14.05.2024 D: Konzepte und Politik Köller: Beitrag D6-2024

Verbandsklagen im Behindertenrecht – Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit – Fachtagung im Projekt „Barrierefreiheit durchsetzen, Diskriminierung ahnden“

Romina Köller, Universität Kassel, berichtet in diesem Beitrag über die Fachtagung „Verbandsklagen im Behindertenrecht – Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit“. Dort wurde die Verbandsklage als Instrument zur strategischen Prozessführung thematisiert und über die bisherigen Erfahrungen damit berichtet. Außerdem wurde die zweite Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes vorgestellt und Vorschläge zur Förderung der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen diskutiert. Schließlich berichtet die Autorin über Forschungsergebnisse zu einem Vergleich von strategischen Klageverfahren durch Behindertenorganisationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

(Zitiervorschlag: Köller: Verbandsklagen im Behindertenrecht – Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit – Fachtagung im Projekt „Barrierefreiheit durchsetzen, Diskriminierung ahnden“; Beitrag D6-2024 unter www.reha-recht.de; 14.05.2024.)

I. Einführung

Im Rahmen des Projektes „Barrierefreiheit durchsetzen, Diskriminierung ahnden“ veranstaltete der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) am 8. September 2023 in Berlin die Fachtagung „Verbandsklagen im Behindertenrecht – Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit“, um gemeinsam mit Akteuren aus Wissenschaft und Praxis Handlungsbedarfe und -optionen auf gesetzlicher, politischer und praktischer Ebene zu ermitteln und zu diskutieren.[1]

II. Das Projekt „Barrierefreiheit durchsetzen, Diskriminierung ahnden“

Zunächst berichtete Christiane Möller (DBSV) über die Arbeit im Projekt „Durchsetzung von Barrierefreiheit, Ahndung von Diskriminierung“, das der DBSV in Kooperation mit der Rechtsberatungsgesellschaft „Rechte behinderter Menschen“ (rbm) mit finanzieller Unterstützung der Aktion Mensch durchgeführt hat.

An der anschließenden Podiumsdiskussion unter der Moderation von Möller beteiligten sich Dr. Michael Richter (Juristischer Leiter im Projekt bei der „Rechte behinderter Menschen gGmbH“), Dr. Thomas Hiby (Juristischer Mitarbeiter im Projekt bis März 2023), Klaus Hahn (Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e. V.), Anna Schneider (Mitarbeiterin im DBSV) und Alexander Ahrens (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. – ISL).

1. Strategische Prozessführung zur Durchsetzung von Barrierefreiheit

Laut Möller hat der DBSV die strategische Prozessführung als ein Mittel erkannt, um auf bestehende Lücken in der Gesetzgebung aufmerksam zu machen und diese schrittweise zu schließen. Das lasse sich auch auf Barrierefreiheit übertragen, um vermehrt nicht nur in die Gesetzgebung zu intervenieren, sondern auch bestehende Instrumente wie die Verbandsklage zu nutzen.

Im Vorgängerprojekt „Unser gutes Recht: Verbandsklagen als strategisches Instrument der Selbsthilfe“ [2] sei es primär um die Herstellung der Verbandsklagefähigkeit gegangen. Im aktuellen Projekt bestehe das Ziel vor allem in der systematischen Ahndung von Verstößen gegen bestehende Vorschriften zur Barrierefreiheit. Dazu werden geeignete Fälle ausgewählt und juristisch durch die Verbände und Projektpartner begleitet. Dabei solle auch eine Rechtsprechungskultur etabliert werden, die zu weiteren Verbands­klagen motiviere.

