27.06.2024 A: Sozialrecht Wingert: Beitrag A10-2024
Alltagserfahrungen in Werkstätten – Ein Erfahrungsbericht
Der vorliegende Beitrag beschreibt das Alltagserleben und notwendige Veränderungen in und um Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) aus Sicht eines Werkstattbeschäftigten. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, „ungerechte Situationen in Werkstätten nicht einfach hinzunehmen, sondern diesen durch persönliches und politisches Engagement und schließlich über den Weg des Werkstattrats aktiv und kämpferisch zu begegnen“. Die biografischen Eindrücke zum Umgang mit Menschen mit (psychischen) Behinderungen und Erkrankungen zeigen, dass paternalistische Fürsorge sowie ein hoher Leistungsdruck einen Nährboden für grenzverletzendes Verhalten bilden können. Der Autoren-Name ist ein Pseudonym. Der Text stammt von einem Werkstattbeschäftigten, der anonym bleiben möchte.
Es handelt sich um eine Zweitveröffentlichung in gekürzter Fassung; vgl. Wingert: Alltagserfahrungen in Werkstätten – Ein Erfahrungsbericht, in: Schachler, Schlummer, Weber (Hrsg.): Zukunft der Werkstätten – Perspektiven für und von Menschen mit Behinderung zwischen Teilhabe-Auftrag und Mindestlohn, Verlag Julius Klinkhardt, Lebenshilfe Verlag der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V., 2023. Wir danken den Verlagen für die freundliche Genehmigung. Der Name des Autors ist der Herausgeberin/den Herausgebern bekannt. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Die Publikation ist veröffentlicht unter der Creative Commons-Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0 International.
(Zitiervorschlag: Wingert: Alltagserfahrungen in Werkstätten – Ein Erfahrungsbericht; Beitrag A10-2024 unter www.reha-recht.de; 27.06.2024.)
I. Biografisches
Ich bin Mitte Vierzig und habe bereits seit frühester Jugend psychische Probleme im Bereich einer Angsterkrankung, die von erheblichen depressiven Episoden begleitet werden und später noch mit einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung eines emotional-instabilen Typs abgerundet wurden. Im späteren Verlauf meiner Jugend kam ein gewisser Substanzmissbrauch hinzu und gipfelte in erheblichen Rückzugstendenzen, nervlichen Zusammenbrüchen, autoaggressivem Verhalten, bis hin zu konkreten Suizidgedanken und -versuchen. Mit Mitte Zwanzig hatte ich eine fast zehnjährige Psychiatrie- bzw. Psychotherapie-Erfahrung, lebte in einem Wohnheim für psychisch Kranke und konnte mich doch nicht aus dem Kreislauf von Klinikeinweisungen, Medikamentenwechseln und immer neuen Versuchen der „Alltagsbewältigung“ lösen. Was mir fehlte war – rückblickend betrachtet – eine feste Struktur.
Anfang 2000 wurde ich noch von Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern aus den Wohnheimen und Mitpatientinnen und -patienten aus den Kliniken und außerklinischen Therapieangeboten gewarnt, dass man „die monoton-langweiligen Verwahranstalten, in denen man einen Scheißdreck verdient und aus denen man nie mehr herauskommt“ (Zitat Mitpatient, den ich 15 Jahre später in einer Werkstatt wiedersehen sollte) unbedingt meiden müsse; ungefähr ein Jahrzehnt später sollte ich dann doch über ein Eingangsverfahren den Einstieg in das Werkstattleben machen.
