27.11.2023 D: Konzepte und Politik Heimer, Schütz, Wansing: Beitrag D12-2023

Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil IV: Zwischenbilanz und Entwicklungsperspektiven

Nachdem im Jahr 2018 die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) zunächst modellhaft eingeführt wurde, wird diese ab diesem Jahr zu einem festen Bestandteil in der Beratungslandschaft. Im vorliegenden vierten (letzten) Teil des Beitrags ziehen Andreas Heimer (Prognos AG), Dr. Holger Schütz (infas) und Gudrun Wansing eine Zwischenbilanz zur EUTB-Beratung der letzten 5 Jahre. Dabei gehen sie u. a. auf Organisation und Umsetzung, die fachliche Qualität sowie die Inanspruchnahme der EUTB ein. Abschließend skizzieren die Autorin und die Autoren auf Basis der in den ersten drei Beitragsteilen präsentierten Evaluationsergebnisse Entwicklungsperspektiven.

(Zitiervorschlag: Heimer, Schütz, Wansing: Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil IV: Zwischenbilanz und Entwicklungsperspektiven; Beitrag D12-2023 unter www.reha-recht.de; 27.11.2023)

I. Einleitung

Nach 5 Jahren modellhafter Erprobung wurde die Ergänzende Unabhängige Teil­­habe­beratung (EUTB) zum Jahr 2023 in den entfristeten Regelbetrieb überführt (§ 32 SGB IX, Verordnung zur Weiterführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung – EUTBV). Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beauftragte Begleitforschung während der Projektförderung erfolgte durch ein Konsortium aus den Forschungsinstituten Prognos und infas sowie Prof. Dr. Gudrun Wansing von der Humboldt-Universität zu Berlin.

In drei vorangegangenen Artikeln wurden bereits Ergebnisse der Begleitforschung zu konzeptionellen Grundlagen der EUTB und der Qualifizierung von EUTB-Beratungskräften[1], zur Prozess- und Ergebnisqualität der EUTB[2] sowie zum Beitrag der EUTB zur Stärkung der Teilhabe von Ratsuchenden[3] vorgestellt und diskutiert. In dem vorliegenden Beitrag wird nun eine Gesamtbilanz der bisherigen EUTB-Begleitforschung gezogen. Dabei liegt der Fokus auf ausgewählten, noch nicht abschließend gelösten Fragen und den Entwicklungsmöglichkeiten der EUTB.

II. Bilanz: Was leistet die EUTB fünf Jahre nach ihrer Einführung?

1. Organisation und Umsetzung

Mit dem Ende der Projektförderung gibt es in Deutschland rund 500 EUTB-geförderte Beratungsangebote. Inklusive ihrer Zweig- und Außenstellen existieren rund 760 Anlaufstellen für Ratsuchende in über 570 Städten. Hier beraten rund 1.250 hauptamtliche und 900 ehrenamtliche Beratungskräfte. 77 Prozent der haupt- und 84 Prozent der ehrenamtlichen Kräfte sind Peer-Beraterinnen und -berater.

Zusammenfassend führt die Aufschlüsselung der verfügbaren Fördermittel zwar zu einer optimierten regionalen Verteilung der EUTB-Angebote. Ihre kleinteilige Struktur (zulässige Anzahl der Beratungskräfte, Beratungskapazitäten, Qualifikationsabdeckungen) ist jedoch mit Risiken für die Erreichbarkeit und qualitative Angebotsstruktur verbunden: Dem Anspruch der EUTB, ein gut erreichbares Beratungsangebot für alle Menschen mit (drohenden) Behinderungen und ihre Angehörigen zu sein („Eine für alle“), kann ein einzelnes Angebot allein kaum gerecht werden. Darum bietet eine gute organisatorische Vernetzung der einzelnen Angebote Potenzial zur räumlich adäquaten Abdeckung von Beratungsbedarfen. Die Vernetzung der Angebote bildet einen wichtigen Baustein für die Weiterentwicklung der EUTB, um Personalkapazitäten, externe und interne Netzwerkarbeit und zielgruppenspezifische Beratung effizient, effektiv und in einer guten Qualität anbieten zu können. Die Netzwerkarbeit wird durch die Fachstelle Teilhabeberatung[4] bereits heute in hohem Maße aktiv unterstützt.

