13.03.2025 B: Arbeitsrecht Kohte: Beitrag B1-2025
Das erstreckte Mandat der Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV) – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 12.12.2023 – 7 ABR 23/22
Der Autor bespricht eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum sogenannten erstreckten Mandat der Gesamtschwerbehindertenvertretung. Mit dem Beschluss vom 12. Dezember 2023 (7 ABR 23722) hat das BAG erstmals umfassende Ausführungen zum erstreckten Mandat der Gesamtschwerbehindertenvertretung in Betrieben ohne örtliche Schwerbehindertenvertretung getroffen. Der Autor begrüßt die Entscheidung und betont die praktische Bedeutung des erstreckten Mandats insbesondere in Kündigungssachverhalten.
(Zitiervorschlag: Kohte: Das erstreckte Mandat der Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV) – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 12.12.2023 – 7 ABR 23/22; Beitrag B1-2025 unter www.reha-recht.de; 13.03.2025)
I. Thesen des Autors
- Das „erstreckte Mandat“ einer Stufenvertretung nach § 180 Abs. 6 SGB IX ist ein wichtiges Instrument des Rehabilitationsrechts, um Defizite bei der Interessenvertretung schwerbehinderter Menschen zu verringern und deren Beratung zu verbessern. Es wird in der Praxis nicht immer beachtet. Der neue Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist ein wichtiger Anstoß, dieses Recht besser zu realisieren.
- Das erstreckte Mandat der Stufenvertretung umfasst auch das Recht der Schwerbehindertenvertretung (SBV) nach § 178 Abs. 8 SGB IX, an Betriebs- und Personalversammlungen teilzunehmen und von dem dort normierten Rederecht Gebrauch zu machen. Auf diese Weise ist es möglich, auch in bisher SBV-losen Betrieben erstmalige SBV-Wahlen zu fördern.
II. Wesentliche Aussagen der Entscheidung
Mit dem Beschluss vom 12. Dezember 2023 hat das BAG erstmals umfassende Ausführungen zum erstreckten Mandat der Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV) in SBV-losen Betrieben getroffen. Es geht hier um die zweite Variante von § 180 Abs. 6 S. 1 SGB IX, wonach die GSBV auch zuständig ist für Betriebe, in denen keine SBV besteht, jedoch schwerbehinderte Menschen beschäftigt werden. Diese Norm, die bereits 1974 in das damalige SchwbG eingefügt worden ist, erfasst „alle Fälle, in denen Schwerbehinderte ohne eine solche Regelung auf den Schutz ihrer Interessen verzichten müssten“.[1] Aus diesem Grund hat der 7. Senat restriktive Auslegungen der Norm, die vor allem vom beteiligten Arbeitgeber in dem Verfahren vertreten wurden, zurückgewiesen. Daraus wurde die Konsequenz gezogen, dass die GSBV in einem SBV-losen Betrieb das Recht einer betrieblichen SBV nach § 178 Abs. 8 SGB IX wahrnehmen, aus eigenem Recht an Betriebs- und Personalversammlungen teilnehmen und vom Rederecht Gebrauch machen kann.
III. Der Sachverhalt
Die beteiligte Arbeitgeberin (Beteiligte zu 3) betreibt ein Handelsunternehmen der Textil-branche, das verschiedene Filialen an unterschiedlichen Orten unterhält. In Ostbayern wird die Filiale N. betrieben, in der auch ein Betriebsrat gewählt ist (Beteiligter zu 2); es ist jedoch bisher keine SBV gewählt, in der Filiale waren zuletzt zwei schwerbehinderte Menschen beschäftigt. Da jedoch in anderen Betrieben des Unternehmens Schwerbehindertenvertretungen gewählt worden waren, bestand für das Unternehmen der Beteiligten zu 3 auch eine Gesamtschwerbehindertenvertretung (Antragstellerin). Diese war vom Betriebsrat in N (Beteiligter zu 2.) bisher nicht zu Betriebsversammlungen eingeladen worden. Nachdem auch die Beteiligte zu 3 eine solche Teilnahme der GSBV abgelehnt hatte, leitete diese ein Beschlussverfahren ein, mit dem im Ergebnis festgestellt werden sollte, dass sie an den Betriebsversammlungen in N teilnehmen könne.
