10.04.2025 A: Sozialrecht Posch: Beitrag A2-2025
Österreich und Art. 27 UN-BRK – Ein Überblick des Status Quo – Teil I: Das Konzept der „Arbeitsunfähigkeit“ und seine Folgen
Die Autorin Denise Posch (Johannes Kepler Universität Linz) beschäftigt sich in diesem zweiteiligen Beitrag mit Hindernissen für die Umsetzung von Art. 27 UN-BRK (Recht auf Arbeit) in Österreich. Im ersten Teil befasst sich die Autorin mit der rechtlichen Etikettierung von Menschen mit Behinderungen als "arbeitsunfähig", die einerseits mit veralteten medizinischen statt psychosozialen Kategorien operiert, andererseits Lebensläufe vorstrukturiert und Menschen mit Behinderungen von vorrangigen Förderungs-, Wiedereingliederungsmaßnahmen ausschließt.
(Zitiervorschlag: Posch: Österreich und Art. 27 UN-BRK – Ein Überblick des Status Quo – Teil I: Das Konzept der „Arbeitsunfähigkeit“ und seine Folgen; Beitrag A2-2025 unter www.reha-recht.de; 10.04.2025)
I. Einleitung
Im September 2023 veröffentlichte der Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen zum zweiten Mal seine Abschließenden Bemerkungen („concluding observations“) zu dem Staatenprüfverfahren Österreichs.[1] In den zehn Jahren, die zwischen den ersten Abschließenden Bemerkungen[2] und den jüngst ergangenen liegen, wurden zahlreiche Maßnahmen gesetzt, um den aus dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erwachsenen Verpflichtungen gerecht zu werden.[3] Der weitaus überwiegende Teil der concluding observations lässt jedoch erkennen, dass es noch enormes Verbesserungspotential gibt und ein Tätigwerden des österreichischen Gesetzgebers unerlässlich ist, um den Postulaten des Übereinkommens zu entsprechen. Neben den bekannten Problemen der sich aus der föderalen Struktur ergebenden Zersplitterung der Rechtsquellen im Bereich der Rechte von Menschen mit Behinderungen,[4] wurden vom Ausschuss u. a. das in Österreich noch immer dominierende medizinische Modell von Behinderung stark kritisiert[5] sowie die fehlende Möglichkeit, individuelle Rechte aufgrund des Übereinkommens durchsetzen zu können.[6] Im Bereich Beschäftigung und Arbeit wurde vor allem die Segregation von Menschen mit Behinderungen vom offenen Arbeitsmarkt durch die
Beschäftigung in sog. „geschützten Werkstätten“[7] sowie das Festhalten am Konzept der – eine Eigenschaft als Arbeitnehmerin bzw. Arbeitnehmer (AN) ausschließenden – Arbeitsunfähigkeit ins Zentrum der Kritik gerückt.[8]
Dieser Beitrag konzentriert sich speziell auf die letztgenannten Problemfelder und legt den Fokus auf das durch Art. 27 UN-BRK verbriefte Recht auf Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen.
II. Problemfelder auf österreichischer Ebene
In den concluding observations wurden vor allem die ausgrenzende Wirkung der Etikettierung als „arbeitsunfähig“ unter Zugrundelegung des medizinischen, ergo defizitorientierten Modells von Behinderungen und die damit einhergehende Konsequenz der segregierten Beschäftigung auf dem „Ersatzarbeitsmarkt“ in geschützten Werkstätten als dem Übereinkommen zuwiderlaufend hervorgehoben. Im Folgenden werden daher die Einstufung als „arbeitsunfähig“ sowie Konzepte geschützter Beschäftigung in Werkstätten-Settings, wie sie in Österreich vorherrschen sind, dargestellt und auf ihre Vereinbarkeit mit der UN-BRK geprüft.
III. Das Konzept der „Arbeits(un)fähigkeit“
Im österreichischen Arbeits- und Sozialrecht stellt die Feststellung von Arbeits(un)fähigkeit einen zentralen Anknüpfungspunkt für Leistungen aus der Sozialversicherung wie Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension dar. Sie bestimmt insbesondere für Menschen mit Behinderungen, „welcher Arbeitsmarkt“ ihnen zur Verfügung steht[9] und ob die Vermittlungs- und Unterstützungsmaßnahmen des Arbeitsmarktservice (AMS)[10] in Anspruch genommen werden können oder nicht.[11] Nur Menschen, die „arbeitsfähig“ sind, fallen in die Zuständigkeit des Bundes und können diese Förderungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen.