2. Fachliche Qualität

In der Beratungspraxis identifizieren sich viele Beraterinnen und Berater mit dem Profil der EUTB, sich ausschließlich den Anliegen der ratsuchenden Person verpflichtet zu sehen und in diesem Sinne zu beraten. Zugleich existieren nach wie vor große Unterschiede in der fachlichen Qualität der Beratung, auch wenn die Entwicklung und Umsetzung einheitlicher Qualitätsstandards und die Verbesserung der EUTB-Grund­qualifizierung deutlich voranschreiten. Verschiedene Befunde der Begleitforschung verweisen auf eine große Heterogenität im Hinblick auf die Qualifikationen und Beratungserfahrungen wie auch in der Beratungspraxis der EUTB-Beratungskräfte.[5]

Weiterhin steht die prinzipielle Unzulässigkeit einer Rechtsberatung im Rahmen der EUTB im Widerspruch mit dem Kompetenzprofil der Beraterinnen und Berater und ihrer Beratungspraxis. So kann bei vielen Beratungsanliegen ohne profunde Rechtskenntnisse gar nicht angemessen und gut beraten werden, woraus der Wunsch vieler Beratungskräfte nach einer guten rechtlichen Qualifizierung und nach rechtlicher Unterstützung in der Beratung erwächst. Zugleich kann ein Beratungsprozess für EUTB-Beratungskräfte auch zu Interessenkonflikten führen, wenn die Grenzen des rechtlich zulässigen Beratungsmandats erreicht werden, obwohl gegebenenfalls fachliche Kompetenz für eine weitergehende Beratung oder Begleitung vorhanden wäre.

Fragen der fachlichen Qualität tangieren auch die Peer-Beratung. Diese ist ein fest und breit etabliertes Element in den EUTB-Angeboten und spielt auch in der realisierten Beratungspraxis eine große Rolle. Im Ergebnis werden rund 70 Prozent aller deutschlandweit stattfindenden Beratungsgespräche durch eine sozialversicherungspflichtig angestellte Peer-Beratungskraft geführt. Als Peer-Beratungskräfte gelten in den EUTB-Angeboten Personen mit Beeinträchtigungen und Behinderungserfahrung und Angehörige von solchen Personen.

Peer-Beratung ist jedoch nicht automatisch gleichbedeutend mit guter Beratung. Vielmehr gelten auch für gute Peer-Beratung dieselben spezifischen professionellen Standards und Maßstäbe, an denen sich das beraterische Handeln orientieren und beweisen muss. Professionelle Beratungskompetenz ist nicht bereits durch eine Behinderungserfahrung vorhanden, sondern muss über Qualifizierung, reflektierte berufliche Praxis und Weiterbildung erworben und entwickelt werden. Nicht immer ist es den EUTB-Angeboten möglich, (Peer-)Beratungskräfte zu finden, die diese Anforderungen erfüllen. Als besonders herausfordernd bei der Peer-Beratung wird von Beratungskräften sowie von anderen Akteuren im Feld der Rehabilitation und Teilhabe die Balance zwischen der interpersonellen Nähe zur Lebenssituation der Ratsuchenden und der Aufrechterhaltung der professionellen Distanz empfunden. Hierfür benötigen die Peer-Beraterinnen und -Berater wirksame Angebote und Instrumente zur Selbstreflexion. Auch ehrenamtliche Peer-Beratungskräfte sind in den EUTB-Angeboten recht weit verbreitet. Im Hinblick auf die fachlichen Voraussetzungen ist gerade bei diesen von einem erheblichen Bedarf an (Grund-)Qualifizierung und Weiterbildung auszugehen. Allerdings sind sie nur für einen geringen Teil des Beratungsaufkommens verantwortlich und arbeiten häufiger auch im Tandem mit einer hauptamtlichen Beratungskraft zusammen.

Perspektivisch könnte ein regelmäßiger Abgleich und Reflexionsprozess zwischen praktizierter Beratung und professionell-fachlichen Standards die Entwicklung der Peer-Beratung weiter befördern, sowohl auf der Ebene des einzelnen EUTB-Angebots als auch auf der Ebene einzelner Beratungskräfte. Auch sollten Grundqualifizierung und weitere Bildungsmodule für ehrenamtliche Peers zur Verfügung stehen.

 