2. Erfahrungen mit Verbandsklagen in den Ländern

Erste Erfahrungen mit Verbandsklagen wurden, so Möller, in Nordrhein-Westfalen vor dem Verwaltungsgericht (VG) Münster[3] sowie vor den Verwaltungsgerichten Berlin und Bremen gemacht. Die Fälle betrafen jeweils den Umgang mit E-Scootern in den Städten. In Münster ging es um eine fehlende Sondernutzungserlaubnis, in Berlin und Bremen richteten sich die Verfahren gegen den Umgang mit dem E-Scooterverleih im sogenann­ten Free-Floating-Modell. Die Wahl der Orte, an denen eine Verbandsklage erhoben wurde, sei auch insofern strategisch gewesen, als in Nordrhein-Westfalen nach dem Landesbehindertengleichstellungsgesetz sowohl eine Feststellungsklage als auch eine Leistungsklage möglich sei (vgl. § 6 Abs. 1 S. 1 Behindertengleichstellungsgesetz des Landes NRW).

Hiby berichtete über die erste Klage des Verbandes vor dem VG Münster. Er erläuterte, dass das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen am 20. November 2020 einen wegweisenden Beschluss gefasst habe, wonach das Einbringen von Leihfahr­rädern in den öffentlichen Verkehrsraum eine Sondernutzung ist.[4] Diese Entscheidung lasse sich auf die Situation der Elektroroller übertragen. Die Klage in Münster habe das Ziel verfolgt, die E-Scooter von den Gehwegen zu entfernen. In der ersten Instanz sei ein Teilerfolg mit der Feststellung erzielt worden, dass die Stadt Münster eine Sonder­nutzungserlaubnis erteilen müsse. Derzeit ruhe das Verfahren in zweiter Instanz vor dem OVG Nordrhein-Westfalen, da die Stadt Münster angekündigt habe, im Rahmen eines Verkehrsversuches feste Abstellplätze für E-Scooter einzurichten. Die Verfahren hätten auch gezeigt, dass einstweiliger Rechtsschutz im Verbandsklageverfahren möglich sei.

Über die Erfahrungen mit den vom ISL geführten Schlichtungs- und Verbandsklage­verfahren gegen die Deutsche Bahn bzw. das Eisenbahnbundesamt und das zuständige Bundesverkehrsministerium[5] berichtete anschließend Ahrens. Die Information und Beteiligung durch die Deutsche Bahn zum Thema Barrierefreiheit sei eher eine Scheinbeteiligung als eine wirkliche Partizipation. Üblicherweise gebe es Probleme mit der Barrierefreiheit von Bahnhöfen, Einstiegshilfen und Niederflur-ICEs. In diesem Zusammenhang habe der Verband ein Schlichtungsverfahren eingeleitet.

3. Öffentlichkeitsarbeit und Finanzierung von Verbandsklagen

Das Projekt beleuchtete nicht nur rechtliche Aspekte, sondern lieferte auch Erkenntnisse über die Bedeutung von Öffentlichkeitsarbeit. Dabei sei es nicht durchgehend gelungen, sich an die gemeinsam vereinbarte Strategie zu halten, zum laufenden Verfahren in Münster zunächst keine größere Öffentlichkeitsarbeit zu initiieren, wie Hahn selbst­kritisch anmerkte.

Auch Finanzierungsmöglichkeiten für Verbandsklagen wie Crowdfunding wurden geprüft. Dabei hätten Recherchen ergeben, dass zum damaligen Zeitpunkt keiner der gängigen Anbieter über eine barrierefreie Website verfügte. Dadurch werde es Menschen mit Behinderungen schon erschwert, überhaupt am Crowdfunding teilzuneh­men.

Daran anschließend berichtete Schneider aus dem Projekt „Durchsetzungsbegleitung Digitaler Barrierefreiheit“[6], dass die Schwierigkeit für Menschen mit Behinderungen z. B. bereits darin bestehe, digitale Barrieren auf Websites zu melden oder Barrieren allgemein verständlich zu beschreiben. Zu Schlichtungsverfahren im Rahmen des Verbandsklageprojektes führten etwa die Prüfungen der Personalausweis-App des Bundes sowie der NINA-Warn-App.

