17.03.2021 A: Sozialrecht Jahn: Beitrag A10-2021

Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks – Teil III: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK

Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen können einen Anspruch auf Nachteilsausgleich bei der Absolvierung von Prüfungen haben, wodurch ein wirksamer Abbau von Barrieren im Studium möglich ist. Mit Verweis auf Entscheidungen aus den Jahren 1968 und 1985 werden Nachteilsausgleiche allerdings häufig ohne Einzelfallprüfung abgelehnt, obwohl es seitdem wichtige rechtliche Weiterentwicklungen gab. Vor diesem Hintergrund hat das Deutsche Studentenwerk im Oktober 2020 eine digitale Fachtagung veranstaltet, um das Thema Nachteilsausgleiche für Studierende mit längeren Erkrankungen aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren.

Dieser Beitragsteil befasst sich mit Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG) und Art. 5 Abs. 2 UN-Behindertenrechtskonvention mit Bezug zum Recht auf diskriminierungsfreie Prüfungsbedingungen bei länger andauernden Erkrankungen, die Prof. Dr. Jörg Ennuschat (Ruhr-Universität Bochum) an der Tagung vorstellte.

(Zitiervorschlag: Jahn: Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteils-ausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks – Teil III: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK; Beitrag A10-2021 unter www.reha-recht.de; 17.03.2021)


Am 2. Oktober 2020 veranstaltete die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks die Fachtagung „Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen“.[1]

Ein Referent der Tagung war Prof. Dr. Jörg Ennuschat (Ruhr-Universität Bochum), der seine (juristischen) Überlegungen zum Recht auf diskriminierungsfreie Prüfungs­bedingungen bei länger andauernden Erkrankungen vorstellte.[2] Bezüglich des Hinter­grunds der Tagung und der weiteren Vorträge zur Umsetzungspraxis von Nachteils­ausgleichen sowie der Ausgleichsfähigkeit von Auswirkungen länger andauernder Erkrankungen ist auf die Beitragsteile I und II zu verweisen.[3]

I. Recht auf diskriminierungsfreie Prüfungsbedingungen bei länger andauern­den Erkrankungen: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK

Prof. Dr. Ennuschat würdigte einleitend die bisherige Rechtsprechung zumindest dahin­gehend, dass bereits vor Schaffung der entsprechenden Anti-Diskriminierungs­bestimmun­gen im Grundgesetz, Europa- oder Völkerrecht, die Rechtsposition von Studierenden mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen durch eine verfassungsunmittelbare Anspruchsgrundlage auf Nachteilsausgleich verbessert werden konnte. Der Referent monierte dennoch den zunehmenden Verlust der norma­tiven Bodenhaftung der prüfungs­rechtlichen Rechtsprechung zu den Nachteils­ausgleichen.

Problematisch ist nach Auffassung des Vortragenden, dass sowohl die Rechtsprechung als auch die überwiegende Literatur weder die völkerrechtlichen (Art. 5 Abs. 2, 24 Abs. 5 UN-BRK) noch die verfassungsrechtlichen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) Vorgaben hinreichend berücksichtige.[4]

1. Völkerrechtliche Vorgaben

Auch für die Hochschulbildung sei das neue Verständnis des Begriffs „Behinderung“ aus Art. 1 S. 2 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) relevant. Man müsse sich dessen bewusst werden, dass Behinde­rungen nicht als Defizite in der Person begründet liegen, sondern dass das Prüfungs­setting zu gewissen Barrieren führen könnte. Ein behinderungsbedingter Nachteil entstehe also erst durch das Prüfungssetting in Wechselwirkung mit den vorhandenen Beeinträchtigungen der jeweiligen Person.

