Neues vom Bundessozialgericht zur Versorgung mit elektromotorunterstützten Mobilitätshilfsmitteln
Am 18. April 2024 hat das Bundessozialgericht in drei Fällen über die Versorgung mit Hilfsmitteln zur Mobilität durch die Krankenkassen entschieden. In zwei Entscheidungen ging es um Handkurbelrollstuhlzuggeräte (kurz: Handbikes) mit Elektromotorunterstützung (B 3 KR 13/22 R und B 3 KR 14/23 R), in einem anderem um ein Therapiedreirad mit Elektromotorunterstützung (B 3 KR 7/23 R).
In allen Fällen wurden die Krankenkassen zur Versorgung mit den begehrten Hilfsmitteln verurteilt. Dabei spielten die nachfolgenden Aspekte eine wesentliche Rolle.
Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung oder Behinderungsausgleich
Da die begehrten Hilfsmittel eine aktive Mobilität (unter Einsatz der eigenen (Rest-)Kräfte) ermöglichen und damit auch gesundheitsförderliche Gesichtspunkte aufweisen, stand in Frage, ob sie der Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V), der Vorbeugung einer drohenden Behinderung (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 SGB V) oder dem Behinderungsausgleich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V) dienen. Da in den vorliegenden Fällen kein enger Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer festgestellt werden konnte, wurde der Zweck der drei Hilfsmittel im Behinderungsausgleich gesehen.
Kein Versorgungsausschluss wegen Reichweite und Geschwindigkeit der Hilfsmittel
Die Zuständigkeit der Krankenkassen für Hilfsmittel zur Mobilität erstrecke sich auf die erforderlichen Hilfsmittel, um den Nahbereich der Wohnung zumutbar zu erschließen. Die Versicherten seien mit Hilfsmitteln zu versorgen, die im Nahbereich der Wohnung ein Aufschließen zu den Möglichkeiten von Menschen ohne Mobilitätsbeeinträchtigung erlauben.
Fraglich war, ob die Versorgung mit den Handbikes bereits allein deshalb auszuschließen war, weil damit Geschwindigkeiten bis zu 25 km/h erreicht werden können, wohingegen die Krankenkassen grundsätzlich nur eine Mobilität zu ermöglichen haben, die sich an der Schrittgeschwindigkeit von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen (6 km/h) orientiert.
Hierzu entschied der Senat, dass allein die zu erreichende Geschwindigkeit eines Hilfsmittels der Versorgung nicht entgegenstehe, sofern der Nahbereich der Wohnung nicht anders zumutbar erschlossen werden kann.
Anspruch auf aktive Erschließung des Nahbereichs der Wohnung
Außerdem war zu entscheiden, ob den Versicherten eine aktive Erschließung des Nahbereichs ermöglicht werden muss. Auch das bestätigte der Senat.
Seit jeher sei in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die personale Autonomie der Versicherten zu berücksichtigen (die durch das SGB IX, Art. 3 Abs. Satz 2 GG und Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention zusätzliche Bekräftigung erhalten habe). Vor diesem Hintergrund können die Versicherten von den Krankenkassen eine Hilfsmittelversorgung wünschen, mit der sie „sich als körperlich aktive [..] Mensch[en] mindestens in einem – was die Mobilität betrifft – umgrenzten lokalen Bereich nach Möglichkeit unter Einsatz der eigenen (Rest-)Körperkraft erfahren und bewegen […] können“.
Neue Rechtsprechung zur Bestimmung des Nahbereichs der Wohnung
Eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung trifft der Senat in Bezug auf die Bestimmung des Nahbereichs der Wohnung. Nach Ansicht des Senats konnte mit diesem Kriterium lange Zeit die typisierende Vorstellung verbunden werden, dass in einem fußläufig zu erreichenden Radius im Allgemeinen die maßgeblichen Alltagsgeschäfte erreicht werden können (unabhängig davon, ob sie tatsächlich innerhalb oder außerhalb dieses Radius liegen) und so ein hinreichendes Aufschließen zu den Möglichkeiten nicht mobilitätsbeeinträchtigter Versicherter gewährleistet werde. Umfasst waren dabei auch immer schon Wege zur Aufrechterhaltung der körperlichen Vitalfunktionen und der Erschließung eines für die seelische Gesundheit elementaren Freiraums, da sie von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind.
Der Senat stellte nun fest, dass sich zwischenzeitlich die Angebotsstrukturen für die üblichen Alltagsverrichtungen der täglichen Versorgung erheblich verändert haben, der Anteil üblicherweise zu Fuß zurückgelegter Wegstrecken deutlich zurückgegangen ist und sich das Bewegungsverhalten vielfach auf Felder verlagert hat, die nicht mehr der Erledigung von Alltagsgeschäften zugeordnet werden können.
Vor diesem Hintergrund seien jedenfalls beim Wunsch nach aktiver Fortbewegung (unter Einsatz der eigenen Körperkraft) die örtlichen Gegebenheiten der erforderlichen Wege zu den wesentlichen Stellen der allgemeinen Versorgung und der Gesunderhaltung zu berücksichtigen und zwar auch dann, wenn diese über die von nicht mobilitätsbeeinträchtigten Menschen üblicherweise zu Fuß zurückgelegte Entfernung hinausreichen. Damit werde den betroffenen Versicherten eine Teilhabe an den Bewegungsmöglichkeiten vieler nicht mobilitätsbeeinträchtigter Personen eröffnet, die im Interesse der physischen und psychischen Gesundheit genutzt werden.
Eigenbeteiligung wegen ersparter Aufwendungen für ein Fahrrad
Da die begehrten Hilfsmittel zu einem gewissen Teil die Funktionen eines Fahrrads – und damit eines Gebrauchsgegenstands des täglichen Lebens – erfüllen, stand in Frage, ob von den Versicherten eine Eigenbeteiligung zu verlangen ist. Hierzu fehle es allerdings an einer Rechtsgrundlage, deren Schaffung dem Gesetzgeber vorbehalten wäre.
Terminbericht des Bundessozialgerichts
(Quelle: Bundessozialgericht)
Weitere Entscheidungen zum Rehabilitations- und Teilhaberecht finden sich auch in der
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