III. Die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes – Erkenntnisse zum verbandlichen Rechtsschutz

Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) berichtete in seinem Vortrag über die zweite Evaluierung des novellierten Bundesbehindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS).[7]

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) wurde im Jahr 2002 erlassen, um Benach­teiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern. Im Jahr 2016 wurde es novelliert, insbesondere durch Anpassungen an die UN-Behinderten­rechtskonvention. Mit der Novellierung wurden ein Schlichtungsverfahren nach dem BGG eingeführt sowie die Möglichkeit einer Feststellungsklage, die auch die Fest­stellung eines rechtswidrigen Unterlassens ermöglicht. Im Auftrag des BMAS sollte mit der zweiten Evaluation überprüft werden, ob die Ziele des BGG und der Novellierung von 2016 erreicht werden. Außerdem sollten Vorschläge zur Verbesserung der Maßnahmenumsetzung erarbeitet werden.

Die Evaluation zeigte, dass das BGG sowie die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder in der politischen Praxis zu wenig Beachtung finden. Auch in der Rechtsprechung werde kaum Bezug auf das BGG genommen, ebenso wie das Instrument der Verbands­klage kaum genutzt werde.

Das obligatorische Schlichtungsverfahren nach dem BGG habe zwar Vorteile für die unmittelbar Betroffenen. Es berge aber den Nachteil, dass das Ergebnis nur im Bericht der Schlichtungsstelle festgehalten werde und nicht die Wirkung für das Rechtsleben entfalte wie ein Gerichtsverfahren. Eine verlorene Klage mit veröffentlichtem Urteil habe im Rechtsleben mehr Wirkung als ein gewonnenes Schlichtungsverfahren, so Welti.

Zur Führung von Verbandsklagen sind etwa 30 Verbände vom Beirat nach § 86 SGB IX anerkannt.[8] Unter diesen Verbänden befänden sich auch größere mit entsprechenden finanziellen Ressourcen (z. B. VdK, SoVD, DGB, PARITÄT, Diakonie). Bei einigen Verbänden bestünde Unsicherheit darüber, ob sie satzungsgemäß berechtigt seien, Verbandsklagen zu führen.

Nach § 15 BGG kann aus den dort genannten Gründen Verbandsklage erhoben werden. Als Klageart komme nach § 15 Abs. 1 S. 1 BGG ausschließlich die Feststellungsklage in Betracht. Diese Einschränkung sei auch im Rahmen der Evaluation als problematisch identifiziert worden. Die Feststellungsklage habe aber durchaus ihre Berechtigung, da es in manchen Fällen schwierig sein könne, ein konkretes Klageziel zu benennen, so Welti. Oft sei vorab nicht genau feststellbar, worin genau die barrierefreie Lösung bestehe.

Der Bekanntheitsgrad der Verbandsklage habe sich laut Befragung der Verbände nicht erhöht. Hindernisse für die Erhebung einer Verbandsklage seien insbesondere das Fehlen geeigneter Fälle, unzureichende Rechtskenntnisse und fehlende finanzielle Ressourcen.

IV. Vorschläge zur Förderung der Gleichstellung von Menschen mit Behinde­rungen

1. Empfehlungen aus der Evaluierung zur Änderung des BGG

Abschließend schlug Welti vor, den Geltungsbereich nach § 1 BGG auf alle Zuwen­dungsempfänger des Bundes sowie das Benachteiligungsverbot nach § 7 BGG auf die Landesverwaltungen auszuweiten. Die Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit in Gebäuden der Bundesverwaltung nach § 8 Abs. 4 BGG sollte auf alle vom Bund angemieteten Gebäude ausgedehnt werden. In den §§ 9 bis 11 BGG sollten Regelungen zur Fristverlängerung bei nicht barrierefreien Bescheiden ergänzt werden. Außerdem sollte der Anwendungsbereich des § 17 SGB I um digitale Sozial- und Gesundheits­dienstleistungen erweitert werden. Der Aufgabenbereich der Bundesfachstelle sollte sich auch auf die Unterstützung der Schlichtungsstelle, der Beauftragten und der Anti­diskriminierungsstelle sowie auf die Förderung von Forschung und die Schulung von Unternehmen erstrecken.