Die Zeit bis dahin verbrachte ich mit einer langen Phase der Therapien, die mich irgendwann sogar so weit brachte, dass ich in einem (geschützten) Berufsförderungswerk die Ausbildung zum Industriekaufmann (IHK) absolvierte und abschloss. Leider musste ich ziemlich bald feststellen, dass der erste Arbeitsmarkt nicht für meine Psyche gemacht war: So gut auch meine Fähigkeiten, Kenntnisse und meine Motivation waren, irgendwann nach 3–4 Monaten musste ich jedes Praktikum im kaufmännischen Bereich abbrechen, weil ich dem Druck nicht mehr standhalten konnte und irgendwann innerlich zusammenbrach. Nach dem fünften oder sechsten Anlauf besprach ich alternative Möglichkeiten mit meiner damaligen Therapeutin und wurde sehr schnell fündig, da es neben dem ersten Arbeitsmarkt nicht viel gab (und heute noch nicht gibt).
II. Einführendes
Die Schauermärchen von Bastelbuden und Verwahranstalten lagen im Jahr 2010 bereits weit in der Vergangenheit, die Wahrnehmung in der Gesellschaft und das Stimmungsbild bezüglich psychischer Erkrankungen waren jedoch noch weit von einem Umdenken und einer gelebten Inklusion entfernt. So lernte ich zwar in den 1990ern noch enorm viele Menschen kennen, die einen für einen Spinner hielten, für jemanden, „der sich mal zusammenreißen sollte“, einen Menschen, „der irgendwann mal den Ernst der Lage erkennt und sich dann mit einer gewissen Reife aufrafft und seinen Weg schon finden wird“. 2010 war das schon deutlich im Wandel befindlich, gerade das Internet und die allgemeine Informationsflut aus allen erdenklichen Richtungen konnte das Bild der Kranken, Behinderten und Irren deutlich ändern – aber ich vermeide bewusst den Begriff „verbessern“! Man durfte jetzt krank sein, sollte das aber bitte schön in den dafür vorgesehenen Bereichen tun und sich „im psychiatrischen Umfeld“ mit „individuellen Lösungen“ an das „richtige Leben gewöhnen“. Da wurde viel „umgelabelt“ und neu benannt, der Kern und das Wesen vieler Einrichtungen, Institutionen und Vereine blieb jedoch immer ähnlich. Ich wage die Behauptung, dass „Aktion Mensch“ viel unverfänglicher klingt als „Aktion Sorgenkind“ und dass die Bezeichnung „Werkstatt für behinderte Menschen“ neutraler formuliert ist als „Behindertenwerkstatt“; aber der neue Anstrich verändert nicht den Inhalt, die Ziele, die Aufgaben, aber auch die Daseinsberechtigung all dieser Dinge.
Im Eingangsverfahren wunderte ich mich schon, dass man dort auf (psychisch kranke) Leute traf, die man zwar ebenso auf der Station einer Klinik kennengelernt haben konnte als auch in anderen psychiatrischen Bereichen, die aber nach meinem Ersteindruck ebenso als Lagerist, Pflegehelferin oder Bürofachangestellter hätten arbeiten können. Klar, man duzt sich sofort, Medikation ist ein Dauerthema und man hat das Gefühl, genau diese Leute schon tausendmal in anderen Einrichtungen getroffen zu haben, jetzt eben in einer Einrichtung für Arbeitstherapie im weitesten Sinne. Allerdings waren diese Leute größtenteils stabil, kamen regelmäßig, konnten mit ihrem Umfeld recht offen kommunizieren und machten auch sonst nicht den Eindruck, als dass man sie nicht irgendwo integrieren und rehabilitieren konnte. Schnell merkte man jedoch, dass der Alltag in einer Werkstatt einer Maschinerie glich, die selten gewartet, neu eingestellt oder in irgendeiner Form erneuert und verbessert wird. Der Satz „Das haben wir schon immer so gemacht, Herr W.“ sollte mich jahrelang begleiten, und man passt sich in kürzester Zeit an die Umstände an, die man als Rehabilitand vorfindet. Nach zwei Monaten im Eingangsbereich einer Werkstatt wurden die ersten dann schon in den Berufsbildungsbereich übernommen, der damals ebenso aussah wie der Rest der Werkstatt bzw. des Arbeitsbereichs: Es wurde produziert, gefertigt, gearbeitet.
