11.03.2021 A: Sozialrecht Dittmann: Beitrag A9-2021

Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks – Teil I: Umsetzungspraxis des Nachteilsausgleichs

Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen können einen Anspruch auf Nachteilsausgleich bei der Absolvierung von Prüfungen haben, wodurch ein wirksamer Abbau von Barrieren im Studium möglich ist. Mit Verweis auf Entscheidungen aus den Jahren 1968 und 1985 werden Nachteilsausgleiche allerdings häufig ohne Einzelfallprüfung abgelehnt, obwohl es seitdem wichtige rechtliche Weiterentwicklungen gab. Vor diesem Hintergrund hat das Deutsche Studentenwerk im Oktober 2020 eine digitale Fachtagung veranstaltet, um das Thema Nachteilsausgleiche für Studierende mit längeren Erkrankungen aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren.

In diesem Beitrag wird über den Vortrag von Dr. Maike Gattermann-Kasper (Universität Hamburg) berichtet, die praktische Einblicke in das Verfahren des Nachteilsausgleichs an der Universität Hamburg gab und ihre Erfahrungen als Beauftragte für die Belange von Studierenden mit Behinderungen teilte. Bei der Frage nach einem Anspruch auf einen Nachteilsausgleich sei selten strittig, ob eine Gesundheitsbeeinträchtigung vorliegt und diese im Zusammenhang mit einer bestimmten Prüfungsbedingung zu einem Nachteil führt. Zu häufigen Konflikten führe hingegen die Beurteilung, ob die Gesundheitsbeeinträchtigung die zu prüfenden Kompetenzen und Fähigkeiten beeinflusst. Diesbezüglich gebe es zwischen den Hochschulen sowie zwischen den Disziplinen unterschiedliche Herangehensweisen.

(Zitiervorschlag: Dittmann: Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks – Teil I: Umsetzungspraxis des Nachteilsausgleichs; Beitrag A9-2021 unter www.reha-recht.de; 11.03.2021)


Am 2. Oktober 2020 veranstaltete die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks die Fachtagung „Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen“.[1] Die Hintergründe der Fachtagung stellte Achim Meyer auf der Heyde (Deutsches Studentenwerk) vor.[2]

Für Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen könne die Organisation von Studium und von Prüfungen mit vielfältigen Barrieren verbunden sein, z. B. wenn ein Prüfungssetting eine individuelle Beeinträchtigung nicht berücksichtige. In solchen Fällen greife die Pflicht zum Treffen angemessener Vorkehrungen[3] in Form des Nachteilsausgleichs. Aus den Datenerhebungen des Deutschen Studentenwerks „beeinträchtigt studieren (best)“[4] wisse man, dass mit den Nachteilsausgleichen Barrieren im Studium und bei Prüfungen wirksam abgebaut werden können. Allerdings würden Nachteilsausgleiche häufig pauschal und ohne Einzelfallprüfung abgelehnt. Dies geschehe in der Regel mit Hinweis auf zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aus den Jahren 1968[5] und 1985[6], denen der Begriff des „persönlichkeitsprägenden Dauerleidens“ entspringt. Dies liege vor, wenn die Heilung einer Erkrankung nicht abzusehen ist und sie damit als persönlichkeitsbedingte Eigenschaft die normale Leistungsfähigkeit eines Prüflings präge und folglich für die Prüfungsbeurteilung von Bedeutung ist.[7] Meyer auf der Heyde weist darauf hin, dass chronische Krankheiten daran anknüpfend nicht ausgleichsfähig seien, was aus heutiger Sicht eine paradoxe Situation darstelle. Einerseits wurden in den vergangenen Jahren die Rechte von Menschen mit Behinderungen insbesondere durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, die UN-Behindertenrechtskonvention und die Behindertengleichstellungsgesetze gestärkt. Andererseits werden Menschen mit Behinderungen allein aufgrund einer Diagnose von Nachteilsausgleichen ausgeschlossen und dieser Ausschluss mit Verweis auf eine mehr als 35 Jahre alte Rechtsprechung gerechtfertigt.

