18.09.2025 D: Konzepte und Politik Seidel: Beitrag D9-2025
Entschädigung für hartnäckige Verweigerung einer Rollstuhlrampe – Anmerkung zu LG Berlin II, Urteil vom 30. September 2024 – 66 S 24/24
In diesem Beitrag bespricht Leonard Seidel ein Urteil des Landgerichts Berlin II vom 30. September 2024 (Az. 66 S 24/24), in dem einem auf einen Rollstuhl angewiesenen Mann eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zugesprochen wurde, weil der Vermieter über zwei Jahre hinweg die Zustimmung zum Bau einer Rollstuhlrampe verweigert hatte. Das Gericht wertete dies als unmittelbare Benachteiligung wegen einer Behinderung und qualifizierte die Zustimmungspflicht nach § 554 BGB als positive Maßnahme im Sinne des § 5 AGG. Der Autor analysiert ausgewählte entscheidungserhebliche Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs und setzt sich mit der Bedeutung für die Praxis auseinander.
Der vorliegende Beitrag wurde bereits unter dem gleichen Titel leicht abgewandelt in der Zeitschrift RP Reha 3/2025 erstveröffentlicht. Wir danken dem Universitätsverlag Halle-Wittenberg für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
(Zitiervorschlag: Seidel: Entschädigung für hartnäckige Verweigerung einer Rollstuhlrampe – Anmerkung zu LG Berlin II, Urteil vom 30. September 2024 – 66 S 24/24; Beitrag D9-2025 unter www.reha-recht.de; 18.09.2025.)
I. Thesen des Autors
- Indem das Gericht die verweigerte Zustimmung der beklagten Vermieterin zum Bau einer Rampe als „Dauerverhalten“ bewertet, stärkt es die Durchsetzbarkeit von Entschädigungsansprüchen von Mietern nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG).
- § 19 Abs. 5 S. 3 AGG normiert die Vermutung, dass kein massengeschäftsähnliches Geschäft vorliegt, wenn ein Vermieter nicht nur vorübergehend insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet. Trotz der Widerleglichkeit dieser Vermutung kann sie faktisch viele Mieter von der Geltendmachung einer Entschädigung nach dem AGG abhalten.
II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung
- Eine im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG durch Unterlassen ausgelöste unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn der Vermieter einer gesetzlich auferlegten Handlungspflicht nicht hinreichend nachkommt, durch die im Sinne des § 5 AGG eine bisher benachteiligte Gruppe gezielt gefördert werden soll. In derart gelagerten Fällen benachteiligen Vermieter, indem sie Mietern einen gesetzlich eingeräumten Vorteil vorenthalten, der bestehende Nachteile ausgleichen oder verhindern soll.
- Die Pflicht des Vermieters, baulichen Maßnahmen nach § 554 Abs. 1 BGB zuzustimmen, die den barrierefreien Zugang zum Wohnraum gewähren sollen (hier der Bau einer Rollstuhlrampe zur Überbrückung der Stufen zum Eingang eines Mehrfamilienhauses), ist eine positive Handlungspflicht und stellt deshalb eine positive Maßnahme nach § 5 AGG dar.
- Bei anhaltender Verweigerung eines Vermieters und wiederholt fehlgeschlagenen Versuchen eines Mieters, die Zustimmung zu einer baulichen Maßnahme nach § 554 Abs. 1 BGB zu erhalten, handelt es sich um ein sogenanntes Dauerverhalten mit der Folge, dass der Anspruch auf Zustimmung nicht verjährt, solange diese nicht erklärt worden ist.