Erschwerend kommt hinzu, dass weder begriffliche noch funktionale Einigkeit darüber herrscht, wann eine Person „fähig“ ist, Arbeit zu leisten;[12] nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) gilt eine Person als invalid (§ 255 ASVG) oder berufsunfähig (§ 273 ASVG) „wenn ihre Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist.“
In der Praxis bedeutet das oftmals einen vorher- und damit vor allem fremdbestimmten Weg für Menschen mit Behinderungen: Nach Absolvierung der Schulzeit (Pflicht- oder Sonderschule) wird in der sog „Gesundheitsstraße“ der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) die Arbeitsunfähigkeit festgestellt („automatische Feststellung der Arbeitsunfähigkeit“[13]).[14] Damit wird der Eintritt in den regulären Arbeitsmarkt vehement erschwert; die nächste Konsequenz ist entweder die Beschäftigung am zweiten Arbeitsmarkt oder – wohl noch häufiger – die Arbeit in geschützten Beschäftigungsstrukturen.[15] Bis zur Novellierung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes war es damit gängige Praxis, (sehr) junge Menschen mit Behinderungen bereits in einem (sehr) jungen Alter vom allgemeinen Arbeitsmarkt auszuklammern und gleichzeitig sämtliche Förderungsmöglichkeiten durch das AMS zu versagen. Erfreulicherweise wurde dem § 8 Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 2023[16] der Abs 5 hinzugefügt, welcher nunmehr ausdrücklich festhält, dass bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres keine Verpflichtung zur Untersuchung der Arbeitsfähigkeit in der Gesundheitsstraße mehr besteht. Außerdem werden Jugendliche bis zu ihrem 25. Geburtstag nunmehr vom AMS betreut und vorgemerkt sowie ihnen alle damit einhergehenden Dienstleistungsangebote (bspw. Ausbildungs- oder Wiedereingliederungsmaßnahmen) zugänglich gemacht (§ 38a AMSG).[17]
Neben der Einstufung als arbeits(un)fähig wird für Menschen mit Behinderungen auch ein Grad ihrer Behinderung nach Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) bzw. Einschätzungsverordnung festgestellt.
Wichtig zu verstehen ist, dass ein festgestellter Grad der Behinderung nicht zwangsläufig und gleichsam eine Aussage über die Arbeitsfähigkeit trifft.[18] Es ist durchaus möglich, einen hohen Grad der Behinderung aufzuweisen und gleichzeitig für eine konkrete Tätigkeit vollste Leistungs- bzw. Arbeitsfähigkeit zu besitzen.[19] Diese beiden Kategorien dürfen also nicht verwechselt werden: Während der Grad der Behinderung als eine erste Einordnung zum Kreis der begünstigten Behinderten i. S. d. § 2 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) nach medizinischen Faktoren vornimmt, ohne dabei auf eine konkrete Tätigkeit abzustellen, wird die „verwertbare Mindestleistungspflicht“ als Fähigkeit verstanden, die Arbeitsleistungen auf einem spezifischen Arbeitsplatz erbringen zu können.[20] § 2 Abs 2 lit d BEinstG erklärt, dass eine Person dann kein „begünstigter Behinderter“ sein kann, wenn sie „infolge des Ausmaßes ihrer Funktionsbeeinträchtigungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch auf einem geschützten Arbeitsplatz oder in einem Integrativen Betrieb (§ 11) nicht geeignet“ ist. Eine Beschäftigung in einem solchen Integrativen Betrieb ist wiederum nur dann möglich, wenn eine wirtschaftlich verwertbare Mindestleistungsfähigkeit vorhanden ist.[21] Eine Konkretisierung dieser Kennzahl findet sich unter Punkt 3 der Richtlinie Integrative Betriebe,[22] die klarstellt, dass in einem Integrativen Betrieb nur Menschen aufgenommen werden können, „die wegen Art und Schwere ihrer Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht oder noch nicht tätig sein können, aber rehabilitationsfähig sind, deren wirtschaftlich verwertbarer Leistungsrest nach entsprechendem Arbeitstraining und nach entsprechender Arbeitserprobung oder nach entsprechender Ausbildung voraussichtlich die Hälfte der Produktivität einer Normalarbeitskraft in gleicher Beschäftigung ausmacht, deren Gemeinschaftsfähigkeit erprobt ist und die weitgehend unabhängig von Pflege sind.“ Integrative Betriebe im Sinne des BEinstG bieten Menschen mit Behinderungen, die über diese vom Gesetz geforderte Mindestarbeitsfähigkeit verfügen, eine kollektivvertraglich entlohnte und sozialversicherte Beschäftigungs- bzw. Qualifizierungsmöglichkeit – insbesondere in Produktions- und Dienstleistungsbereichen –, wobei die Aufnahme durch ein interdisziplinäres Sachverständigenteam erfolgt.