Dies zum Anlass nehmend, wurden Dr. Maike Gattermann-Kasper (Universität Hamburg), Prof. Dr. Manfred Oster (Hochschule Mannheim) und Prof. Dr. Jörg Ennuschat (Ruhr-Universität Bochum) zur Fachtagung eingeladen, um aus verschiedenen Perspektiven (Umsetzungspraxis[8], Medizin[9] und Menschenrechte[10]) das Thema Nachteilsausgleiche für Studierende mit längeren Erkrankungen zu beleuchten und zu diskutieren.

I. Nachteilsausgleich in Prüfungen für Studierende mit langfristigen Krankheiten – Ein Praxisbericht

Gattermann-Kasper gab einen Einblick in das Verfahren des Nachteilsausgleichs der Universität Hamburg und berichtete aus ihrer Praxiserfahrung als Beauftragte für die Belange von Studierenden mit Behinderungen.

1. Begriffsklärung und Datenlage

Nach dem Hamburgischen Hochschulgesetz haben die Hochschulen die besonderen Bedürfnisse von Studierenden mit Behinderungen zu berücksichtigen, ihre Integration zu fördern und insbesondere beim Studium und Prüfungen einen Nachteilsausgleich zu ermöglichen (§ 8 Abs. 1 S. 1 und 2 HmbHG). Sie orientiere sich bei der Auslegung des Behinderungsbegriffs am Hamburgischen Behindertengleichstellungsgesetz (HmbBGG) sowie am SGB IX. Aus rechtlicher Perspektive sei zu unterscheiden zwischen amtlich festgestellten Behinderungen (§ 2 Abs. 2 und 3 SGB IX) und Behinderungen, die nicht amtlich festgestellt sind (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Nur eine Minderheit von Studierenden mit Beeinträchtigungen habe einen festgestellten Behinderungsgrad (15 %)[11], in allen anderen Fällen sei jeweils zu überprüfen, ob bei der oder dem Studierenden langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen vorliegen und diese in Wechselwirkung mit Barrieren zu Teilhabebeeinträchtigungen im Studium führen.[12]

Aus der best2-Studie gehe hervor, dass in den meisten Fällen gesundheitliche Beeinträchtigungen das Studium erschweren, die typischerweise nicht als Behinderung gedacht werden.[13] Den größten Teil machen mit 53 % psychische Erkrankungen aus, gefolgt von chronisch-somatischen Krankheiten (20 %).

2. Das Verfahren des Nachteilsausgleichs an der Universität Hamburg

An der Universität Hamburg können Studierende einen Nachteilsausgleich beim zuständigen Prüfungsausschuss beantragen. Am Entscheidungsverfahren hat der oder die Beauftragte für die Belange der Studierenden mit Behinderungen mitzuwirken (§ 88 Abs. 3 S. 1 HmbHG), z. B. durch Beratungsgespräche oder Stellungnahmen.

In den Beratungsgesprächen gehe es um die Anspruchsvoraussetzungen für einen Nachteilsausgleich, um mögliche Vorkehrungen sowie das Antragsverfahren und notwendige Nachweise. Außerdem kann auf Wunsch eine Stellungnahme bzw. Empfehlung ausgestellt werden, die unter anderem die Auswirkungen einer Gesundheitsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der fach- und prüfungsbezogenen Bedingungen, vorgelegte Nachweise sowie Empfehlungen zu nachteilsausgleichenden Vorkehrungen enthält.[14] Faktisch stelle eine solche Stellungnahme eine (Vor-)Entscheidung über den Nachteilsausgleich dar.

3. Praxiserfahrungen

Gattermann-Kaspers Bericht über ihre praktischen Erfahrungen als Beauftragte für Studierende mit Behinderungen bezog sich unter anderem auf die Anspruchsvoraussetzungen und die Vorkehrungen des Nachteilsausgleichs.

