03.08.2022 Internationales

EGMR: Verweigerung persönlicher Assistenz infolge unzureichender Beurteilung einer Behinderung kann Verstoß gegen Artikel 8 EMRK sein

Die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedern des Europarats, den auch Rumänien unterzeichnet hat. Im vorliegenden Fall stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 22. Februar 2022 eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention durch Rumänien fest (Beschwerde Nr. 62250/19). Artikel 8 EMRK beinhaltet das Recht einer jeden Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Dieses Recht des Beschwerdeführers wurde durch die Verweigerung einer persönlichen Assistenz infolge einer unzureichenden Beurteilung der Schwere seiner Behinderung sowie einer nicht angemessenen Berücksichtigung seiner gefährdeten Interessen verletzt.

Zum Sachverhalt und Ausgangsverfahren

Im Jahr 2017 war der Beschwerdeführer 87 Jahre alt. Ein Teil seines Beines war ihm zwei Jahre zuvor amputiert worden und er litt an Grauem Star, Hörverlust und Inkontinenz. Er benötigte einen Rollstuhl, um sich fortzubewegen, und war seit Kurzem bettlägerig, da er seinen Rollstuhl nicht mehr aus eigener Kraft bedienen konnte. Er wohnte im vierten Stock eines Gebäudes und wurde bei seinen täglichen Aktivitäten von seinem Sohn unterstützt. Es waren keine Nachbarn oder andere Familienmitglieder in der Nähe, die ihn hätten unterstützen können. Er benötigte Hilfe bei der Nahrungsaufnahme, bei der Fortbewegung und beim Transport, bei der Nutzung von Kommunikationsmitteln, bei der Verwaltung seiner Finanzen und bei der Einnahme von Medikamenten. Er war bei der Körperpflege, beim Anziehen, bei der Zubereitung von Mahlzeiten, bei der Hausarbeit und beim Lebensmitteleinkauf vollständig auf Unterstützung angewiesen.

Nach einer Begutachtung in der Wohnung des Beschwerdeführers empfahl der Dienst für die komplexe Bewertung von Erwachsenen mit Behinderungen die Gewährung einer ständigen Unterstützung zum Ausgleich seiner verlorenen Autonomie. Die Kommission für die Beurteilung von Erwachsenen mit Behinderungen (nachfolgend: die Kommission) stellte daraufhin eine mittelschwere Behinderung des Beschwerdeführers fest. Dieser Feststellung widersprach der Beschwerdeführer und beantragte die Anerkennung einer schweren Behinderung, die nach rumänischem Behindertengesetz mit einem Anspruch auf eine persönliche Assistenz verbunden ist. Mit seinem Widerspruch hatte der Beschwerdeführer kein Erfolg, weshalb er gegen die Beurteilung seiner Behinderung durch die Kommission klagte. Das Bezirksgericht gab seiner Klage statt. Das Berufungsgericht hob diese Entscheidung jedoch wieder auf, weshalb Beschwerde beim EGMR eingelegt wurde.

Die Entscheidung des EGMR

Da der Beschwerdeführer im Jahr 2020 verstarb, während die Rechtsache vor dem Gerichtshof anhängig war, führte der Sohn die Beschwerde weiter.

Der EGMR entschied, dass der Beschwerdeführer in dem Recht auf Achtung seines Privatlebens (Artikel 8 EMRK) verletzt wurde.

Ein Staat kann aufgrund von Artikel 8 EMRK verpflichtet sein, eine persönliche Assistenz zu gewähren, um das Recht auf Achtung des Privatlebens zu gewährleisten

Zunächst führte der Gerichtshof aus, dass Artikel 8 EMRK nicht nur vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Hand schützt, sondern Staaten dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu erlassen, um das Recht auf Achtung des Privatlebens zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall sah das Gericht dieses Grundrecht betroffen, da dem Beschwerdeführer das Recht auf angemessene Unterstützung zur Verwirklichung von Art. 8 EMRK verweigert wurde.