Dadurch wird klar, dass auch hier das Label der „Arbeitsunfähigkeit“ wirkt: Nur, wer eine Mindestleistungsfähigkeit vorweisen kann, fällt in den Anwendungsbereich des Gesetzes. Beträgt die Arbeitsfähigkeit weniger als die Hälfte der Leistungsfähigkeit eines Menschen ohne Behinderungen, kommen lediglich die Beschäftigungsalternativen in Frage, die in den Zuständigkeitsbereich der Länder fallen, also die Arbeit in Tages- und Beschäftigungsstrukturen bzw. „geschützten Werkstätten“.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundesbehindertengesetzes sowie des Behinderteneinstellungsgesetzes[23] wurde eine sprachliche Adaptierung des § 11 BEinstG vorgenommen (Inkrafttretensdatum 19.07.2024). Gemäß Abs 2 leg cit steht nunmehr nicht mehr die Erhöhung von Leistungsfähigkeit des Menschen mit Behinderungen in Integrativen Betrieben im Vordergrund, sondern die Entwicklung der Vermittlungsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt im Rahmen der Qualifizierung. Vermittlungsfähigkeit sei ein umfassenderer Begriff als Leistungsfähigkeit[24] – daraus lässt sich zumindest ein anwachsendes Problembewusstsein dieser Begrifflichkeiten erkennen.
Das Recht der „Behindertenhilfe“ der Bundesländer knüpft wiederum nicht an ein Modell der Arbeits(un)fähigkeit an, sondern erklärt in den jeweiligen Landesgesetzen, was unter Behinderungen zu verstehen ist. Hierbei finden sich auch Definitionen, die dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung entsprechen und eben nicht auf vorwiegend medizinischen, defizitorientierten Betrachtungen basieren. Im Ergebnis wird jedoch primär darauf abgestellt, ob es für die Person noch Förderungen auf bundesrechtlicher Ebene gibt (bspw durch das AMS oder das BEinstG) – diese hängen wiederum unmittelbar an einer festgestellten Arbeitsfähigkeit. Nur für „Arbeitsunfähige“ sind die Länder im Rahmen der „Behindertenhilfe“ für diese Menschen zuständig.[25]
Die Bestimmungen zur Arbeits(un)fähigkeit stellen insofern – mitunter – die Weichen für einen inklusiven, durchlässigen Arbeitsmarkt[26] und zählen bis dato zu den größten rechtlichen Hindernissen auf dem Weg zur Realisation der Ziele von Art 27 UN-BRK.[27]
1. Problemfeld I: Medizinisches Modell von Behinderung
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die ausgrenzende Wirkung dieser Etikettierung vom Ausschuss als „besorgniserregend“ empfunden wird und die Feststellung von Arbeitsfähigkeit dringend mit dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung in Einklang zu bringen ist.[28] Eine Anknüpfung an und Fokussierung auf „Unfähigkeiten“ als Eintrittshürde in den allgemeinen Arbeitsmarkt entspricht keinesfalls dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung und wird vom Ausschuss ausdrücklich abgelehnt:
„States parties should take immediate measures to remove barriers in laws, policies and programmes that associate disability with ‚inability to work‘. In particular, measures to assess or classify disability status should not be based on or lead to limitation of the right of persons with disabilities to work.“[29]
Vielmehr bedarf es eines gänzlich neuen Verständnisses, das auf einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung aufbaut: Behinderung ist nicht die Eigenschaft einer Person, vielmehr ist es ein soziales Phänomen, in das Handlungen und Unterlassungen der Gesellschaft einfließen.[30]
Derzeit findet eine Bestimmung des Grades der Behinderung nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung statt. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in der Anlage der Einschätzungsverordnung[31] festgelegt. So wird bspw. der Verlust von allen fünf Fingern einer Hand mit 50 %[32] und eine „Intelligenzminderung mit maßgeblichen Anpassungsstörungen“[33] mit 50–80 % Grad der Behinderung eingeschätzt. Gemäß § 4 der Einschätzungsverordnung bildet die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens.