Eine regelmäßig erfüllte Anspruchsvoraussetzung für einen Nachteilsausgleich ist das Vorliegen einer Gesundheitsbeeinträchtigung. Ist keine ICD-10-Diagnose vorhanden, reiche es in der Regel aus, funktionelle Einschränkungen zu attestieren oder zu beschreiben.

Die zweite Voraussetzung für einen Nachteilsausgleich ist, dass die Gesundheitsbeeinträchtigung im Zusammenhang mit einer bestimmten Prüfungsbedingung zu einem Nachteil führt. Auch diese Voraussetzung kann meistens erfüllt werden, jedoch weist Gattermann-Kasper auf zwei typische Missverständnisse hin, die in den Beratungen auftreten. Zum einen könne aus einem festgestellten Grad der Behinderung oder einer Diagnose nicht automatisch ein Nachteil abgeleitet werden, sondern eine Beeinträchtigung von prüfungsrelevanten Aktivitäten müsse stets im Einzelfall geprüft werden. Zum anderen gebe es Situationen, in denen Nachteile nicht aus einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, sondern aus einer anderweitig schwierigen Lebenslage resultieren. In diesen Fällen komme ein behinderungsbedingter Nachteilsausgleich nicht in Betracht, es könne aber auf andere Beratungs- und Unterstützungsangebote hingewiesen werden.

Ein häufiger Anlass für Konflikte sei die dritte Voraussetzung, bei der zwischen den Fähigkeiten bzw. Kompetenzen, die durch die Prüfung ermittelt werden sollen und den Bedingungen des Nachweises dieser Fähigkeiten bzw. Kompetenzen zu unterscheiden ist. Sei die gedankliche Erarbeitung einer Lösung durch eine Gesundheitsbeeinträchtigung, z. B. eine Konzentrationsstörung, beeinflusst, könne dies nach der vorherrschenden Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden.[15] Der Umgang mit dieser vielfach als Diskriminierung empfundenen Rechtslage sei zwischen den, aber auch innerhalb von Hochschulen verschieden. Teilweise werden in Anknüpfung daran Nachteilsausgleiche pauschal abgelehnt, teilweise wird von dieser Rechtsprechung abgewichen. Abweichungen fänden vor dem Hintergrund statt, dass Studierende mit langfristigen Erkrankungen grundsätzlich als leistungsfähig oder unterstützungsbedürftig wahrgenommen werden und bereits wenig umfangreiche Maßnahmen häufig ausreichten. Außerdem ließen sich, je nach Fachkultur, unterschiedliche Positionen zur Bedeutung von Bearbeitungszeit und Anpassungen von Studien- und Prüfungsbedingungen feststellen. Neue Impulse für den Umgang mit dieser Voraussetzung für einen behinderungsbedingten Nachteilsausgleich könnte z. B. das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Ennuschat geben.[16]

Mit Blick auf konkrete Nachteilsausgleiche berichtet Gattermann-Kasper, dass bei Studierenden und medizinischem Personal teilweise geringe Kenntnisse vorliegen. Dies kann zur Folge haben, dass Vorkehrungen beantragt oder empfohlen werden, ohne dass die konkreten Voraussetzungen dafür bekannt sind (z. B. für einen Wechsel des Prüfungsformats).

Bei der Wahl einer Vorkehrung zum Nachteilsaugleich empfiehlt sie, nicht an der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Studierenden, sondern an individuellen Nachteilen anzusetzen, die sich häufig durch einfache Vorkehrungen, wie Anpassung der räumlichen Bedingungen (Prüfung in Räumen mit wenig Personen, mit Fenstern oder Wahl eines geeigneten Sitzplatzes) oder ein bestimmtes Verhalten der Aufsichtspersonen ausgleichen lassen.