Nachdem die Gruppenleiterinnen und -leiter die neuen Rehabilitanden im Eingangsbereich einschätzen konnten und sie gut genug auf Herz, Nieren und Korbflechtgeschicklichkeit überprüft hatten, wurden schnell die Möglichkeiten abgeschätzt, bei welchen Arbeitsaufträgen der Beschäftigte eingebunden werden konnte. Das erste Jahr des Berufsbildungsbereichs saß man also wie ein Beschäftigter an Arbeiten, die man von morgens bis nachmittags abarbeitete: Man faltete Verkaufsverpackungen, klebte Kartons zusammen, gelegentlich gab es einfache Montageaufträge; jedoch gab es im gesamten ersten Jahr keinerlei (von den Rehabilitationsträgern geforderte) berufsbegleitende Maßnahmen, sozial- oder persönlichkeitsentwickelnde Unterstützung oder gar Schulungen, die eine berufliche Rehabilitation hätten begleiten sollen.
Man muss dazu sagen, dass die Werkstatt, in der ich arbeite, keinem der großen Träger angehört und viele Abläufe, Strukturen und Konzepte noch „in den Kinderschuhen“ steckten, sich noch „im Aufbau“ befanden; zumindest waren und sind das Formulierungen, die ich gelegentlich noch heute – zehn Jahre später – in der Werkstatt von Seiten des Fachpersonals aufschnappe. Nach dem ersten Jahr im Berufsbildungsbereich gab es dann endlich einige Umbrüche: Es wurde eine kleine Küche aufgebaut, in der nun eine „Hauswirtschaftsgruppe“ arbeitete, und Projekte wie die „Papierwerkstatt“ wurden ins Leben gerufen, ja sogar Schulungen (Soziale Kompetenz, Entspannungstechniken usw.) wurden nach und nach eingeführt. Am Ende meines zweiten Jahres im Berufsbildungsbereich gab es jedoch auch die ersten Probleme, die den Grundstein für meinen kritischen Blick auf die Werkstätten legten und mein Engagement zur Verbesserung der Beschäftigtenrechte begründen sollte.
Mitten in der Frühstückspause kam der Anleiter des Eingangsverfahrens, der nicht mehr für mich zuständig war, auf mich zu und kritisierte mit erhobener Stimme meine Arbeitsweise an einem Montageauftrag: „Die Schrauben wären größtenteils zu fest angezogen!“ war seine Aussage. Nachdem ich ihm erklärte, dass ich „gerade Pause habe, er so oder so nicht für mich zuständig wäre und ich nach dem 800. Montage- und Schraubvorgang ohne Drehmomentschlüssel und nur mit Gefühl, nach bestem Wissen und Gewissen meine Arbeit erledige“, wurde der Anleiter regelrecht ausfallend, und es folgten mehrere Gespräche, in denen ich auf eine Art und Weise von mehreren Gruppenleitern derartig abgestraft und „in die Zange genommen“ wurde, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt meine Geduld und mein Verständnis mit dem Personal der Werkstatt aufgebraucht war.
Die Situation löste sich vorerst nur dadurch auf, dass ich vom Berufsbildungsbereich in den Arbeitsbereich „übernommen“ wurde (für gewöhnlich ein Automatismus) und dort nun in der Werkhalle meinen Arbeiten nachging. Schon damals hatte ich mich nicht mit der Werkstatt abgefunden, mich aber durchaus mit der Situation arrangiert – wenn man sich jeden Tag, oft bereits am Montagmorgen, „jeden Schuh anzieht“ und sich über alles Unfaire und Ungerechte aufregt, wird man schon nach kürzester Zeit sehr unglücklich. Unglücklich zu werden, wenn man sowieso schon depressiv ist und kaum noch aus sich selbst herauskommt, ist für viele der erste Schritt in eine totale Resignation. Viele Beschäftigte haben sich dann an die Umstände, die Selbstverständlichkeiten gleichkommen, gewöhnt.