III. Der Sachverhalt
1. Prozessuale Vorgeschichte
Der Kläger, ein auf einen Rollstuhl angewiesener Mann, lebt mit seinem Ehemann gemeinsam in einer durch den Lebensgefährten gemieteten Wohnung in Berlin. Die Beklagte ist ein kommunales Wohnungsunternehmen und verfügt über mehr als 74.000 Wohnungen. Ohne Rollstuhlrampe konnte der Kläger weder eigenständig in das Wohnhaus gelangen noch dieses verlassen. Er bedurfte hierzu ausnahmslos der Hilfe Dritter, um die vorhandenen sechs Treppenstufen zu überwinden. Wenn er allein zu Hause war, konnte er das Haus nicht spontan selbstständig verlassen. Wenn er von der Arbeit oder von anderswo nach Hause zurückkehrte, musste er sicherstellen, dass eine weitere Person anwesend war und ihm helfen würde, ins Haus zu gelangen. Der Kläger musste täglich jeden Außenaufenthalt planen und sich absprechen, um sicherzustellen, dass er das Haus bei Bedarf verlassen bzw. hineingelangen konnte. Dieser Zustand hielt zwei Jahre lang an. Mit Schreiben vom 28.11.2020 begehrte der Ehemann des Klägers von der Beklagten erstmals die Zustimmung zum Bau einer Rampe. Im anschließenden Klageverfahren wurde die Beklagte schon in der erstinstanzlichen Entscheidung verpflichtet, den durch den Kläger beanspruchten barrierefreien Zugang zur Wohnung zu gestatten (AG Kreuzberg, Urteil vom 10.03.2022, 16 C 179/21). Im Berufungsverfahren wurde vom Landgericht (LG) Berlin die Pflicht zur Zustimmung bestätigt und durch die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils ersetzt (LG Berlin, Urteil vom 11.11.2022 – 66 S 75/22).
2. Verfahren zum Entschädigungsanspruch
Im nachgelagerten Klageverfahren nahm der Kläger die Beklagte auf Entschädigung aufgrund einer rechtswidrigen Diskriminierung nach den Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) aus §§ 21 Abs. 2 S. 3, 19 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AGG in Anspruch. Das Amtsgericht (AG) Berlin-Kreuzberg (Urteil vom 22.11.2022 – 7 C 118/23) wies die Klage ab. Ein Entschädigungsanspruch bestehe nicht, weil in der verweigerten Zustimmung zum Bau einer Rampe weder eine unmittelbare noch eine mittelbare Benachteiligung i. S. d. § 3 AGG liege. Zudem sah das Amtsgericht die zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs zu wahrende Ausschlussfrist gem. § 21 Abs. 5 AGG als verstrichen.
Hiergegen legte der Kläger Berufung ein. Hierüber entschied das LG Berlin II (Urteil vom 30. September 2024 – 66 S 24/24). Im Folgenden wird das Berufungsurteil besprochen.
IV. Die Entscheidung
1. Benachteiligung gem. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG
Zunächst erörterte das Gericht das Vorliegen einer Benachteiligung gem. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bei der Begründung, Durchführung und Beendigung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses, bei dem das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und das zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommt (massenähnliches Rechtsgeschäft). Erwägungen zu Tatsachen, die für die Vermutungswirkung des § 19 Abs. 5 S. 3 AGG und damit gegen das Vorliegen eines Massengeschäfts sprechen, stellte das Gericht aufgrund der Vielzahl der durch die Beklagte vermieteten Wohnungen (74.000) nicht an. Es erkannte die Ausführungen des AG Kreuzberg hinsichtlich der Feststellung an, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Mietverhältnis um ein massenähnliches Rechtsgeschäft im Sinne des § 19 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AGG handele.
Sodann entschied das Gericht, diesmal abweichend vom erstinstanzlichen Urteil, dass eine unmittelbare Benachteiligung durch Unterlassen im Sinne von § 3 Abs. 1 AGG vorliege. Eine Benachteiligung durch Unterlassen sei gegeben, weil die Beklagte als Vermieter einer durch § 554 Abs. 1 BGB gesetzlich auferlegten Handlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen sei, durch die der Kläger als Teil einer benachteiligten Gruppe im Sinne von § 5 AGG gezielt gefördert werden solle. In derart gelagerten Fällen liege die Benachteiligung in der Vorenthaltung eines gesetzlich eingeräumten Vorteils, dessen Ziel es sei, bestehende Nachteile zu beseitigen oder zu verhindern.
Das Gericht entschied, dass die zuvor vom Landgericht in dem vorangegangenen Berufungsverfahren (66 S 72/22) festgestellte Pflicht zur Zustimmung zum Bau der Rollstuhlrampe eine positive Maßnahme im Sinne des § 5 AGG darstelle; die Zustimmungspflicht eines Vermieters stelle eine Handlungspflicht dar.[1] Sie bedeute eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Mieter nach Vertragsschluss vom Vermieter eine Erweiterung seines Gebrauchsrechts, wie z. B. durch Umbau der Mietsache, nicht beanspruchen könne. § 554 BGB normiere davon abweichend einen Anspruch des Mieters auf Erteilung der Erlaubnis zur baulichen Veränderung der Mietsache (Börstinghaus in: Blank/ Börstinghaus/Siegmund, Miete, 7. Auflage 2023, § 554, Rn. 3). Dies erfasse auch Veränderungen außerhalb der Wohnung, wie sie z. B. im Treppenhaus notwendig sein können, damit ein Bewohner mit Behinderung die Wohnung ohne fremde Hilfe erreichen kann (Bundestagsdrucksache, BT-Drs. 14/5663, S. 78).