Während mit einem festgestellten Grad der Behinderung nicht zwangsläufig ein Ausschluss vom regulären Arbeitsmarkt einhergeht, kann dieser im Gegenteil im Berufsleben sogar mit Vorteilen verbunden sein: Ab einem Grad der Behinderung von mindestens 50 % besteht die Möglichkeit, den Status als begünstigter behinderter Mensch gemäß BEinstG zu erlangen. Damit gehen u. a. ein besonderer Kündigungsschutz, der Anspruch auf bestimmte Fördermaßnahmen sowie – sofern vorgesehen – auf Zusatzurlaub und steuerliche Begünstigungen einher. Anders verhält es sich hingegen bei der Einstufung als „arbeitsunfähig“, weswegen hier die Bewertungen nach dem medizinischen Modell der Behinderung gravierende Auswirkungen auf die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen haben.
Der Kern des Feststellungsverfahrens in der „Gesundheitsstraße“ besteht aus medizinischen Begutachtungen. Dem ärztlichen Gutachten müssen nach den Richtlinien für die Grundsätze der Erstellung von Gutachten in Angelegenheiten der beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation (RBG 2013) Kennzahlen entnehmbar sein wie z. B. das körperliche und psychische Leistungsvermögen, Hand- und Fingergeschick sowie Arbeitsfähigkeit unter Zeitdruck und in Zwangshaltung (§ 4 RBG 2013). Welche Methoden hierbei konkret zur Anwendung gelangen, wird nicht durch die Richtlinie geregelt.[34] Zwar sieht § 5 der RBG 2013 grundsätzlich vor, dass auch berufskundliche Feststellungen Teil des Gutachtens sind – was dem Grunde nach eine fähigkeitsorientierte Perspektive innerhalb des Verfahrens eröffnen würde –, allerdings sind diese „auf Basis der ärztlichen Feststellungen“ zu treffen. Damit kommt es im Ergebnis zu einer fachlichen Engführung auf die Disziplin der Medizin,[35] was wiederum einem menschenrechtlichen Verständnis von Behinderung zuwiderläuft, wenn dadurch individuellen Ressourcen und Fähigkeiten keine Bedeutung geschenkt wird und der Mensch auf sein impairment reduziert wird.[36] Dadurch werden Menschen mit Behinderungen, die mit Unterstützung und in einem geförderten Arbeitsleben arbeiten können und wollen, durch eine rein medizinische Etikettierung vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen (näher dazu sogleich).[37]
2. Problemfeld II: Konsequenzen dieser Etikettierung
In der Praxis wird den einzelnen Modellen (Arbeitsunfähigkeit, Grad der Behinderung, verwertbare Mindestleistungsfähigkeit) nicht in diesem Ausmaß Beachtung geschenkt. Die Arbeits(un)fähigkeit stellt den Dreh- und Angelpunkt dar: Werden Menschen mit Behinderungen in der „Gesundheitsstraße“ als arbeitsunfähig eingestuft, kommt es zur Zuständigkeit der jeweiligen Bundesländer im Rahmen der „Behindertenhilfe“. Wird Menschen mit Behinderungen aber Arbeitsfähigkeit attestiert, stehen ihnen die Angebote des Bundes, sprich des Sozialministeriumservice und des AMS, offen.[38]
Das bedeutet mit anderen Worten: Wird in der Gesundheitsstraße festgestellt, dass man arbeitsunfähig ist, hat das den gänzlichen Ausschluss vom Zugang zu Leistungen des AMS zur Folge, worunter neben finanzieller Absicherung bei Arbeitslosigkeit auch zahlreiche Förderungs-, Wiedereingliederungs- und Betreuungsmaßnahmen fallen.[39]
Damit bleibt arbeitsunfähigen Menschen mit Behinderungen oftmals nur der Weg in den „Ersatzarbeitsmarkt“, mit sämtlichen geschilderten Folgen.