In der Güteverhandlung des Beschlussverfahrens scheiterte ein Vergleich, zu dem der Betriebsrat bereit war, an der generellen Ablehnung der Arbeitgeberin. Daher wurde der Rechtsstreit bis zum BAG geführt. In allen drei Instanzen kamen die Gerichte zu dem Ergebnis, dass der GSBV ein Teilnahmerecht an den Betriebsversammlungen in N. zustehe.
IV. Die Entscheidung
Der 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts kam in seiner Entscheidung über die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin zu dem Ergebnis, dass der GSBV das von ihr reklamierte Teilnahmerecht an Betriebsversammlungen in N. zustehe. Rechtssystematisch handele es sich hierbei um ein erstrecktes Mandat[2], das der GSBV für diejenigen Betriebe zustehe, in denen schwerbehinderte Menschen beschäftigt werden, jedoch keine SBV gewählt worden ist. Es komme dabei nicht darauf an, ob in einem solchen Betrieb die Mindestgröße von fünf schwerbehinderten Beschäftigten für die erstmalige Wahl einer betrieblichen SBV erreicht ist. Die Arbeitgeberin hatte sich in den Verfahren auf unscharfe und ungenaue Begrifflichkeiten vor allem in § 180 Abs. 7 SGB IX berufen. Der Senat hatte dagegen zunächst herausgearbeitet, dass der Wortlaut in § 180 Abs. 6 SGB IX eindeutig sei. Für die SBV-losen Betriebe stehe der GSBV ein erstrecktes Mandat zu, das sich grundsätzlich an den Zuständigkeiten einer betrieblichen SBV orientiert. Dies ergebe sich sowohl aus der Entstehungsgeschichte der Norm als auch aus ihrem Zweck.[3] Das erstreckte Mandat wurde 1974 mit der grundlegenden Reform des SchwbG eingeführt. Es dient der verbesserten Interessenvertretung schwerbehinderter Menschen und unterscheidet sich bewusst von der Norm des § 51 BetrVG 1972, wonach der Gesamtbetriebsrat (GBR) nur für Betriebe zuständig ist, in denen bereits ein Betriebsrat gewählt ist. Vor allem hob der Senat hervor, dass die Förder- und Eingliederungsaufgabe der Interessenvertretung schwerbehinderter Beschäftigter eine solche Auslegung verlange. Diese Aufgabe sei auch in Betrieben notwendig, in denen eine SBV fehlt. Für die schwerbehinderten Menschen ist es nachteilig, wenn nur auf ihre geringe Zahl abgestellt wird. Im Wesentlichen kommt es vor allem darauf an, dass mit der GSBV ein demokratisch legitimiertes Organ besteht, das die wichtige Eingliederungsaufgabe fördern kann.
Schließlich scheitere die Teilnahme betriebsfremder GSBV-Mitglieder auch nicht an dem allgemeinen Grundsatz der Nichtöffentlichkeit von Betriebsversammlungen (§ 42 BetrVG), denn dieser allgemeine Grundsatz stehe nach ständiger Rechtsprechung nicht der Teilnahme von Personen entgegen, denen nach anderen rechtlichen Normen ein Teilnahmerecht zusteht.