3. Inanspruchnahme der EUTB

Die EUTB hat sich im Lauf der Zeit als zunehmend bekanntes Beratungsangebot etabliert. Das Beratungsaufkommen umfasste 2022 im monatlichen Durchschnitt rund 15.700 Beratungen, Informationsanfragen nicht mitgerechnet. Das Spektrum der ratsuchenden Personen ist nach Art der dokumentierten Beeinträchtigungen umfangreich, sodass der Anspruch, mit der EUTB ein breit akzeptiertes Beratungsangebot zu schaffen, grundsätzlich erfüllt wird. Bei den Ratsuchenden mit (drohenden) Behinderungen dominieren Beeinträchtigungen beim Bewegen. Dies trifft auch für die Angehörigenberatung zu. Ratsuchende Angehörige wenden sich zudem überproportional häufig an die EUTB wegen einer nahestehenden Person mit Lern- bzw. kognitiven Beeinträchtigungen oder Autismus. Qualitative Untersuchungsergebnisse verweisen aber auch auf Personengruppen, die das Angebot der EUTB bisher kaum nutzen oder die nicht gut erreicht werden, obwohl bei diesen grundsätzlich ein hoher Bedarf an Beratung vermutet werden darf. Darunter fallen WfbM-Beschäftigte, Menschen in besonderen Wohnformen, Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Jugendliche und junge Erwachsene mit Beeinträchtigungen sowie Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund.

Um den mit dem Leitprinzip „Eine für alle“ einhergehenden Anspruch an ein universales Beratungsangebot wirklich einlösen zu können, wäre daher neben dem Ausbau aufsuchender Beratungen auch eine gezielte Strategie wichtig, um die genannten Personengruppen zu erreichen. So könnte etwa auch die Peer-Beratung stärker auf diese Ratsuchenden ausgerichtet werden, indem zum Beispiel gezielter Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen als Beratungskräfte rekrutiert, qualifiziert und so begleitet werden, dass sie Ratsuchende mit kognitiven Beeinträchtigungen in Teilhabefragen unterstützen können. Dies würde dem Umstand Rechnung tragen, dass ein gutes Matching der Peers zu den Ratsuchenden, im Sinne einer ähnlichen Form der Beeinträchtigung und diesbezüglich gemeinsam geteilter Erfahrungen, ein wichtiger Anreiz für die Inanspruchnahme der EUTB ist.

4. Ergebnisse und Wirkungsbetrachtung

Wie in Teil III der Artikelserie zu den Ergebnissen der EUTB Evaluation[6] ausführlich dargestellt, leistet die EUTB wichtige Beiträge zur Stärkung der Selbstbestimmung der Ratsuchenden, insbesondere in den Dimensionen Selbstwirksamkeit und Empowerment. Die Chancen auf eine bessere Teilhabe steigen, wenn die von Ratsuchenden erlebte Beratungskompetenz positiv eingeschätzt und gleichzeitig Peer-Beratung als vorhanden und wichtig erachtet wird (im Vergleich zu einer Beratungssituation, in der diese Merkmale nicht vorhanden sind).

Für das Gelingen der Beratung im Prozess, im unmittelbaren Ergebnis und in mittelfristiger Sicht (als Impulsgeber für Empowerment) spielen indes am Ende vielerlei verschiedene Faktoren eine Rolle. Kurz gesagt: Viele gute Bedingungen und Elemente müssen für wirksame Beratung gut ineinandergreifen – mit unterschiedlichen Mischungen für verschiedene Fallkonstellationen (u. a. Beratungskompetenz, verständigungsorientierte Kommunikation, der bedarfsgerechte Verweis an dritte Instanzen, gute Netzwerkarbeit und Entwicklung vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Rehabilitationsträgern).

Die insgesamt und im Durchschnitt positiven Ergebnisse zur Beratungszufriedenheit und Zielerreichung bedeuten für die EUTB nicht, sich auf dieser positiven Botschaft „ausruhen“ zu können. Nicht jedes EUTB-Angebot leistet für jeden Beratungsfall stets eine gelingende oder gute Beratung – Beratung kann im Einzelfall auch scheitern. Überdies können die Evaluationsergebnisse nichts dazu aussagen, wie stark sich die EUTB-Angebote untereinander in ihrer Beratungsleistung unterscheiden, von solchen Unterschieden ist aber plausibel auszugehen. Daher sollte es für die einzelnen Beratungsangebote der EUTB darum gehen, sich in der Beratungspraxis jeweils selbstkritisch zu reflektieren, mit dem Ziel sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu verbessern. Hierfür ist die Anwendung eines durch die Fachstelle Teilhabeberatung entwickelten Qualitätsmanagementhandbuchs für alle EUTB-Angebote verpflichtend, auch eine flächendeckende Teilnahme an Qualitätszirkeln ist Teil der derzeitigen Planung.

5. Die EUTB in der Beratungslandschaft

Eine weitere wichtige Frage der wissenschaftlichen Begleitung lautete, ob und welche Veränderungen die EUTB in der Beratungslandschaft und dem Leistungssystem des SGB IX auslöst oder bewirkt. Dies betrifft u. a. die Art, Qualität und das Ausmaß von Kooperation zwischen den EUTB-Angeboten und den anderen etablierten Akteuren im Handlungsfeld der Rehabilitation und Teilhabe. Ebenso stellt sich die Frage, ob in der Praxis von Rehabilitationsträgern möglicherweise die Verfahren der Antragsbearbeitung, Bedarfsermittlung und Leistungsbewilligung im Interesse der Menschen mit Behinderungen vereinfacht und stärker personenzentriert umgesetzt werden und ob die EUTB mittelbar zu anderen Verbesserungen für die Ratsuchenden beiträgt.