IV. Ausblick – Aktionspläne und Paradigmenwechsel
Die teils lebenslange Bürde, welche Menschen mit Behinderungen durch eine Etikettierung als „arbeitsunfähig“ auferlegt wird, wurde als solche erkannt und zumindest teilweise durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 2023[40] (keine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für Menschen unter 25) entschärft. Das ist ein erster wichtiger Schritt und zeugt auch von einem vorhandenen Problembewusstsein und der proaktiven Umsetzung des Regierungsprogramms 2020–2024, das die Schnittstelle Arbeitsmarkt/Menschen mit Behinderung adressieren wollte.[41]
Studien und Diskussionen rund um die Abschaffung des Instituts der Arbeits(un)fähigkeit oder zumindest die Einführung differenzierterer, weniger limitierender Modelle liefern bereits wertvolle Vorschläge. Denkbar wäre etwa die Etablierung einer Teilarbeits(un)fähigkeit. So könnte stärker auf individuelle Stärken und Fähigkeiten eingegangen werden[42] und so ein Wandel hin zum menschenrechtlichen Modell der Behinderung ermöglicht werden. Entscheidungen zur Arbeitsfähigkeit orientierten sich aktuell an Defiziten und nicht an abilities, also an Fähigkeiten, Ressourcen und individuellen Stärken.[43] Es ist notwendig, zu einer multidisziplinären, funktionalen und bedarfsorientierten Bewertung überzugehen. Diese neue Herangehensweise geht davon aus, dass Menschen mit Behinderungen grundsätzlich arbeitsfähig sind, und berücksichtigt deren Fähigkeiten, Stärken und Präferenzen. Dabei sollte die Einstufung der Ressourcen, Fähigkeiten und Kapazitäten von Menschen mit Behinderungen nach dem bio-psycho-sozialen Modell der funktionalen Gesundheit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) erfolgen, das die Dimensionen Körperfunktionen, Aktivitäten und Partizipation erfasst.[44] Im Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022–2030 wird u. a. vorgeschlagen, den Begriff der „Arbeitsunfähigkeit“ auf Fälle des vorzeitigen freiwilligen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben (Stichwort: Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension) zu beschränken.[45]
In jedem Fall bedarf es einer Abkehr von dem medizinischen Verständnis von Behinderung. Diese Kritik findet sich in den concluding observations nicht nur in Bezug auf den Themenbereich Arbeit und Beschäftigung, sondern zieht sich als Grundproblem durch zahlreiche Sachgebiete.[46] Eine nachhaltige Verbesserung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt bedarf also eines Paradigmenwechsels und erfordert ein Neu-Denken bestehender Strukturen und Verständnisse. Was wie eine Herkules-Aufgabe klingt (und jedenfalls auch ist), wird durch wertvolle Arbeiten wie dem NAP 2022–2030[47] oder dem 2-Säulen-Modell der Lebenshilfe[48] durch konkrete Handlungsvorschläge und wichtige Impulse einer Umsetzungsstrategie zugeführt.
Beitrag von Denise Posch, Johannes Kepler Universität Linz
Fußnoten
[1] Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Abschließende Bemerkungen zum kombinierten zweiten und dritten periodischen Bericht
Österreichs, September 2023 (CRPD/C/AUT/CO/2-3).
[2] Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Abschließende Bemerkungen zum ersten Bericht Österreichs, September 2013. (CRPD/C/AUT/CO/1).
[3] Vgl hierzu CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 4-6.
[4] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 9; siehe dazu die Ausführungen in Abschnitt B.1.
[5] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 9, 35, 47, 63.
[6] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 11.
[7] Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den zentralen Aspekten des Konzepts geschützter Werkstätten in Österreich – einschließlich der Anzahl der Beschäftigten, der Entlohnung sowie der Zugangsvoraussetzungen – erfolgt in Teil II: Probleme der geschützten Beschäftigung.
[8] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 63 f.
[9] Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Studie „Integrative Betriebe 2020+“ (2020) 15.
[10] Der Aufgabenbereich ist vergleichbar mit der deutschen Agentur für Arbeit.
[11] Födermayr, Menschen mit Behinderung im Sozialrecht in Reissner/Mair (Hrsg), Menschen mit Behinderung im Arbeits- und Sozialrecht2 (2021) 131 (142).