Und der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier.
III. Mitbestimmung und Partizipation gehen an Werkstattbeschäftigten vorbei
Von vielen Ungerechtigkeiten schon erheblich gefrustet, brachte ein Vorkommnis das Fass zum Überlaufen, das ich selbst heute – mit Abstand, einer gewissen zeitlichen Distanz – immer noch als haarsträubend und grotesk empfinde: So kam es immer wieder – wie auch wahrscheinlich „im normalen Arbeitsleben“, jeden Betrieb erwischt es bestimmt einmal – zu erheblichen Verschmutzungen auf den Toiletten. Verschmutzungen, die gelegentlich auch einen gewissen Mutwillen erahnen ließen, aber auch Verschmutzungen, die bei 150 Personen, die sich einige wenige Toiletten teilen und zudem bei Missgeschicken aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen nicht „Manns genug sind“, Bescheid zu geben oder gar die Verunreinigungen selber zu beseitigen.
Jedenfalls wurde von Seiten der Werkstatt und auch des Werkstattrats einiges versucht, um dieser Problematik Herr zu werden: So wurde regelmäßig appelliert, es wurden Aushänge an die Schwarzen Bretter gepinnt, mit Verdächtigen im Vertrauen gesprochen, zusammen mit den Beschäftigten nach Lösungen gerungen, um Mithilfe geworben bzw. entwaffnend ehrlich ins Gewissen geredet. Damals blieb – das muss immer dazugesagt werden – zudem die Arbeit rund um die Sanitärräume komplett an der Hauswirtschaft hängen, das heißt, dass Beschäftigte mit psychischen Erkrankungen für einen Lohn von circa 185 Euro im Monat streckenweise mehrfach die Woche richtig eklig verschmutze Toiletten reinigen mussten. Der Anleiterin der Hauswirtschaft wurde die Sache irgendwann zu bunt (sie wollte sich auch durchaus schützend vor diese Hauswirtschaft stellen) und drohte einzelnen Arbeitsgruppen an, dass diese dann „darum würfeln müssen, wer bei weiteren Verschmutzungen an der Reihe wäre, die Sauerei sauber zu machen“ – diese Ansage führte bei vielen Beschäftigten zu enormem Unmut, niemand wollte unschuldigerweise Strafarbeit beim Toilettenputzdienst machen. Die Sache schlug so lange hohe Wellen, bis eines Tages Schlösser an den einzelnen Toilettenkabinen angebracht wurden, eine Nacht- und Nebelaktion über das Wochenende, ohne irgendwelche Mitwirkung oder Mitbestimmung des Werkstattrats oder eine wie auch immer gelagerte Beteiligung der Beschäftigten. Die Betriebsstättenleitung wollte die Sache endlich klären, und die neue Maßnahme wäre ein zeitlich kurzer Versuch (das war die erste beschwichtigende Formulierung), ob man überhaupt das Problem verbessern kann. Protest erhob sich vereinzelt, mehr oder weniger lautstark, zumal oft die Devise ist, dass nur die Leute sich wirklich erheben, die ganz konkret betroffen sind und teilweise sogar erheblich unter der neuen Situation zu leiden hatten. An vorderster Front waren selbstverständlich alle psychisch Erkrankten zu nennen, die mit Angststörungen, gewissen Zwängen, aber auch speziellen Psychosen oder Verfolgungswahn die „Sperrmaßnahmen“ der Toiletten als wirklich folterartige Bestrafung empfanden.