Die EUTB-Angebote kooperieren mit anderen Stellen und Akteuren innerhalb der etablierten Netzwerke ihrer Träger, untereinander zwischen den EUTB-Angeboten vor allem in regionalen Zusammenhängen sowie mit weiteren externen Akteuren, die vor EUTB-Gründung noch nicht unbedingt zum Trägernetzwerk gehörten. Diese Zusammenarbeit gehört für viele EUTB-Angebote zum Tagesgeschäft und hat sich im Zeitverlauf durchaus weiterentwickelt. Dennoch ist sie noch deutlich ausbaufähig. Dies betrifft vor allem die Kooperation zwischen Rehabilitationsträgern und EUTB-Angeboten, die zwar im Zeitverlauf insgesamt zugenommen hat, aber zum Teil noch klare Verbesserungspotenziale erkennen lässt. Unklarheit über die Kompetenzen der EUTB und ihrer Beratungskräfte, negative Erfahrungen oder auch grundsätzlich kritische Haltungen zur EUTB erschweren allerdings mitunter den weiteren Ausbau positiver Zusammenarbeit. Um solchen Haltungen vorzubeugen oder sie abzubauen, wird es für die EUTB unumgänglich bleiben, kontinuierlich aktiv auf Rehabilitationsträger zuzugehen und sich weiter bekannt zu machen. Bereitstellung und Einsatz der dafür erforderlichen Personalkapazitäten sind für die einzelnen EUTB angesichts ihrer geringen Personaldecke allerdings häufig nicht einfach, weshalb eine beratungsstellenübergreifende Koordination solcher Aktivitäten sinnvoll erscheint.

Aber auch die Rehabilitationsträger stehen in der Pflicht, nach 5 Jahren der Erprobung und Einführung die EUTB als einen Akteur im Feld anzuerkennen, der nicht ignoriert werden darf. Kontinuierlicher Kontakt und Austausch bis hin zu gegenseitigen Hospitationen und gemeinsame Fallbesprechungen bilden einfache und praktische Ansatzpunkte, um die Zusammenarbeit zu stärken.

III. Ausblick: Weiterentwicklung der EUTB

Neben den bereits skizzierten operativen Punkten sind aus unserer Sicht auch einige konzeptionelle Aspekte für die Weiterentwicklung der EUTB zu schärfen, die hier abschließend skizziert werden.

1. Kombination leistungsbezogener und lebensweltlicher Beratung

Die Vielfalt der EUTB-Beratungsanliegen umfasst sowohl das breite Spektrum der Themen des SGB IX als auch ein weitgefächertes Spektrum an lebensweltlichen und psychosozialen Themen. Hieraus ergeben sich weiterführende Fragen: Kann und soll diese thematische Breite durch ein integrierendes Beratungsangebot (EUTB als „Eine für alle“) sachlich und fachlich angemessen abgedeckt werden? Inwiefern braucht es ggf. gezielter Änderungen bei den EUTB-Angeboten und beim rechtlichen Auftrag und Rahmen, damit die EUTB dazu noch besser befähigt wird? Wird der EUTB-Auftrag im Spannungsfeld von Vorfeldberatung zum SGB-IX-Leistungsbezug und (begleitender) lebensweltlicher Beratung ausreichend klar definiert und umgesetzt?

Wenn die Kombination leistungsbezogener und lebensweltlicher Beratung faktisch den Maßstab bildet, ist das Aufgabenfeld und das abzubildende Kompetenzspektrum der EUTB tatsächlich äußerst breit angelegt. Die Rechtsmaterie des SGB IX (und dessen Schnittstellen zu weiteren SGB) führt dazu, dass dem Auftrag der angemessenen Vorfeldberatung häufig nur durch eine detaillierte, fachlich fundierte Beratung nachgekommen werden kann. Dies ist nicht nur zeitaufwendig, sondern verleiht auch der Expertenrolle der Beratungskraft ein besonders hohes Gewicht. Eine balancierte Beratungskommunikation und die Mitwirkung der Ratsuchenden im Beratungsgespräch kann dadurch erschwert werden. In jedem Fall stellt die Komplexität des SGB IX die EUTB vor beraterische Herausforderungen. Zwar ist dem vielfachen Ruf der Beratungskräfte nach mehr sozialrechtlichen Schulungsteilen in der EUTB-Qualifizierung in jüngerer Zeit schon mit einem Zusatzmodul begegnet worden, aber es bleibt offen, ob dies ausreicht.