Die Diskriminierungsverbote gem. Art. 5 Abs. 2, 24 Abs. 5 UN-BRK erfassen auch mittel­bare Diskriminierungen, wobei Art. 5 Abs. 2 UN-BRK sogar unmittelbar Anwendung fände.[5] Soweit eine mittelbare Diskriminierung durch ein Prüfungssetting entstünde, wäre eine Rechtfertigung einer an eine Behinderung anknüpfende Ungleichbehandlung möglich, soweit zwingende Gründe vorlägen. Diese seien jedenfalls dann zu bejahen, wenn durch den Nachteilsausgleich der Prüfungszweck vereitelt werden würde. Nötig sei allerdings eine wertende Gesamtbetrachtung im jeweiligen Einzelfall, bei dem die Beeinträchtigung des Prüflings in Wechselwirkung zum Prüfungssetting sowie die konkrete Prüfungsleistung und der Prüfungszweck herangezogen werden müsse.[6]

Seien zwingende Gründe nicht gegeben, hätten Prüflinge unmittelbar aus der UN-BRK Anspruch auf angemessene Vorkehrungen in Form von Nachteilsausgleichen. Bei der Ausgestaltung dieser angemessenen Vorkehrungen werde dem Staat aber eine Einschätzungsprärogative[7] eingeräumt. Dennoch bestehe aber aus prozeduraler Hinsicht die Pflicht zur Einbeziehung des Betroffenen bei der Auswahl und der Festlegung der angemessenen Vorkehrung. Aus der UN-BRK selbst (Art. 2 UAbs. 4 UN-BRK) ergäben sich zudem die Grenzen der Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen durch den eingeschränkten Ressourcenvorbehalt, also einer unverhältnismäßigen oder unbilligen Belastung. In der Konsequenz folge also eine Pflicht („ob“) des Staates zur Gewährung eines Nachteilsausgleichs. Dem Staat verbleibe dagegen ein Ermessensspielraum, „wie“ der Nachteil ausgeglichen werden könne bzw. welche Vorkehrungen zu treffen seien.

2. Verfassungsrechtliche Vorgaben

Aus juristischer Hinsicht sei es des Weiteren unbefriedigend, dass die Verwaltungs­gerichte noch immer auf den allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancen­gleichheit aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abstellen, obwohl Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG unstrittig die speziellere Norm sei.[8] Nach der Auffassung von Prof. Dr. Ennuschat – anders aber Rechtsprechung und herrschende Lehre – greife der spezielle prüfungsrechtliche Grund­satz der Chancengleichheit gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, wenn es um die benachteiligende Ungleichbehandlung von Prüflingen wegen ihrer Behinderung ginge. Bei Beeinträchti­gungen ohne jeden Bezug zu einer Behinderung (z. B. Lärmstörungen) sei dagegen der allgemeine prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG heranzuziehen. Aber selbst bei Heranziehung von Art. 3 Abs. 1 GG sei Rechtsprechung sowie der Lehre vorzuhalten, dass sie in dessen Anwendungsbereich die sogenannte neue Formel[9] des BVerfG nicht in das Prüfungsrecht einbezögen.[10] Dies erfordere eine strenge Prüfung, ob im Einzelfall der Ausschluss vom Nachteilsausgleich verhältnis­mäßig wäre, um den Prüfungszweck zu erreichen.

Das besondere Gleichheitsrecht für Menschen mit Behinderung gem. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erfasse ebenfalls mittelbare Benachteiligungen[11] und die Rechtfertigung unterliege einem vergleichbar strengen Maßstab wie in der UN-BRK.[12] Lägen also keine zwingen­den Gründe für eine Ungleichbehandlung vor, bestünde die Pflicht zu hinlänglicher Kompensation[13] durch Fördermaßnahmen, soweit diese nicht unmöglich oder unzumut­bar seien. Sobald in einer Prüfung ein behinderungsbedingter Nachteil bestünde und ein Ausgleich möglich und zumutbar wäre, müsste dieser gewährt werden, es sei denn, der Prüfungszweck stünde der Gewährung zwingend entgegen. Eine „hinlängliche Kompen­sation“ wäre dabei, nach Ansicht des Referenten, am ehesten bei Einbeziehung der Studierenden in die Auswahl und Bemessung des Nachteilsausgleichs im Wege eines Benehmens zu erreichen.