Der Toilettengang wurde zu einer Tortur für einige Beschäftigte, die von der Betriebsstättenleitung abgetan wurden mit den Formulierungen, dass das „höchst subjektive Eindrücke sind, auf die man nicht immer vollständig Rücksicht nehmen kann, wenn eine große Mehrheit von den jetzt sauberen Toiletten profitieren würde!“ und zudem würde es ja nicht zu Problemen im Ablauf kommen – eben das war jedoch mitunter das größte Problem. Zwei Arbeitsgruppen teilten sich nun den Schlüssel für eine Toilettenkabine (also 20–30 Personen), der mitten zwischen den Gruppen deutlich sichtbar aufgehängt wurde, ähnlich einem Tankstellen-Toilettenschlüssel mit gigantischem Schlüsselanhän-ger. Ich könnte jetzt unzählige Anekdoten zum Besten geben, wo und wie der Schlüssel oftmals auf Reisen ging (und Beschäftigte ihn kurz vor Feierabend einsteckten) oder nicht auffindbar war (weil Beschäftigte nach dem Toilettengang eben gerne mal eine Zigarette rauchen, unabhängig davon, dass 2 oder 3 andere Beschäftigte auf den Schlüssel warten, weil sie ein menschliches Bedürfnis haben); ich begnüge mich mit den Worten, die ich unserer Betriebsstättenleitung so ins Gesicht sagte: „Es war eine menschenverachtende Bestrafungsmaßnahme für das gesamte psychisch behinderte Kollektiv, der Toilettengang wurde ohne Schutz der Persönlichkeitsrechte oder des Datenschutzes zu einem für alle Anwesenden einsehbaren Spektakel ohne jegliche Intimität und all das erfolge vollkommen unredlich unter strengster Missachtung jeglicher Gesetzgebung, Verordnungen oder vorgeschriebener Beteiligung der Beschäftigten über den Werkstattrat“.
„Das sehen nur sie so, Herr W.“, war zu Beginn die recht kurze Verteidigungsposition.
IV. „Recht“ und „Gerechtigkeit“
Ich suchte händeringend und mit dem Rücken zur Wand nach irgendwelchen Lösungswegen, nach Ideen, wie man diese Situation auflösen konnte, und fand nur den formalen, quasi vorgegebenen Weg über das Gremium Werkstattrat. So fanden die langersehnten Wahlen des Werkstattrats statt und wurden – mit vielen Kontroversen – durchgeführt. Der Wahlvorstand gab sein Bestes, die Wahl wirklich korrekt und juristisch wasserdicht durchzuführen, aber es dauerte nicht lange, bis erhebliche Fehler, die deutlich über eine eventuelle Anfechtbarkeit hinausgingen, zu einer Implosion des Werkstattrats führten, die die folgenden Jahre erheblich beeinflussen sollten: So wurden in beiden Betriebsstätten der Werkstatt, vollkommen unabhängig voneinander, Wahlen durchgeführt zur Wahl von jeweils 3-köpfigen Gremien, die selbstständig beziehungsweise unabhängig voneinander agieren sollten. Leider agierten die Gremien dann gegeneinander, zudem bestanden erhebliche rechtliche Unklarheiten.
Ausschlaggebend für wirkliche Veränderung waren dann zwei andere Dinge: ein gewisser (auch öffentlicher) Druck von außen und der wachsende Unmut größerer Teile der Belegschaft. So kam es, dass ein ausführliches Schreiben der Gewerkschaft mit der Bitte um Klärung dieser untragbaren Zustände bei der Werkstattleitung schon andere Töne anstimmen ließ und überraschend detailliert die Situation aus Sicht der Werkstatt schilderte – man hatte nach dem Schreiben das Gefühl, dass die Werkstatt verstanden hatte, dass sie sich nicht alles erlauben kann und die Drohkulisse mir gegenüber (es lastete ein ständiger Druck auf mir) wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.
Der andere gewichtige Punkt war das einsetzende Verstehen und Begreifen der Situation innerhalb der Belegschaft, quasi eine Art Momentum, ein Zeitpunkt wo viele sagten, dass sich mit einer gewissen Beharrlichkeit dann doch Dinge ändern lassen. Ich habe bis heute die Worte der Vertrauensperson des Werkstattrats im Ohr, die in einer folgenden Werkstattversammlung nach langen und lautstarken Diskussionen verwundert und irritiert äußerte, „dass da wohl doch viele Beschäftigte ein Problem mit der Situation haben“. Bezeichnend, da eine der Hauptstrategien der Werkstattmitarbeiter über Jahre hinweg das Marginalisieren der angesprochenen Probleme war; ein typischer Satz war immer, dass benannte Probleme erst mal grundsätzlich „sehr subjektiv wären und man mit einer Einzelmeinung dastünde“. Mit dem Unmut einer großen Anzahl Beschäftigter im Rücken konnte man nun wieder mit Nachdruck Forderungen in den Raum stellen.