Zur Erleichterung der Zulässigkeit von Verbandsklagen schlug Welti die Einführung einer Generalklausel vor. Bei Verstößen der Dienststelle gegen das BGG sollten auch Schwer­behindertenvertretungen Verbandsklage erheben dürfen. Neben der Feststellungsklage sollten auch Leistungs- und Unterlassungsklagen als Klagearten zulässig sein. Die Prozesskosten sollten transparent gestaltet werden. Zudem sollten Möglichkeiten erwogen werden, Verbände von den Gerichtskosten zu befreien oder spezifische Möglichkeiten einer Prozesskostenhilfe bei Verbandsklagen anzubieten. Sofern ein Land kein Schlichtungsverfahren vorhalte, sollten auch Landesbehörden mögliche Gegner im Verfahren vor der Schlichtungsstelle nach dem BGG sein können.

Das BGG habe noch nicht den gewünschten Stellenwert. Ein modernes Verständnis von Behinderung setze sich erst allmählich durch, stellte Welti abschließend fest. Weitere Maßnahmen zur Information über das BGG in den Behörden und eine noch engere Verzahnung des BGG mit dem Landesrecht seien unerlässlich.

2. Rechtsumsetzung und Föderalismus

Welche rechtlichen Änderungsbedarfe für einen effektiven Rechtsschutz bestehen, war zudem Gegenstand der Diskussion im Rahmen eines Workshops. Den Einstieg bildeten zwei Thesen.

In der Diskussion der ersten These 'Das Recht auf Barrierefreiheit ist lückenhaft und teilweise widersprüchlich' wurde deutlich, dass die Regelungen zum Recht auf Barriere­freiheit für sich genommen zunächst klar erscheinen, in der Anwendung jedoch Unklar­heiten und Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten können. Der Gesetzgeber könne nicht alle Aspekte regeln, da jedes Recht lückenhaft und widersprüchlich sein müsse, um das menschliche Leben selbst abzubilden. Ein Rechtssystem sei lernfähig und entwickle sich durch Konflikte weiter. Daher sei das Austragen von Konflikten wichtig. Auch die Möglichkeit, der Rechtsdurchsetzung vor Gericht stelle eine Errungenschaft der Demo­kratie dar.

Ein Problem wurde darin gesehen, dass die vorhandenen Rechte, wie z. B. das Recht auf Barrierefreiheit im ÖPNV, nicht berücksichtigt und Schlichtungsmechanismen lang­fristig keine Verbesserungen bringen würden.

In der Diskussion der zweiten These 'Der Föderalismus ist ein Hemmnis' wurde einer­seits vorgebracht, dass im Föderalismus die Besonderheiten der einzelnen Regionen besser berücksichtigt und bearbeitet werden könnten als in zentralistischen Staaten. Eine Möglichkeit zur Überwindung der auftretenden Schwierigkeiten wäre die Beauf­tragung des Bundesbehindertenbeauftragten mit der Koordinierung der Behinderten­beauftragten der Länder.

Andererseits habe das Deutsche Institut für Menschenrechte in einer vergleichenden Untersuchung der Behindertengleichstellungsgesetze der Länder festgestellt, dass diese in Teilen sehr unterschiedlich ausgestaltet sind.[9] Es sei jedoch wichtig, dass Teilhaberechte auch auf Ebene der Länder einheitlich und vergleichbar geregelt werden.

3. trukturelle Voraussetzungen der Verbände zur Durchführung von Verbands­klagen

Welche (strukturellen) Veränderungen bei den Verbänden notwendig sind, um Verbands­klagen führen zu können, war Thema eines zweiten Workshops.