Die Beklagte habe dem Kläger den durch § 554 BGB eingeräumten Vorteil vorenthalten. Damit sei dem Kläger – im Gegensatz zu anderen Mietern, die nicht von einer Behinderung betroffen sind – der ihm zustehende barrierefreie Zugang rechtswidrig versagt worden.
Im weiteren Verlauf der Entscheidung befasste sich das LG Berlin II mit den Argumenten der Beklagten.
Die von der Beklagten vertretene Auffassung, dass im Rahmen der nach § 554 BGB vorzunehmenden Interessenabwägung lediglich ein Recht auf Zustimmung zur Montage eines Treppenliftes bestanden habe, sind sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht nicht gefolgt. Das entsprechend beschränkte Angebot der Beklagten, die Zustimmung zum Bau eines Treppenlifts anstelle einer Rampe zu erteilen, war aus Sicht des Gerichts nicht geeignet, das Regelungsziel des § 554 BGB angemessen und sachgerecht zu verwirklichen.
Das Gericht widersprach auch der Ansicht der Beklagten, dass ihre abweichende Rechtsauffassung nicht auf das Behinderungsmerkmal zurückzuführen sei. Das LG betonte, dass die Vorschrift des § 554 BGB eine positive Maßnahme i. S. d. § 5 AGG sei, die dazu diene, Nachteile im Zusammenhang mit einer Behinderung zu beseitigen. Das für die Sachentscheidung der Beklagten (Ablehnung des begehrten Einbaus einer Rampe) maßgebliche Kriterium (Unangemessenheit der Rampe) sei rechtlich untrennbar mit der Behinderung verbunden. Eine entsprechende unmittelbare Benachteiligung liege deshalb unabhängig davon vor, ob die Beklagte aufgrund eines Rechtsirrtums zu einer anderen Auffassung gelangt sei. Das Risiko einer rechtswidrig zu engen Auffassung von eigenen Pflichten sei jedem Rechtsunterworfenem selbst auferlegt.[2]
Das Gericht stellte zudem klar, dass ein Unterlassen ebenso wie im Arbeitsrecht auch im sonstigen Zivilrecht eine unmittelbare Benachteiligung begründen könne. Zwar unterscheide das AGG zwischen arbeitsrechtlichen (§§ 6 ff. AGG) und sonstigen zivilrechtlichen Angelegenheiten (§§ 19–21 AGG). Dennoch konstatiere das Gesetz in beiden Bereichen ein Benachteiligungsverbot (§ 7 AGG und § 19 AGG). Die positiven Maßnahmen nach § 5 AGG normieren eine allgemeine Handlungspflicht, die für beide Regelungsbereiche Anwendung finde.
Ebenso wenig ließ das Gericht den Entschädigungsanspruch daran scheitern, dass der Kläger selbst nicht Partei des Mietvertrags war. Der Schutzbereich des § 554 BGB kenne keine derart formale Grenzziehung. Der Gesetzgeber wollte gerade nicht nur auf die Behinderung des Mieters abstellen.[3] Umbauten sollten auch zugelassen sein, wenn etwa in der Wohnung lebende Angehörige oder der Lebensgefährte des Mieters behindert seien. Dadurch wird der Anwendungsbereich der mietrechtlichen Norm u. a. auch auf Familien mit beeinträchtigten Kindern erweitert.
