiert werden.

„(Es) besteht ein wachsender Konsens, dass es einer Neuordnung der Arbeits- und Verantwortungsteilung der an der Gesundheitsversorgung beteiligten Berufe bedarf, aus der auch multiprofessionelle Versorgungsmodelle resultieren können.“ (Claudia Breuer)

Schließlich müsse beobachtet werden, ob sich die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossenen Regelungen zur Verordnung im Rahmen des Entlass­managements zur Heilmittel-Richtlinie[10] im Übergang von stationärer zu ambulanter Behandlung bewähren und ggf. ein weitergehender Bedarf aufzuzeigen sei. Parallel müsse der Beschluss der 89. Gesundheitsministerkonferenz zur Schaffung von Modellprojekten zur Erprobung des Direktzugangs im Heilmittelbereich von Bedeutung und dessen mögliche Umsetzung im HHVG abgewartet werden.[11] Die Notwendigkeit einer (strukturellen) Neugestaltung von Versorgungsmodellen mit weiterentwickelten Formen der Zusammenarbeit der Fachberufe werde zunehmend erkannt und befürwortet.

Neben dem dargestellten Austausch zu einem der zentralen Anliegen der Heilmittel-Stellungnahme der DVfR konnten im Zuge der Erläuterungen zur bestehenden Rechtslage bei der Hilfsmittelversorgung wichtige Begriffe und Rahmenbedingungen geklärt und auch Hinweise zu den Erfolgschancen der teils geäußerten sozialpolitischen Forderungen gegeben werden. Die Ausführungen ergänzen damit die Ergebnisse der Diskussion aus 2014 um wichtige, auch aktuelle Aspekte. Themen rund um die Hilfs- und Heilmittelversorgung werden das Diskussionsforum auch weiterhin beschäftigen, einschließlich Impulsen aus dem hier zusammengefassten Austausch.

Die DVfR setzt die Reihe der Schwerpunkt-Diskussionen im moderierten Online-Forum „Fragen – Meinungen – Antworten Rehabilitations- und Teilhaberecht“ im November 2016 mit dem Thema Betriebliches Eingliederungsmanagement und Prävention fort.

Beitrag von Steffen Heidt, Deutsche Vereinigung für Rehabilitation, Heidelberg

Fußnoten:

[1] Der Diskussionsverlauf mit allen – auch den hier nicht aufgegriffenen – (Einzelfall-)Fragen sowie sozialpolitischen Forderungen kann nachgelesen werden unter fma.reha-recht.de/index.php/Board/88-Fragen-zu-aktuellen-Entwicklungen-des-Heil-und-Hilfsmittelrechts/; das Thema Hilfsmittelversorgung wurde bereits 2014 im moderierten Online-Forum behandelt, vgl. Grupp: Praktische und rechtliche Fragen der Hilfsmittelversorgung, Beitrag D19-2014 unter www.reha-recht.de, 26.08.2014.

[2] Abrufbar unter www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Pressemitteilungen/2016/2016_3/160831_HHVG_Kabinett.pdf.

[3] Mit den Neuregelungen zu Ausschreibungen im HHVG setzt sich die DVfR kritisch in ihrer Stellungnahme vom Juli 2016 auseinander: www.dvfr.de/fileadmin/download/Stellungnahmen/DVfR-Stellungnahme_zum_HHVG_-Juli_2016.pdf.

[4] Vgl. Welti: Hilfsmittelversorgung – Amtshaftung der Krankenkasse bei schuldhaft verspäteter Leistung, Beitrag A9-2010 unter www.reha-recht.de, 15.09.2010.

[5] Problematisch ist die Beschränkung dann, wenn die Grundbedürfnisse nicht im Lichte der Teilhabeziele weit ausgelegt werden, vgl. z. B. Giese: Kostenerstattung für schwenkbaren Autositz, Beitrag D36-2015 unter www.reha-recht.de, 02.10.2015.

[6] BSG, Urt. v. 29.09.1997, Az. 8 RKn 27/96.

[7] Vgl. z. B. BSG, Urt. v. 24.01.2013, Az. B 3 KR 5/12 R (Besprechung: Waldenburger: Einschränkungen in der Hörmittelversorgung, Beitrag A26-2013 unter www.reha-recht.de, 27.11.2013).

[8] Abrufbar (als Expertise und Positionspapier) unter www.dvfr.de/stellungnahmen/single-news/dvfr-legt-vorschlaege-fuer-teilhabeorientierte-heilmittelversorgung-vor/.

[9] Vgl. Informationen zu IRENA auf http://www.deutsche-rentenversicherung.de/Bund/de/Inhalt/2_Rente_Reha/02_reha/05_fachinformationen/03_infos_fuer_reha_einrichtungen/6_nachsorge/irena_index.html?cms_submit=Los&cms_resultsPerPage=5&cms_templateQueryString=irena.

[10] Beschluss vom 17.12.2015, abrufbar unter https://www.g-ba.de/informationen/beschluesse/2448/.

[11] Die Konferenz fand zwischenzeitlich (am 29./30.06.2016) statt; Ergebnisniederschrift abrufbar unter www.gmkonline.de/documents/Ergebnisniederschrift_89_GMK_2016_Warnemuende.pdf.


Stichwörter:

Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG), Heilmittel, Hilfsmittel, Hilfsmittelversorgung, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Medizinische Rehabilitation, Versorgungsmedizinische Grundsätze, § 31 SGB IX, § 33 SGB V, Wirtschaftlichkeitsgebot, Hilfsmittelverzeichnis, Aufzahlung, Zuzahlung, Diskussionszusammenfassung


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