II. Diskussionsrunde

Diskutiert wurde unter anderem über Atteste bzw. Nachweise der jeweiligen Beeinträch­tigungen und welche Nachteilsausgleiche hieraus folgen könnten. Hervorgehoben wurde, dass Erfahrungswerte eine wichtige Rolle bei der Frage nach den konkreten Nachteilsausgleichen spielen. Diese Erfahrungswerte lägen nach Ansicht der Vortragen­den vorwiegend im pädagogischen Bereich der Hochschule sowie bei den sozial­medizinisch spezialisierten Reha-Kliniken. Die Verschreibungen der niedergelassenen Ärzte enthielten dagegen oftmals pauschale, sich wiederholende Formulierungen statt differenziert auf den jeweiligen Einzelfall einzugehen. Betont wurde allerdings auch, dass es gerade aufgrund der individuellen Ausprägung schwierig sei, sich allein auf Erfahrungswerte zu verlassen.

Für die Prüfungsämter müsse sich als zentrale Frage stellen, was eigentlich das Prüfungs- und Lernziel im konkreten Fall sei. Dies werde zwar in den Modulbeschrei­bungen festgehalten, jedoch geschehe dies lediglich auf einem hohen Abstraktions­niveau.

Einig war man sich, dass der Einzelfall in den Vordergrund gerückt werden müsse und das allgemeine Lebensnachteile, also solche die nicht durch das Prüfungssetting verursacht werden bzw. daran anknüpfen, keine Prüfungsnachteile darstellen. Es wurde allerdings darauf hingewiesen, dass die Rolle der Beauftragten für die Belange von Studierenden mit Behinderungen geschärft sowie deren Ausstattung verbessert werden müsse, um den Grundsatz der Einzelprüfung auch gerecht werden zu können.

Beitrag von Philipp Jahn, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Fußnoten

[1] Das Programm sowie die Präsentationen sind abrufbar unter: www.studentenwerke.de/de/tagungsdokumentationen, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

[2]  Ennuschat, Recht auf diskriminierungsfreie Prüfungsbedingungen bei länger andauernden Erkrankungen: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, abrufbar unter: www.studentenwerke.de/sites/default/files/ennuschat_fachtag_nachteilsausgleiche.pdf, zuletzt abgerufen am 26.01.2021.

[3]  Siehe Dittmann: Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks, Teil I, Beitrag A9-2021, 11.03.2021 und Teil II, Beitrag C1-2021, 12.03.2021 unter www.reha-recht.de.

[4] Ergänzend seien auch die gleichstellungsrechtlichen Vorgaben für Arbeitgeber, insbesondere § 164 Abs. 4, Abs. 5 SGB IX, genannt.

[5] Von der Rechtsprechung unisono anerkannt.

[6] Sofern die Prüfung einen Berufsbezug aufweise, seien die Erfordernisse des Berufs sowie die im Beruf bestehenden Ausgleichsmöglichkeiten (z. B. § 164 Abs. 4 SGb IX) in die Bestimmung des Prüfungszwecks einzubeziehen.

[7] Beurteilungsspielraum.

[8] Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG lex specialis zu Art. 3 Abs. 1 GG.

[9] Im Gegensatz zum Willkürverbot erfordert die sog. neue Formel eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit.

[10] So etwa unlängst OVG NRW, NJW 2020, 1084.

[11] BVerfG Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 57.

[12] Zwingende Gründe bzw. Unerlässlichkeit, vgl. BVerfG Beschluss vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18, juris Rn. 35.

[13] BVerfG Beschluss vom 29.01.2019 – 2 BvC 62/14, juris Rn. 55,57; BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 – 2 BvR 1005/18, juris Rn. 35.


Stichwörter:

Studieren mit Behinderung, Nachteilsausgleich, Angemessene Vorkehrungen, Prüfungsrecht, Chancengleiche Teilhabe an Hochschulbildung


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