Der Gerichtshof stellte fest, dass es nach dem rumänischen Behindertengesetz – ausgelegt im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention – zwar möglich gewesen wäre, dem Beschwerdeführer eine persönliche Assistenz zur Unterstützung zu gewähren. Allerdings werteten die zuständige Kommission und das Berufungsgericht den Zustand des Beschwerdeführers als eine mittelschwere Behinderung, die kein Recht auf eine Assistenz einräumt. Obwohl es nicht Sache des EGMR ist, innerstaatliches Recht auszulegen und anzuwenden, kam er nicht umhin festzustellen, dass dieses Ergebnis in krassem Gegensatz zu der ermittelten Situation des Beschwerdeführers stehe.

Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf angemessene Unterstützung war nur aus sehr wichtigen Gründen gerechtfertigt

Anschließend prüfte der Gerichtshof, ob der Eingriff in das Grundrecht nach Artikel 8 EMRK durch die Verweigerung der persönlichen Assistenz gerechtfertigt war. Bei dieser Prüfung wägt der EGMR die konkurrierenden Interessen miteinander ab, wobei dem Staat in Fragen der allgemeinen Politik, einschließlich der Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik ein gewisser Ermessensspielraum eingeräumt wird. Allerdings sei dieser Ermessensspielraum wesentlich enger, wenn eine Grundrechtsbeschränkung eine besonders schutzbedürftige Gruppe in der Gesellschaft betrifft, die in der Vergangenheit erheblich diskriminiert wurde (wie Menschen mit Behinderungen oder ältere abhängige Menschen). Dann bedürfe es sehr wichtiger Gründe zur Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung.

Die Interessen des Beschwerdeführers wurden nicht angemessen berücksichtigt

Im Fall des Beschwerdeführers, einer älteren Person mit Behinderung, sei ein verstärkter Schutz durch die Behörden erforderlich und der Gerichtshof müsse bei seiner Entscheidung absolut davon überzeugt sein, dass der Staat ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden öffentlichen und den gefährdeten privaten Interessen hergestellt hat. Dies ist nach Ansicht des Gerichts nicht geschehen, da sich weder die Kommission noch das Berufungsgericht mit spezifischen, relevanten und wichtigen Argumenten des Beschwerdeführers ausdrücklich befasst hätten. Insbesondere schien das Recht des Beschwerdeführers auf Autonomie und die Achtung seiner Würde in den fraglichen nationalen Beurteilungen nicht berücksichtigt worden zu sein. Seine Lebensbedingungen und das fehlende Unterstützungsnetzwerk – z. B. durch Nachbarn oder seine Familie – seien in diesen Entscheidungen ebenfalls nicht erwähnt worden. Außerdem hätten die Behörden weder das Alter des Beschwerdeführers noch die Tatsache, dass er sein Bein erst im Alter von 85 Jahren verlor, berücksichtigt. Die Auswirkungen, die eine solch drastische Veränderung auf das Leben eines alten Menschen hat, seien in den nationalen Beurteilungen ebenfalls nicht erwähnt worden. Die angefochtenen Entscheidungen hätten keine Erklärung enthalten für die offensichtlichen Diskrepanzen zwischen der besonderen Situation des Beschwerdeführers, die durch mangelnde Autonomie und Unterstützung gekennzeichnet war, und der Feststellung, dass er nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf eine persönliche Assistenz habe.

Unter Berücksichtigung all dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die rumänischen Behörden nicht das unter den Umständen des Falles Angemessene getan haben, um das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens wirksam zu schützen. Somit sei es ihnen nicht gelungen, das in Artikel 8 geforderte angemessene Gleichgewicht herzustellen. Aus diesen Gründen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vorliegt.

Text der Entscheidung in voller Länge; deutsche, nichtamtliche Übersetzung von SprachUnion (Katharina Schiffmann) – PDF, 398 KB, barrierefrei

(Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)


Bei dem genannten Urteil handelt es sich um eine ausgewählte Entscheidung zum Teilhaberecht.

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