Beitrag von René Dittmann (LL.M.), Universität Kassel

Fußnoten

[1] Das Programm sowie die Präsentationen sind abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/de/tagungsdokumentationen, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[2] Meyer auf der Heyde, Eröffnung, abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/22020-09-30_fachtag_nachteilsausgleiche_2020_eroeffung_meyer_auf_der_heyde_final.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[3] Zur Verpflichtung von Hochschulen zum Treffen angemessener Vorkehrungen: Kirmse: Die Verpflichtungen von Hochschulen zu „angemessenen Vorkehrungen“ unter besonderer Berücksichtigung des Merkmals der „unverhältnismäßigen Belastung“ anhand der Entscheidung des VG Halle vom 20.11.2018 – Teil I; Beitrag A15-2019 unter www.reha-recht.de; 09.08.2019.

[4] Deutsches Studentenwerk, best, Berlin 2012, abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/web_best_beeintraechtigt_studieren.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021; Deutsches Studentenwerk, best 2, Berlin 2018, abrufbar unter https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/beeintraechtigt_studieren_2016_barrierefrei.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[5] BVerwG, Beschluss vom 06. August 1968 – VII B 23.68 –, juris.

[6] BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 1985 – 7 B 210/85 –, juris.

[7] BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 1985 – 7 B 210/85 –, juris, Rn. 5 ff.

[8] Gatterkamp-Oster, Nachteilsausgleich in Prüfungen für Studierende mit langfristigen Krankheiten – Ein Praxisbericht, Präsentation abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/gattermann_fachtag_nachteilsausgleich_ibs.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[9] Oster, Kognitive Leistungsfähigkeit: Überlegungen zur Ausgleichsfähigkeit von Auswirkungen länger andauernder Erkrankungen, Präsentation abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/oster_input.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[10] Ennuschat, Recht auf diskriminierungsfreie Prüfungsbedingungen bei länger andauernden Erkrankungen: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, Präsentation abrufbar unter: https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/ennuschat_fachtag_nachteilsausgleiche.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[11] Deutsches Studentenwerk, best 2, Berlin 2018, S. 29, abrufbar unter https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/beeintraechtigt_studieren_2016_barrierefrei.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[12] Allerdings kann allein ein Schwerbehindertenausweis auch kein Maßstab für eine Studienerschwernis sein, Deutsches Studentenwerk, best 2, Berlin 2018, S. 4, abrufbar unter https://www.studentenwerke.de/sites/default/files/beeintraechtigt_studieren_2016_barrierefrei.pdf, zuletzt abgerufen am 11.01.2021.

[13] Damit meint Gatterkamp Kasper Bewegungsbeeinträchtigungen, Hör- und Sprechbeeinträchtigungen sowie Sehbeeinträchtigungen, die insgesamt 10 % der studienerschwerenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ausmachen.

[14] Siehe Universität Hamburg, Nachteilsausgleiche für Studierende mit Beeinträchtigungen im Prüfungsverfahren, abrufbar unter: https://www.uni-hamburg.de/studieren-mit-behinderung/downloads/nta-pruefungen.pdf, zuletzt abgerufen am 18.01.2021.

[15] Beispielhaft wird ein Beschluss des OVG Lüneburg angeführt, in dem ein Nachteilsausgleich abgelehnt wurde, weil es sich bei der Angststörung der Antragstellerin um eine Beeinträchtigung handelt, die mit einer Einschränkung der wissenschaftlichen und/oder geistigen Leistungsfähigkeit verbunden ist (siehe OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Juli 2020 – 2 ME 312/20 –, juris).

[16] Vgl. Jahn: Studieren mit länger andauernden Erkrankungen – Nachteilsausgleiche in Prüfungen, Fachveranstaltung des Deutschen Studentenwerks – Teil III: Überlegungen zu den Rechtsvorgaben aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 2 UN-BRK, in Kürze unter www.reha-recht.de.


Stichwörter:

Studium, Angemessene Vorkehrungen, Prüfungsrecht, Nachteilsausgleich, Studieren mit Behinderung, Inklusive Hochschule, Chancengleiche Teilhabe an Hochschulbildung


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