16.09.2024 Verwaltung, Verbände, Organisationen

Deutsches Institut für Menschenrechte warnt vor Ausweitung ärztlicher Zwangsmaßnahmen

Im Rahmen eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) im April 2024 auf die Gefahren einer Ausweitung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen hingewiesen. In dem Verfahren prüft das Gericht, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass ärztliche Zwangsbehandlungen nur im Krankenhaus, aber nicht ambulant durchgeführt werden dürfen (BVerfG – 1 BvL 1/24, anhängig). Die Stellungnahme des DIMR ist im September 2024 auf seiner Website veröffentlicht worden.

§ 1832 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 BGB (ehemals § 1906a Abs. 1 S. 2 Nr. 7) besagt, dass eine gesetzliche Betreuerin / ein gesetzlicher Betreuer in eine ärztliche Maßnahme gegen den Willen der bzw. des Betreuten einwilligen kann, wenn diese – neben anderen Voraussetzungen – im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt wird, in dem die gebotene medizinische Versorgung der/des Betreuten einschließlich einer ggf. erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Beschluss vom 8. November 2023 (XII ZB 459/22) ein Rechtsbeschwerdeverfahren zu einer Unterbringungssache ausgesetzt. Er wollte eine Entscheidung des BVerfG zur Frage einholen: Ist es mit der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gemäß § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a. F. bei einer rechtlich betreuten Person die Verlegung in ein Krankenhaus voraussetzen bzw. nur in einem Krankenhaus durchgeführt werden dürfen, auch wenn in der Einrichtung, in der die betroffene Person untergebracht ist, die gebotene medizinische Versorgung einschließlich ihrer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt wäre?

Der Stellungnahme des DIMR ist zu entnehmen, dass es sich in der konkreten Unterbringungssache vor dem BGH bei der Rechtsbeschwerdeführerin um eine Frau mit der psychiatrischen Diagnose paranoide Schizophrenie und Persönlichkeitsveränderungen handelt. Ihre rechtliche Betreuung umfasse u. a. die Gesundheitssorge und die Aufenthaltsbestimmung. Sie lebe seit 2008 in einer Wohneinrichtung der Eingliederungshilfe und sei regelmäßig im nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt worden. Der rechtliche Betreuer wünsche eine medikamentöse Zwangsbehandlung in der Wohneinrichtung und habe vorgebracht, dass die wiederholten Einweisungen in das Krankenhaus die von ihm betreute Rechtsbeschwerdeführerin retraumatisierten.

Selbstvertretungsverbände klar gegen eine Einführung ambulanter Zwangsbehandlung

Hinsichtlich der gesetzlich verankerten Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß § 1832 Abs. 1 S. 1 Nr. 1–6 BGB n. F. verweist die Monitoring-Stelle des DIMR in ihrer Stellungnahme auf empirische Befunde, die auf Defizite bei der Umsetzung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen hindeuteten. Die Stelle sieht u. a. das Risiko, dass auch außerhalb eines stationären Krankenhausaufenthalts Versuche, Zwang durch freiwillige Behandlungs- und Unterstützungs­alternativen zu vermeiden, unzureichend ausfallen. Strukturelle Rahmenbedingungen, wie Personal- und Fachkräftemangel und fehlende zeitliche Ressourcen, erhöhten dieses Risiko. Die Monitoring-Stelle zweifelt zudem an, dass eine ärztliche Zwangsbehandlung ohne Verlegung in ein Krankenhaus von der betroffenen Person immer als weniger belastend und (re-)traumatisierend wahrgenommen würde: „Nicht außer Acht gelassen werden dürfen die Auswirkungen des Erlebens von Zwang innerhalb der eigenen häuslichen Umgebung auf das Sicherheitsgefühl, die zwischenmenschlichen Beziehungen und den Lebensalltag der Person.“

Die Monitoring-Stelle weist darüber hinaus auf festgestellte Mängel in der Dokumentation und der gerichtlichen Kontrolle von Zwangsbehandlungen hin, die eine Aufdeckung möglicher Missbrauchsfälle bzw. unrechtmäßiger Anwendungen erschwerten. „Forschungsergebnisse, die hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen in Einrichtungen auf ihre übermäßige, dem Ultima Ratio-Gebot nicht entsprechende Anwendung hinweisen, sind ebenfalls besorgniserregend. Die Befürchtungen, dass eine gesetzliche Legitimation ärztlicher Zwangsbehandlungen auch in Deutschland zu einer deutlichen Ausweitung führen würden, erscheinen vor diesem Hintergrund berechtigt.“

Der BGH leitet in seinem Beschluss eine Legitimation ambulanter Zwangsbehandlungen aus den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) her.  Das DIMR beruft sich in dieser Frage u. a. auf den UN-Fachausschuss, der sich deutlich gegen die Legitimation ärztlicher Behandlungen ohne freie und informierte Einwilligung auf Grundlage einer Beeinträchtigung ausspreche, unabhängig vom Ort ihrer Anwendung, ebenso die Selbstvertretungsverbände psychiatrie- und zwangserfahrener Menschen. Auch aus Sicht des DIMR verbieten die menschenrechtlichen Vorgaben der UN-BRK die Anwendung von Zwang aufgrund von Beeinträchtigungen. Ambulante Zwangsbehandlung könne, so das Fazit, aus menschenrechtlicher Perspektive nicht als Mittel zur Reduzierung oder Abmilderung von Zwang betrachtet werden, sondern konterkariere den eingeforderten Wandel im Umgang mit psychosozialen Behinderungen hin zu einer grundsätzlich auf Selbstbestimmung und der Freiheit von Zwang beruhenden Unterstützung und Versorgung.

Stellungnahme des DIMR an das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Verfahrens 1 BvL 1/24

(Quelle: Deutsches Institut für Menschenrechte)


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