Das verbotene Wort „Neuwahl“ fiel in der erwähnten Werkstattversammlung das erste Mal, und in vielen Beschäftigten keimte Hoffnung, dass sich dann doch noch etwas an der verfahrenen Situation ändern könnte. Der zweijährige Weg von dieser denkwürdigen Werkstattversammlung zur durchgeführten vorgezogenen Neuwahl sollte jedoch – nicht nur wegen der hereinbrechenden COVID-19-Pandemie – noch sehr steinig werden, vor allem, da alle Beteiligten die unterschiedlichsten Interessen hegten und kein gemeinsamer Austausch und keine konstruktive Zusammenarbeit möglich war. Erst ein zweiter Anlauf führte dann im Spätsommer 2021 zum Erfolg, und unsere Werkstatt hatte das erste Mal seit über 4 Jahren wieder einen gesetzeskonformen und aktiven Werkstattrat, dem ich – nicht ohne einen gewissen Stolz über das Erreichte – nun vorsitze.
V. Konstruktive Ansätze
Ich schreibe all diese Zeilen eigentlich nur aus einem einzigen Grund: Werkstätten haben selbstverständlich ein grundlegendes Existenzrecht; es wird immer Leute geben, die auf eine tagesstrukturierende und sinnstiftende Tätigkeit abseits des ersten Arbeitsmarktes angewiesen sind. Jedoch ist das System in sich in einem recht desolaten Zustand, und zudem führen Verbesserungen nicht selten in eine vollkommen falsche Richtung – die Hartz-Gesetzgebung hat in meinen Augen zudem die Sogwirkung der Werkstätten derart vergrößert, dass immer mehr Menschen, die grundsätzlich nicht in eine Werkstatt gehören, dennoch in eben diese hinein gespült werden. Gerade junge Menschen stranden dann relativ schnell in den Werkstätten; eigentlich sollte aber insbesondere dieser Personenkreis mit ein wenig Geduld und Beharrlichkeit (und vernünftigen Arbeitsmaßnahmen, einer soliden Vermittlung und einem Mehr an Beratung und Unterstützung) viel häufiger in den Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Der Arbeitsmarkt müsste sich dementsprechend in naher Zukunft deutlich inklusiver zeigen und jüngeren Menschen bedeutend tatkräftiger unter die Arme greifen. Es ist immer wieder traurig zu sehen, dass gerade Menschen zwischen 18 und 30 immer wieder mit ähnlichen Biografien (Schul- abbrecherinnen und -abbrecher, Lernbehinderung, Drogenerfahrungen, depressive Episoden, mit großen „Startschwierigkeiten“ in das Arbeitsleben) in den Werkstätten landen. Ich bin fest davon überzeugt, dass man bereits mit kleineren Stellschrauben außerhalb des Werkstättensystems eben diese Menschen in Lohn und Brot bringen kann.