Die Beklagte legt dar, dass ihren Mitarbeitern nicht bewusst gewesen sei, dass deren Verhalten zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung führen könne. Das Gericht hält dem entgegen, dass dies allerdings ebenfalls nicht zu einem Ausschluss des Anspruches führen könne. Die Absicht der Mitarbeiter der Beklagten hätte lediglich Einfluss auf die Entschädigungshöhe.[4]
Zudem schloss das LG Rechtfertigungsgründe aus § 20 Abs. 1 S. 1 AGG aus. Die Versagung der Rampe ließ sich nicht mit der Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art gem. § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AGG rechtfertigen. Zwar habe die Beklagte bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer Gefahr und des Ausmaßes eines potenziellen Schadens einen gewissen Einschätzungsspielraum.[5] Jedoch dürfe die Anerkennung einer solchen Ausnahme nicht dazu führen, dass gesetzlich vorgesehene Maßnahmen im Wege einer vorgeschobenen Rechtfertigung abgelehnt würden. Deshalb verlange der Einwand den Vortrag der Beklagten, dass vermeintlich drohende Schäden mit einer gesteigerten Erheblichkeit im Raum stünden. Hinsichtlich der vorgebrachten erhöhten Verletzungsgefahr war das Gericht der Ansicht, dass diese keinen sachlichen Grund für eine Rechtfertigung darstelle, weil sie in keinem Verhältnis zum unabweisbaren Bedürfnis des Klägers am Bau der Rampe stehe.
Auch den Einwand der Beklagten, der Kläger habe stets den Bau einer Rampe und nicht allgemein die Herstellung eines barrierefreien Zugangs begehrt, erkannte das Gericht nicht als sachlichen Ablehnungsgrund an. Vielmehr müsse der Mieter im Rahmen des § 554 BGB stets mit einer konkreten Maßnahme auf den Vermieter zugehen, um überhaupt den Anwendungsbereich der Vorschrift zu eröffnen. Unterbleiben solche Informationen, überwiege das Interesse des Vermieters an der Beibehaltung des ursprünglichen Zustands.[6] Die Beklagte habe im vorliegenden Einzelfall keine berechtigten und gewichtigen Interessen vorbringen können, die dem Begehren des Klägers entgegenstünden; auch alternative bauliche Maßnahmen (hier ein Treppenlift statt einer begehrten Rampe) seien im konkreten Fall keine taugliche Alternative.[7]
Auch die Tatsache, dass die Beklagte ihre Zustimmung zur baulichen Maßnahme von einer Sicherheitsleistung abhängig machen durfte, stelle keinen sachlichen Grund für die Benachteiligung des Klägers gem. § 20 Abs. 1 AGG dar. Die Vereinbarung der Sicherheitsleistung diene der Sicherung des Rückbaurisikos und beziehe sich damit lediglich auf das „Wie“ der Maßnahme, nicht aber das „Ob“. Damit seien ausschließlich die Modalitäten der Ausgestaltung der Maßnahme betroffen, nicht aber die Maßnahme selbst.
2. Ausschlussfrist nach § 21 Abs. 5 AGG
Das Gericht entschied auch, ob die gesetzliche Ausschlussfrist nach § 21 Abs. 5 AGG eingehalten wurde, zugunsten des Klägers. Das Verhalten der Beklagten sei als sogenanntes „Dauerverhalten“[8] einzuordnen, mit der Folge, dass der klägerische Anspruch auf Zustimmung zum Umbau nicht verjähren könne, solange der Anspruch nicht erfüllt, d. h. die Zustimmung nicht erteilt sei. Das LG verweist auf eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 2018[9] und entwickelt die dort gefassten Grundsätze eines Dauerverhaltens im Mietverhältnis fort. Die andauernde Verletzung der mietvertraglichen Pflichten seitens der Beklagten und die wiederholt fehlgeschlagenen Versuche, die Beklagte zur Einhaltung ihrer mietvertraglichen Pflichten zu bewegen, begründeten ein Dauerverhalten.
Das Gericht hält fest, dass erst mit Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung des rechtskräftigen Urteils die Fiktion der Abgabe einer Willenserklärung nach § 894 S. 2 ZPO eintrete. Die zweimonatige Ausschlussfrist des § 21 Abs. 5 AGG habe der Kläger mit anwaltlichem Schreiben innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des landgerichtlichen Urteils an die Beklagte gewahrt.