[12] Vgl. FN 4 in Caritas, Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt: Von der Werkstätte auf den Ersten Arbeitsmarkt? https://www.caritas.at/fileadmin/storage/global/caritas-at/Ueber-uns/Mediendatenbank-Service/Publikationen/Umfrage-Inklusion-Menschen-mit-Behinderung-Arbeitsmarkt.pdf, zuletzt abgerufen am 10.03.2025.
[13] Vgl. das Wording im Regierungsprogramm 2020–2024, 260; ausführlich zum Prozess siehe BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 71 ff.
[14] Seit 01.01.2014 kommt die Zuständigkeit für die Untersuchungen hinsichtlich der Arbeits-(un)fähigkeit ausschließlich dem Kompetenzzentrum Begutachtung der PVA zu (§ 8 Abs 2 i. V. m. 3 AlVG); davor gab es unterschiedliche Begutachtungsstellen, was – besonders bei unterschiedlichen Ergebnissen dieser Begutachtungen – zu enormer Rechtsunsicherheit führte; vgl Födermayr in Reissner/Mair 131 (144); Sdoutz/Zechner, Arbeitslosenversicherungsgesetz (18. Lfg 2021) § 8 AlVG Rz 196.
[15] Caritas, Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt: Von der Werkstätte auf den Ersten Arbeitsmarkt? https://www.caritas.at/fileadmin/storage/global/caritas-at/Ueber-uns/Mediendatenbank-Service/Publikationen/Umfrage-Inklusion-Menschen-mit-Behinderung-Arbeitsmarkt.pdf, zuletzt abgerufen am 10.03.2025, 4.
[16] BGBl I 2023/189.
[17] Vgl. allg. dazu ErlRV 2307 BlgNR XXVII. GP 1.
[18] Dimmel, Inklusive Arbeit für alle, in FS Pfeil (2022) 363 (364).
[19] Mayer S., Behinderung 76 f; Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Studie „Integrative Betriebe 2020+“ (2020) 182; BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 94 f.
[20] Widy in Widy BEinstG9 § 11 Rz 13; Auer-Mayer in Widy BEinstG9 § 3 Rz 17.
[21] Dimmel in FS Pfeil 363 (363 f).
[22] (damals) Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Richtlinien für die Förderung von Integrativen Betrieben aus Mitteln des Ausgleichtaxfonds (Zl 44.210/3-6/80 geändert durch Zl 44.210/6-6/86).
[23] BGBl I 2024/98.
[24] IA 4116/A XXVII. GP 28 f.
[25] BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 16.
[26] BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 53 f.
[27] BMSGKP, Studie „Integrative Betriebe 2020+“ (2020) 15.
[28] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 64 lit b.
[29] CRPD/C/GC/8 Rz. 57.
[30] So in BMSGPK, Nationaler Aktionsplan Behinderung 2022-2030 (2022) 12.
[31] BGBl II 2010/261.
[32] Nr. 02.06.38 der Anlage.
[33] Worunter laut Anlage „Manifeste Probleme im Arbeitsleben“ fallen; Nr 03.01.03.
[34] BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 20.
[35] BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 100.
[36] CRPD/C/GC/8 Rz. 7.
[37] Dimmel/Pimpel, 2-Säulen-Modell 81.
[38] BMSGPK, Nationaler Aktionsplan Behinderung 2022-2030 (2022) 94; BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 54.
[39] BMSGKP, Studie „Arbeits(un)fähig?“ (2022) 54.
[40] BGBl I 2023/189.
[41] Regierungsprogramm 2020–2024, 260.
[42] BMSGPK, Studie „Integrative Betriebe 2020+“ (2020) 20 f.
[43] Dimmel in FS Pfeil 363 (364, 369); Klaushofer, Lohn statt Taschengeld, in FS Pfeil (2022) 451 (454).
[44] Dimmel/Pimpel, 2-Säulen-Modell 83.
[45] BMSGPK, Nationaler Aktionsplan Behinderung 2022-2030 (2022) 95.
[46] CRPD/C/AUT/CO/2-3 Rz 9, 35, 47 lit b, 63 lit b.
[47] Abrufbar unter https://www.sozialministerium.at/Themen/Soziales/Menschen-mit-Behinderungen/Nationaler-Aktionsplan-Behinderung.html, zuletzt abgerufen am 10.03.2025.
[48] Vorstudie der Lebenshilfe Österreich von Dimmel/Pimpel, 2-Säulen-Modell, Einkommen und Existenzsicherung von Menschen mit Behinderungen (2020).
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