Schwieriger und mir am Herzen liegend ist jedoch viel mehr die Frage, wie die Werkstattbeschäftigten im System WfbM behandelt werden, wie ihre Partizipation über Werkstatträte in der Realität aussieht. Hier bestehen leider immer noch Abgründe und ich glaube, dass das Werkstättensystem nur mit gravierenden und erheblichen Veränderungen in die Zukunft gerettet werden kann – leider sind „kleine“ Stellschrauben alleine (wie eine Entgeltreform, ein Arbeitnehmerstatus der Beschäftigten, die Weiterentwicklung der Partizipation über Werkstatträte, auch Aufsichtsmöglichkeit analog zur Heimaufsicht oder erleichterte Beschwerdemöglichkeiten und vereinfachter Zugang zu Beratungsstellen u. v. m.) unzureichend und werden immer wieder in den nächsten Jahren zu Problemen führen, „die niemand auf dem Schirm haben konnte“; siehe die diversen Vorfälle (Gewalt und Missbrauch) in den letzten Jahren. Diese wurden erst als Einzelfälle und bedauerliche Ausnahmeereignisse von allen Seiten beschrieben und wiesen dann doch auf gravierende strukturelle Probleme hin.
Jedes Mal, wenn ich mich mit anderen Werkstatträten zu Erfahrungsaustauschen treffe und die immer gleichen Probleme höre (Mittagsverpflegung ist da immer der „unverfängliche Einstieg“ und man landet schnell bei ignoranten und beinharten Werkstattleitungen und den üblichen Budgetfragen …), dann kämpfe ich mit einer schwindenden Hoffnung auf „Recht und Gerechtigkeit“ – der große Ansporn bleiben jedoch die unzähligen Kolleginnen und Kollegen, die noch weniger Kraft, Mut, Hoffnung und Fähigkeiten haben, genau diese Probleme anzugehen und für die Verbesserung der Situation der Werkstattbeschäftigten zu kämpfen.
Um die Probleme möglichst konstruktiv und für alle Beteiligten zufriedenstellend zu lösen, muss man genau dieses große, zentrale Dilemma der Werkstattbeschäftigten lösen. Denn das Dilemma ist und bleibt, dass jeder Beschäftigte sein Kreuz zu tragen hat und sich dann aber auch noch darüber hinaus für die eigenen Interessen einsetzen soll – das ist für das Gros der Beschäftigten kaum zu schaffen und vollkommen utopisch. Deshalb sollte man genau an diesem Punkt ansetzen und die Dilemmata und Paradoxien mit politischen Initiativen und einer Anpassung verschiedener Verordnungen und Gesetze Stück für Stück auflösen und schlussendlich vollends überwinden. Zwei Punkte, in klaren, deutlichen Worten:
Die Beschäftigten dürfen nicht mehr zwischen den beiden Extremen „Als Unmündige betreut und therapiert werden“ auf der einen und „möglichst stramm mit Arbeit zu unterirdischer Entlohnung auf den knochenharten ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden“ auf der anderen Seite stehen.
Hier gilt es, ihnen sowohl den Arbeitnehmerstatus zu gewähren und das Entlohnungssystem zu revolutionieren (keine „kleinen“ Stellschrauben!) als auch besondere Bereiche und Betreuungsformen für die schwer- und mehrfachbehinderten Menschen zu finden, die sonst komplett durch das Raster fallen würden.
Ein Umdenken unter den Mitarbeitern ist dafür auch notwendig: Ich denke, jeder Werkstattbeschäftigte kennt das Wechselbad der Gefühle, wenn eine Gruppenleiterin bzw. Gruppenleiter an einem Tag der fürsorglichste Mensch ist, den man sich vorstellen kann, einem alle Erschwernisse abnehmen und ersparen möchte, und bereits am nächsten Tag wird man gescholten, wenn eine kleine Verspätung schon mit der großen Argumentationskeule bestraft wird, „dass man sich das auf dem ersten Arbeitsmarkt auch nicht erlauben darf!!“ (Wo man jedoch nicht mit durchschnittlich 200 Euro entlohnt wird, um den Widersinn noch einmal zu verdeutlichen). Das soll kein direkter, persönlicher Angriff auf die Gruppenleiter und Werkstattmitarbeiter sein! Ganz im Gegenteil, es sollte insbesondere der erhebliche Druck gesenkt/ genommen werden, unter dem auch diese Personen stehen, die unter dem Strich die (Arbeits-)Ergebnisse zu verantworten haben. Eine Verbesserung des Betreuungsschlüssels wäre da nur der erste zaghafte Schritt von vielen. Vielleicht aber auch der wichtigste.