3. Höhe des Entschädigungsanspruchs
Schließlich führte das Gericht zur Höhe des Entschädigungsanspruchs nach § 21 Abs. 2 S. 3 AGG aus. Für dessen Bemessung komme es darauf an, wie intensiv das Persönlichkeitsrecht des Klägers verletzt worden ist.[10] Das Gericht hielt eine Entschädigung in Höhe von 11.000 € für angemessen. Es betont, dass die Benachteiligung durch die Beklagte beim Kläger gravierende Folgen hervorgerufen habe. Der Kläger sei in seiner Handlungs- und Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt gewesen. Diese Auswirkungen der Benachteiligung hätten sich täglich manifestiert und zwar im persönlichen Kernbereich der Existenz des Klägers. Die grundlegende Vereitelung einer in diesem Bereich autonomen Lebensführung sei als existenzielle Beeinträchtigung des persönlichen Lebens anzuerkennen.[11]
Das Gericht sprach mehrfach von einer „hartnäckigen Verweigerungshaltung“ der Beklagten, die die festgelegte Höhe der tenorierten Entschädigung rechtfertige.[12] Das Gericht bewertete die Haltung der Beklagten letztlich als ignorant gegenüber den Folgen ihrer Weigerung. Statt eines lösungsorientierten Handelns habe die Beklagte ein hartnäckig rechtswidriges Verhalten an den Tag gelegt.[13]
Entscheidungsrelevant für die Festlegung der Höhe des Entschädigungsbetrags sei auch, dass die Beklagte mehr als 74.000 Wohnungen vermiete. Der festgesetzte Betrag sei geeignet und erforderlich, um die Genugtuungsfunktion zugunsten des Klägers und die abschreckende Wirkung zulasten der Beklagten zu erzielen. Gemessen an den wirtschaftlichen Verhältnissen der Beklagten, die ein besonders großes Immobilienunternehmen sei, erweise sich die Höhe der Entschädigung zwar als fühlbar, aber nicht als eine Belastung, die etwa außer Verhältnis zum verursachten Schaden stünde.
Die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO lehnte das Landgericht ab.
V. Würdigung/Kritik
Klagen auf Entschädigung nach dem AGG wegen Benachteiligungen im Zusammenhang mit einem Wohnraummietverhältnis sind selten.[14] Rar sind auch Urteile über Entschädigungsansprüche nach dem AGG von Mietern mit Behinderung aufgrund mangelnden barrierefreien Zugangs zur Wohnung. Zugleich belegen Daten, dass in Deutschland lediglich 13,7 % der gesamten Wohnungen in Gebäuden stufen- bzw. schwellenlos zugänglich sind.[15] Vor diesem Hintergrund verdient die vorliegende Entscheidung besondere Beachtung.
Zentral für das Urteil des Landgerichts ist die Annahme, dass der Kläger durch Unterlassen eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des § 3 Abs. 1 AGG erfahren hat, weil die Beklagte den Bau der Rollstuhlrampe nicht gestattete, wozu sie nach § 554 Abs. 1 BGB eigentlich verpflichtet gewesen wäre. Zu diesem Ergebnis gelangte das Gericht, da es anders als die Vorinstanz die Pflicht des Vermieters, baulichen Veränderungen der Mietsache nach § 554 Abs. 1 BGB zuzustimmen, als eine positive Maßnahme im Sinne des § 5 AGG gewertet hat. Diese Rechtsauffassung verdient Zuspruch. Sie ist von wesentlicher Bedeutung für die Praxis.
Auf weitere entscheidungserhebliche Aspekte wird nachfolgend vertieft eingegangen.
1. Vorliegen eines massengeschäftsähnlichen Rechtsgeschäfts
Das Gesetz enthält in § 19 Abs. 5 S. 3 AGG eine Vermutung gegen das Vorliegen eines massengeschäftsähnlichen Rechtsgeschäfts, um Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu fördern,[16] wenn ein Vermieter insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet. Die praktische Bedeutung diesen Schwellenwertes lässt sich anhand des Wohnungsmarktes verdeutlichen. Nur knapp ein Drittel der 2018 insgesamt bewohnten Wohnungen (36,9 Millionen) wurden von Privatpersonen vermietet.[17] Zu schätzen ist, dass nur 0,4 % der privaten Vermieter mehr als 50 Wohnungen vermieten.[18] Nur 46 % der Eigentümer bewohnen ihre Wohnung selbst.[19] Die restlichen Wohnungen befinden sich in der Hand von Wohnungs- und Baugenossenschaften, privatwirtschaftlichen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Wie viele Wohnungen diese Gruppe durchschnittlich vermietet, ist nicht bekannt.
Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass ein großer Teil des vermieteten Wohnraums von Vermietern vermietet wird, die den Schwellenwert des § 19 Abs. 5 S. 3 AGG nicht überschreiten.[20] Insofern wirkt die Schutzwirkung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots nur eingeschränkt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass Menschen, deren Vermieter unter 50 Wohnungen vermietet, vom Diskriminierungsschutz nach den §§ 19–21 AGG ausgeschlossen sind und bei Benachteiligung keinen Entschädigungsanspruch haben können. Es handelt sich bei § 19 Abs. 5 S. 3 AGG um eine widerlegbare gesetzliche Vermutung.[21] Mithin sind Wohnungsvermieter, die weniger als 50 Wohnungen vermieten, nicht grundsätzlich von der Anwendung des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots freigestellt.[22] Vielmehr haben die Mieter, die aus einem durch § 19 Abs. 1 AGG geschützten Grund diskriminiert werden, die Möglichkeit, diese Vermutungswirkung zu widerlegen.[23] Dazu wäre darzulegen, dass die Person des Mieters für den Vermieter im Einzelfall trotz der Vermietung von weniger als 50 Wohnungen eher unwichtig ist.[24] Das kann schon gelingen, wenn beispielsweise durch Addition von Mietwohnungen der Schwellenwert erreicht wird, weil etwa zwei Eheleute jeweils als rechtlich eigenständige Vermieter auftreten, tatsächlich aber ihren größeren Wohnungsbestand gemeinsam verwalten, oder wenn mehrere GmbHs mit jeweils nicht mehr als 50 Mietwohnungen jeweils identische Gesellschafter haben.[25]
Unabhängig von der Frage, ob die zahlenmäßige Hürde von mindestens 50 Wohnungen zu hoch angesetzt ist und deshalb der Diskriminierungsschutz nur eingeschränkt wirkt,[26] lässt sich dennoch positiv hervorheben, dass durch die Formulierung „in der Regel“ die Widerlegbarkeit der Vermutungswirkung gesetzlich verankert ist und somit eine einzelfallgerechte Lösung zumindest möglich und verfassungsrechtlich nach Art. 20 Abs. 3 GG durch die Rechtsprechung herbeizuführen ist.
2. Dauerverhalten der Beklagten
Entscheidungserheblich für das Urteil ist auch, dass das LG Berlin die Weigerung der Beklagten, dem Bau der Rampe zuzustimmen, als ein Dauerverhalten bewertet hat. Konsequenz dessen ist, dass die gesetzliche Ausschlussfrist von zwei Monaten nach § 21 Abs. 5 AGG für die Geltendmachung von Schadenersatz und Entschädigung erst zu laufen beginnt, wenn die Zustimmung zu der Baumaßnahme erfolgt ist. Unter Berücksichtigung des § 894 S. 2 ZPO trat die Fiktion der Abgabe der Willenserklärung, hier die Zustimmung zum Bau der Rollstuhlrampe, erst mit der vollstreckbaren Ausfertigung des rechtskräftigen Urteils ein. Diese zustimmungsbedürftige Auffassung wirkt sich praktisch aus.
Für Mieter, die ihren zivilrechtlichen Anspruch aus § 554 BGB erst im Wege der Leistungsklage (zunächst der Zustimmungsprozess) durchsetzen müssen, weil der Vermieter die Zustimmung verweigert hat, lässt sich dann auf Grundlage des die Zustimmung ersetzenden Urteils, gerechnet vom Tag der Zustellung, auch die AGG-Klage fristgerecht erheben.
Anders als das vorinstanzliche Urteil berücksichtigt das LG Berlin hier den Umstand, dass es sich bei dem zugrundeliegenden Schuldverhältnis um einen Mietvertrag nach § 535 BGB und somit um ein „laufendes Dauerschuldverhältnis“ handelt. Diese Position hat grundlegende Bedeutung für Entschädigungsansprüche aus dem AGG für Mieter oder deren Angehörige mit Behinderung. Vermieter können sich so, indem sie die Zustimmung unrechtmäßig hinauszögern, einem Entschädigungsanspruch nicht entziehen.
3. Höhe des Entschädigungsanspruchs
Aufmerksamkeit verdient auch die Begründung über die Höhe der Entschädigung. Das Gericht hat sein Ermessen umfangreich und unter Zugrundelegung aller einzelfallspezifischen Aspekte ausgeübt. Die deutlichen Worte zu den faktischen Einschränkungen des Klägers infolge der Barrieren beim Zugang zu seiner Privatwohnung, bezeichnet als eine „existenzielle Beeinträchtigung des persönlichen Lebens“[27], verdienen Anerkennung.