Es fehle nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern oft auch an juristischem Experten­wissen. Die Übersetzung der Probleme aus der Lebenswelt der Betroffenen in rechtliche Sachverhalte nach dem BGG sowie die Durchführung von Schlichtungsverfahren und Verbandsklagen erforderten spezifisches Fachwissen und Kompetenzen. Kleinere oder unerfahrene Verbände sollten vermehrt das Schlichtungsverfahren als Möglichkeit nutzen, um Erfahrungen zu sammeln, bevor sie sich an Verbandsklagen beteiligen. Es sei jedoch angesichts der begrenzten rechtsfortbildenden Wirkung von Schlichtungs­verfahren erforderlich, dass sich Verbände langfristig nicht ausschließlich auf die Individualvertretung konzentrierten.

V. Strategische Klageverfahren durch Behindertenorganisationen – vergleichende Perspektive

Dr. Lilit Grigoryan (Universität Köln) berichtete über ihre Forschungsergebnisse[10] zu strategischen Klageverfahren durch Behindertenorganisationen als Instrument für die Rechtssetzung in Deutschland, Österreich und Dänemark.

1. Beteiligung von Verbänden an Gesetzgebungsverfahren

Zunächst ging sie auf die Beteiligungsmöglichkeiten von Verbänden an Gesetzgebungs­verfahren in vergleichender Perspektive ein. Die UN-Behindertenrechtskonvention verpflichte alle Vertragsstaaten dazu, Menschen mit Behinderungen an Gesetzgebungs­verfahren auf Bundes- und Landesebene zu beteiligen. Dies beziehe sich auf alle politischen Entscheidungsprozesse, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen. Direkt betroffen seien sie beispielsweise von Entscheidungsprozessen in den Bereichen, die Fragen der Assistenz oder der angemessenen Vorkehrungen regeln. Indirekt betroffen seien sie bspw. von Entscheidungen im Bauchrecht oder im Bildungsbereich.

In Deutschland seien die Verbände von Menschen mit Behinderung auf Bundesebene an allen relevanten Stellen in die Gesetzgebungsprozesse maßgeblich eingebunden. Die Beteiligung der Verbände auf Landesebene falle insgesamt weniger intensiv aus, was insbesondere auf die weniger ausgeprägte Kooperation und Kommunikation der Verbände untereinander und mit den Bundesverbänden sowie auf die geringere finanzielle Ausstattung der Verbände auf Landesebene zurückzuführen sei. Diese begrenzten Mittel würden vor allem in Bereichen eingesetzt, die direkte Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen haben. Die Beteiligung in Bereichen mit indirekten Auswirkungen sei daher noch geringer.

In Österreich und Dänemark gebe es jeweils einen Behindertendachverband, der als Ansprechpartner in Gesetzgebungsverfahren sowohl auf Bundes- als auch auf Landes­ebene fungiere. Aufgrund der ausschließlichen Beteiligung über den Dachverband würden die kleineren Verbände jedoch nicht in die Entscheidungsprozesse mit ein­bezogen.

2. Zugang zum Recht und Verbandsklagen

Anschließend ging Grigoryan auf den Zugang zum Recht ein. Dieser werde durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, insbesondere Artikel 9, sowie durch die UN-Menschenrechtsverträge und das Primär- und Sekundärrecht der EU gewährleistet. Die Richtlinie 2000/78/EG garantiere nicht nur den individuellen Zugang zum Recht, sondern ermögliche auch Verbandsklagen (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2000/78/EG). Diese Richtlinie müsse von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Ihre Arbeit habe jedoch gezeigt, dass viele Mitgliedsstaaten die Möglichkeit der Verbandsklage nicht umsetzen, so Grigoryan.

Zum österreichischen Verbandsklagerecht führte Grigoryan aus, dass neben dem Bundesbehindertendachverband auch der Klagsverband und der Bundesbehinderten­anwalt klageberechtigt seien. Es habe bisher eine einzige Verbandsklage des Klags­verbandes gegen das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung zum Thema Schulassistenz gegeben.[11] In Dänemark sei die Möglichkeit der Verbandsklage 2010 eingeführt worden, werde aber aufgrund fehlender personeller Ressourcen und juristischer Kenntnisse nicht genutzt.