Die Partizipation über Werkstatträte muss ebenso aus dem Paradox (und der oft unausgesprochenen Meinung vieler Werkstätten) gerissen werden, dass die Werkstatträte oftmals nicht wissen, was sie eigentlich wollen (oder eben „zu wollen haben“) – dabei ist der elementarste Schlüssel, die Werkstatträte ernst zu nehmen und in eben dieser Position zu unterstützen! Das geht bereits bei Kleinigkeiten in der WMVO los, die beispielsweise externe Vertrauenspersonen inzwischen ermöglicht, was jedoch in der Realität zumeist ein hoffnungsloses Unterfangen ist (das liest sich nur auf dem Papier gut) oder auch eine (bessere) Möglichkeit sich von Fachverbänden, Experten oder anderen Unterstützern Hilfe zu holen, ohne gleich als „Nestbeschmutzer des eigenen Betriebs“ oder „Gegner des Werkstättensystems“ böse beäugt zu werden.
Viele Werkstattleitungen übersehen immer noch die Synergieeffekte und die sich eröffnenden Möglichkeiten, wenn Werkstatt, Werkstattrat und Beschäftigte an einem gemeinsamen Strang ziehen; Stichwort: „auf Augenhöhe“. Auf Augenhöhe bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass die Budgetfrage, also die Finanzierung der Werkstattratsarbeit, endlich solide und einheitlich für alle Bundesländer geklärt wird! Der Flickenteppich der Regelungen, die alle auch in sich sehr wackelig und für viele Werkstatträte vollkommen intransparent sind, muss endlich durch eine klare Verordnung ersetzt werden – ohne die Sicherheit und die dann selbstständige(ren) Arbeitsbedingungen, die eine klare Finanzierung mit eigenem Budget für die Werkstatträte ermöglicht, ist eine gute und solide Werkstattratstätigkeit kaum möglich.
Auch in dieser Frage sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werkstätten zu nennen: Kündigungsschutz auch für die Vertrauenspersonen oder auch die Verpflichtung, solche Dinge schriftlich festzuhalten und nicht nur „auf Bedarf und Zuruf“ zu realisieren!
VI. Fazit
Die Werkstätten haben eine Daseinsberechtigung, ohne Frage. Das System hat sich jedoch in den letzten zwei Jahrzehnten (seit Einführung des SGB IX, der WMVO und später der Hartz-Gesetze) in eine falsche Richtung entwickelt und wächst wie ein Schneeball, der einen Hang hinabrollt, immer weiter an – leider helfen da die zaghaften Veränderungen innerhalb des Systems (BTHG) wenig. Da sich die Inklusion in Deutschland insgesamt auch nur graduell verbessert (siehe beispielsweise das Bildungswesen), ist eine Reform dieses Systems zugegebenermaßen äußerst schwierig. Scharmützel hier und dort (beispielsweise die schrill und laut geführte Mindestlohn-Debatte) erschweren die notwendigen Umbrüche, die gewaltig und enorm sein müssen, damit die Werkstätten und deren dahinterstehendes System nicht in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten (siehe UN-Behindertenrechtskonvention und die Abmahnungen an Deutschland diesbezüglich) komplett unglaubwürdig werden.
Ich bin hoffentlich nicht nur borniert wie Michael Kohlhaas und verrenne mich in eine (vielleicht sogar falsche) Richtung; aber es stehen gewaltige Aufgaben im Raum und ich bin heilfroh, dass es da draußen idealistische und selbstlose Personen gibt, die genau dieser Problematik den Kampf angesagt haben und mit viel Geduld, Muße und persönlichem Aufwand eine Verbesserung erzielen wollen: Danke!
Stichwörter:
Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), Mitbestimmung, Werkstattrat, Werkstattentgelt, Behinderungsgerechte Beschäftigung
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