Auch das Bundesverfassungsgericht erkannte in der sogenannten Treppenliftentscheidung aus dem Jahr 2000[28] schon, dass der barrierefreie Zugang zur Mietwohnung von in der Wohnung berechtigterweise lebenden Menschen grundrechtliche Bedeutung entfaltet, indem es die Beeinträchtigung des Besitzrechtes des Mieters dem durch Art. 14 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Bereich zuwies.[29]
Zudem fließt in die Bewertung der Höhe des Geldwerts auch die „hartnäckige Verweigerungshaltung“[30] der Beklagten ein. Durch diese Auffassung könnten in Zukunft Vermieter dazu angehalten sein, zügig und gewissenhaft über Anträge der Mieter zu entscheiden. Das Urteil zeigt, dass andernfalls empfindliche finanzielle Konsequenzen drohen können.
Beitrag von Leonard Seidel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Fußnoten
[1] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 12.
[2] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 17.
[3] BT-Drs. 14/5663, S. 78, noch zur Vorgängervorschrift des § 554a BGB a. F.
[4] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 21.
[5] Quelle des Gerichts: MüKoBGB, AGG § 20 Rn. 31–36.
[6] Börstinghaus, in: Blank/Börstinghaus/Siegmund, 7. Aufl. 2023, BGB § 554 Rn. 25.
[7] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 30.
[8] Definition bei Grothe, in: MüKo BGB, 10. Aufl. 2025, § 199, Rn. 13.
[9] BGH, Urteil vom 19.12.2018 – XII ZR 5/18; LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 38.
[10] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 40.
[11] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 41.
[12] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 43.
[13] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 46.
[14] Etwa AG Tempelhof-Kreuzberg, Urteil vom 19. Dezember 2014 – 25 C 357/14 –, juris.
[15] Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2021, S. 337.
[16] Rolfs, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2024 (juris), § 19 AGG, Rn. 28.
[17] Statistisches Bundesamt, Verteilung der bewohnten Wohnungen* in Deutschland im Jahr 2018 nach Eigentümer bzw. nach Vermieter Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1064675/umfrage/verteilung-der-bewohnten-wohnungen-in-deutschland-nach-eigentuemer-oder-vermieter/ (letzter Besuch 05.02.2025).
[18] Befragung: DI Deutschland.Immobilien AG in Zusammenarbeit mit dem Institut der deutschen Wirtschaft e. V. (Hrsg.), Vermieterreport, 2024, S. 11; unter https://www.deutschland.immobilien/ (letzter Besuch 05.02.2025).
[19] Statistisches Bundesamt, Verteilung der bewohnten Wohnungen in Deutschland im Jahr 2018 nach Eigentümer bzw. nach Vermieter (Bewohnte Wohnungen in Wohngebäuden (ohne Wohnheime); Statista, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1064675/umfrage/verteilung-der-bewohnten-wohnungen-in-deutschland-nach-eigentuemer-oder-vermieter/ (letzter Besuch 05.02.2025).
[20] So auch Häpp WuM 2020, 755 (757).
[21] Rolfs, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2024 (juris), § 19 AGG, Rn. 33.
[22] Schmidt-Rätsch NZM 2007, 6 (11).
[23] BT-Drs. 16/2022, S. 13.
[24] Armbrüster, in: Erman BGB, 17. Aufl. 2023 (juris), § 19 AGG, Rn. 44.
[25] Rolfs, in: NJW 2007, 1489 (1490).
[26] Zweifel an der Unionsrechtskonformität (RL 2000/43/EG) der Hürde des § 19 V S. 3 AGG hegen vgl. schon Wagner/Potsch JZ 2006, 1085 (1098).
[27] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 41.
[28] BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. März 2000 – 1 BvR 1460/99.
[29] BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. März 2000 – 1 BvR 1460/99, juris Rn. 15.
[30] LG Berlin II, Urteil vom 30.09.2024 – 66 S 24/24, juris Rn. 43.
Stichwörter:
Entschädigung, Behinderung, Barrierefreiheit, Barrierefreies Wohnen, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Rollstuhl
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