V. Würdigung/Kritik
Das erstreckte Mandat der Stufenvertretungen (GSBV bzw. Konzernschwerbehindertenvertretung (KSBV)) wird in der Praxis nur lückenhaft angewandt. Gerade deswegen ist diese grundsätzliche Entscheidung des 7. Senats von großer Bedeutung. Die Arbeitgeberin hatte sich zur Verteidigung auf verschiedene Unschärfen im Recht der Stufenvertretungen berufen. Diese terminologischen Unschärfen ergeben sich daraus, dass die verschiedenen Aspekte der Rechte der GSBV zu verschiedenen Zeiten in das Gesetz eingearbeitet worden sind. Zwischen 1953 und 2018 sind immer wieder ohne ausführliche Diskussion einzelne Elemente aufgenommen worden.[4] Zutreffend hat sich daher der Senat vor allem am Normzweck des § 180 Abs. 6 SGB IX orientiert. Dieses erstreckte Mandat ist 1974 in das damalige SchwbG aufgenommen worden, weil sich das Netz der damaligen Vertrauensmänner der Schwerbehinderten als lückenhaft erwiesen hatte. Diese Lücken sind inzwischen zwar verringert worden, bestehen aber in verschiedenen Bereichen weiter fort. Da die Wahl von Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Beschäftigten vor höheren Hürden steht als die Wahl einzelner Betriebsräte,[5] hatte man daher im Gesetzgebungsverfahren bewusst eine andere Lösung als im BetrVG gewählt, um einen gleichmäßigen Schutz der schwerbehinderten Beschäftigten zu gewährleisten.[6] Der 7. Senat hat diese Eigenständigkeit des SBV-Rechts unterstrichen durch die spezifische Aufgabe der Schwerbehindertenvertretungen, denen eine Eingliederungs- und Beratungsfunktion zukommt, mit der die Wertungen der UN-BRK besser realisiert werden sollen. Dies hatte der Senat bereits als Grundaufgabe von Schwerbehindertenvertretungen im Jahr 2022 in einer anderen Grundsatzentscheidung herausgearbeitet,[7] so dass die jetzige Entscheidung konsequent ist und die grundlegenden Wertungen weiter verdeutlicht.
Der Beschluss dokumentiert zudem, dass bei betrieblichen Konflikten das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren effiziente Lösungen ermöglicht. Die Beteiligten hatten Schwierigkeiten, die verfahrensrechtlich zutreffenden Anträge zu stellen. Der 7. Senat des BAG hat dazu hilfreiche Hinweise gegeben und den Antrag der GSBV so ausgelegt, dass eine effektive Problemklärung erfolgen konnte.
In der Praxis ist dies ein Anstoß für die Stufenvertretungen, dass sie ihre Rechte, die ihnen nach §§ 180 Abs. 6, 178 Abs. 8 SGB IX zustehen, in Zukunft intensiver wahrnehmen. Die Teilnahme an diesen Versammlungen ist gleichzeitig auch ein wichtiger Baustein, um das Netz der Schwerbehindertenvertretungen enger zu knüpfen, denn in solchen Versammlungen kann für die Wahl einer betrieblichen SBV geworben werden. Der jeweilige Betriebsrat kann dann nach §§ 1 Abs. 2, 19 Abs. 2 SchwbVWO das Wahlverfahren einer SBV einleiten. Dies entspricht seiner Aufgabe nach § 176 SGB IX.[8]
Eine wichtige praktische Bedeutung hat das erstreckte Mandat vor allem bei Kündigungen. Die fehlende Beteiligung einer SBV vor einer Kündigung führt nach § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX zur Unwirksamkeit der Kündigung. In der Gerichtspraxis ist daher von Anfang an entschieden worden, dass auch die fehlende Beteiligung einer zuständigen Stufenvertretung zur Unwirksamkeit führt.[9] Wenn keine GSBV besteht, kommt das erstreckte Mandat, wie das ArbG Darmstadt zutreffend entschieden hat, der KSBV zu. Natürlich gilt es auch für die Stufenvertretungen im Öffentlichen Dienst (Bezirks- und Hauptschwerbehindertenvertretungen) und im kirchlichen Bereich, denn mit § 52a Abs. 3 S. 2 MVG EKD ist auch hier das erstreckte Mandat normiert worden.