Zu den strukturellen Hindernissen für Verbandsklagen wies Grigoryan darauf hin, dass Verbandsklagen deshalb nicht geführt würden, weil Menschen mit Behinderungen von den Verbänden häufig nicht als Rechtssubjekte angesehen würden, insbesondere von Verbänden, die mehrheitlich nicht aus Menschen mit Behinderungen bestünden. Zudem seien Gerichte, Gerichtsverfahren, aber auch Internetseiten mit entsprechenden Infor­mationen häufig nicht barrierefrei und damit für kleinere Vereine, die mehrheitlich aus Menschen mit Behinderungen bestehen, nicht zugänglich. Vor allem auf Landesebene verfügten die Behindertenverbände nur über sehr begrenzte finanzielle Mittel, so dass sie das mit einer Klage verbundene finanzielle Risiko nicht eingehen würden.

Als Beispiel stellte Grigoryan die Disability Legal Clinic in Schweden vor. Dort identifizier­ten Studierende unter Anleitung von Professorinnen und Professoren gemeinsam mit Behindertenverbänden geeignete Fälle für Klagen und bereiteten diese vor. Legal Clinics böten insbesondere Studierenden die Möglichkeit, sich mit Rechtsgebieten auseinander­zusetzen und Erfahrungen zu sammeln.

VI. Abschluss

Zum Abschluss der Tagung wurde die Bedeutung der Vernetzung und des Austausches von Wissen und Erfahrungen betont.

Ein interdisziplinäres Netzwerk aufzubauen, sei für die Durchführung von Verbands­klagen von entscheidender Bedeutung, so die Teilnehmenden. Es sei wichtig zu unter­scheiden, welche Inhalte behinderungsspezifisches Wissen darstellen und wo bereits vorhandenes Wissen und entsprechend ausgebildete Juristen und Juristinnen genutzt werden können. Um Wissen zu sichern, Erfahrungen weiterzugeben und Kompetenzen in den Verbänden zu stärken, sei darüber hinaus ein strukturiertes Wissensmanagement notwendig.

Beitrag von Romina-Victoria Köller, Universität Kassel

Fußnoten:

[1] Dieser Beitrag basiert auf einem ausführlicheren Tagungsbericht derselben Autorin, ver­öffentlicht unter https://www.dbsv.org/verbandsklageprojekt-2.html#Fachtagung. Darin finden sich u. a. noch Ausführungen zum Thema Verbandsklagen im Verbraucherschutzrecht.

[2] Informationen zum Projekt unter https://www.dbsv.org/verbandsklage.html.

[3] VG Münster, Beschluss vom 09.02.2022, 8 L 785/21.

[4] OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.11.2020, 11 B 1459/20.

[5] Schlichtungsstelle BGG, EU-Fahrgastrechte und die Beförderungssituation von Menschen mit Behinderungen im deutschen Bahnverkehr. Gutachten erstattet für die Schlichtungsstelle BGG, 2019.

[6] Informationen zum Projekt unter https://www.dbsv.org/digitale-barrierefreiheit-durchsetzen.html.

[7] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Forschungsbericht 608, Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), 2022.

[8] Vgl. Auflistung auf der Website des BMAS unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Barrierefreie-Gestaltung-der-Arbeit/Zielvereinbarungen-und-Mobilitaetsprogramme/zielvereinbarungen-anerkannter-verbaende.html.

[9] Vgl. hierzu https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/abteilungen/monitoring-stelle-un-behindertenrechtskonvention/bund-und-laender-im-vergleich#c1629.

[10] Grigoryan, The UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2023.

[11] Handelsgericht Wien, Urteil vom 31.03.2023, 19 Cg 73/21p.


Stichwörter:

Verbandsklage, Klagerechte der Verbände, Barrierefreiheit, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Internationales


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