Damit ist die Entscheidung vom 12. Dezember 2023 nicht nur rechtssystematisch von Bedeutung, sondern kann auch in der Praxis Rechtsschutz- und Interessenvertretungslücken verringern. Für jede Stufenvertretung (vor allem GSBV und KSBV) ist es daher geboten, sich einen Überblick zu verschaffen, in welchen der ihnen zugeordneten Betriebe bisher eine SBV fehlt, aber gewählt werden kann. Es ist dann sachgerecht, wenn die GSBV an der Sitzung des örtlichen Betriebsrats teilnimmt und dort klärt, wann und wie eine erstmalige SBV-Wahl stattfinden soll; dazu ist es nicht erforderlich, auf den regulären Wahltermin im Herbst 2026 zu warten. In einer Betriebsversammlung (§ 42 BetrVG), an der auch die GSBV teilnimmt, ist dann über die geplante SBV-Wahl und das Wahlverfahren zu informieren, damit Personen gefunden werden können, die bei der erstmaligen SBV-Wahl in dem bisher SBV-losen Betrieb kandidieren. Diese Personen müssen selbst nicht schwerbehindert sein, wie sich aus § 177 Abs. 3 SGB IX ergibt.[10] In der betrieblichen Praxis kandidiert gerade bei der ersten SBV-Wahl nicht selten ein bisher nicht freigestelltes Mitglied des Betriebs- oder Personalrats. Die Wahl wird am einfachsten eingeleitet durch die Einberufung einer Wahlversammlung nach § 19 Abs. 2 SchwbVWO, die der örtliche Betriebsrat vornehmen kann, der dazu nach § 176 SGB IX verpflichtet ist. An dieser Versammlung kann in Konsequenz des BAG-Beschlusses auch die GSBV teilnehmen, um die Beteiligten bei der erstmaligen Wahl zu unterstützen.
Mit diesem Beschluss des BAG sind die überörtlichen Aufgaben der GSBV verdeutlicht worden. Folgerichtig ist die Vertrauensperson der GSBV für die Teilnahme an solchen externen Betriebsversammlungen freizustellen, die Fahrtkosten sind zu übernehmen (§§ 180 Abs. 7, 179 SGB IX), denn es gehört zu den allgemeinen Aufgaben, dass die noch bestehenden Lücken im Recht der Schwerbehindertenvertretungen möglichst effektiv geschlossen werden.
Beitrag von Prof. Dr. Wolfhard Kohte, Halle/Saale
Fußnoten
[1] Bundestags-Drucksache 7/656 S. 33.
[2] So die vom BAG übernommene Terminologie in LPK-SGB IX/Düwell, 6. Aufl. 2022, § 180 Rn. 32 im Anschluss an Düwell, FS Moll, 2019, S. 95 ff.
[3] So auch Neumann/Pahlen/Greiner, SGB IX, 15. Aufl. 2024, § 180 Rn. 12.
[4] Vgl. Cramer, NZA 2004, S. 698, 705.
[5] Dazu Kohte/Liebsch, Erste Entscheidung zur Unwirksamkeitsklausel bei Kündigungen ohne Beteiligung der SBV – Anmerkung zu ArbG Darmstadt, Urteil v. 14.11.2017 – 9 Ca 249/17; Beitrag B2-2018 unter www.reha-recht.de; LPK-SGB IX/Düwell, § 180 Rn. 32.
[6] Bundestags-Drucksache 7/656, S. 33.
[7] Dazu Kohte, Die SBV als Akteur betrieblicher Teilhabe – Anmerkung zum Beschluss des BAG vom 19. Oktober 2022 – 7 ABR 27/21; Beitrag B3-2023 unter www.reha-recht.de.
[8] Dazu BAG v. 09.05.2023 – 1 ABR 14/22, juris; Zwanziger, AuR 2024, S. 167, Kohte, BRuR 2023, S. 409.
[9] ArbG Darmstadt v. 14.11.2017 – 9 Ca 249/17; dazu Kohte/Liebsch, Beitrag B2-2018 unter www.reha-recht.de; LAG Düsseldorf 10.12.2020 – 5 Sa 231/20 Rn. 87; ebenso Krämer in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB, IX 6. Aufl. 2023, § 178 Rn. 33.
[10] Gün in Feldes/Kohte/Stevens-Bartol, SGB, IX 6. Aufl. 2023, § 177 Rn. 28
Stichwörter:
Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung, Konzernschwerbehindertenvertretung (KSBV), Schwerbehinderte Arbeitnehmer, Schwerbehinderte Beschäftigte, Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung, Schwerbehindertenvertretung (SBV), Bundesarbeitsgericht (BAG), Betriebsrat, Betriebsverfassungsrecht, Stufenvertretung, SBV-Wahl, § 19 SchwbVWO
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