In Bezug auf die lebensweltbezogene Beratung stellt sich dagegen vor allem die Frage des vom Gesetzgeber intendierten Leistungsprofils, das bisher nicht klar genug bestimmt scheint. Sind lebensweltliche Beratungsaspekte eher „Nebensache“ und stehen im Grunde nur im Dienst der eigentlich prioritären Vorfeldberatung oder sind Formen psychosozialer Beratung als eigenständige Beratungsleistung (ggf. auch ohne Bezug zu Leistungen) aus Perspektive des Gesetz- und Fördermittelgebers zulässig? Ist es überhaupt möglich und zielführend, zwischen einer auf das System der Rehabilitation und Teilhabe bezogenen Beratung einerseits, und einer auf die Bewältigung von herausfordernden Lebenssituationen abzielenden Beratung andererseits trennscharf zu unterscheiden? Dabei ist mitzudenken, dass die EUTB nicht in Konkurrenz mit anderen Beratungsangeboten treten, sondern Orientierungsberatung zu Teilhabefragen leisten sollte, mit der die Beratungslandschaft zusätzlich bereichert (also ergänzt) wird.

2. „Eine für alle“ und die Vielfalt der Bedarfslagen

Eine weitere Frage ist, wie die konzeptionelle Festlegung der EUTB auf den Anspruch „Eine für alle“ optimal umzusetzen ist. Tatsächlich geht mit dem vielfältigen Spektrum an Beeinträchtigungen und Behinderungen auch ein hohes Maß personenspezifischer Anforderungen und Bedarfe einher. Auf diese Anforderungen müssen Beratungsangebote und Beratungskräfte hinreichend eingestellt sein, um eine Beratung überhaupt sinnvoll durchführen zu können. Neben Standards und Maßnahmen der räumlichen Barrierefreiheit braucht es etwa spezifische Kompetenzen in der Kommunikation (z. B. mit gehörlosen und taubblinden Ratsuchenden) sowie Kompetenzen und Erfahrungen im Hinblick auf spezifische Lebenslagen (z. B. von Ratsuchenden aus dem Autismus-Spektrum oder Menschen mit Fluchterfahrungen). Da die einzelnen EUTB-Angebote indes der potenziellen Vielfalt aller Menschen und Bedarfslagen kaum umfassend gerecht werden können, erscheint es sinnvoll, wenn EUTB-Angebote durch Beratungskräfte mit spezifischen Kenntnissen und geteilten Erfahrungen mit bestimmten Personengruppen (Peer-Aspekt) ihre Expertise in das (jeweils regionale) EUTB-Netzwerk einbringen können. Das Prinzip, offen und kontaktierbar für jede und jeden zu sein („Eine für alle“), bliebe dabei erhalten, zugleich wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass nicht jede Person und nicht jeder Beratungsbedarf von jedem EUTB-Angebot gleichermaßen gut und hochwertig beraten und bearbeitet werden kann.

Die Flexibilisierung des Prinzips „Eine für alle“ wäre zudem ein Ansatzpunkt, gezielt und systematisch auch Einrichtungen in das EUTB-Netzwerk aufzunehmen, die von ihrer Grundkonzeption gerade nicht auf alle Menschen, sondern bewusst auf bestimmte Personengruppen und deren Bedarfe ausgerichtet sind. Der universale Geltungsanspruch der EUTB „Eine für alle“ könnte genau dadurch gestärkt werden, sodass sie bestimmte, bisher eher wenig erreichte Personengruppen (z. B. Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Menschen, die auf eine unterstützte Kommunikation angewiesen sind) zukünftig noch besser bei ihren Beratungsaktivitäten berücksichtigen kann.

3. Weiterer Forschungsbedarf

Abschließend sei von mehreren offenen Punkten lediglich auf zwei ausgewählte Aspekte zur weiteren Forschung verwiesen.

Erstens sollte bei möglichen Folgeuntersuchungen die Rolle der Träger von EUTB-Angeboten bei der Analyse von strukturellen und materiellen Rahmenbedingungen der Beratung stärker ins Blickfeld gerückt werden als dies bisher der Fall sein konnte. Von Interesse sind insbesondere die trägerinternen Vorkehrungen für die Wahrung der Unabhängigkeit der Beratenden. Nicht zuletzt wären die Träger aber auch als potenzielle Ressource zu untersuchen, von der das Beratungsangebot der EUTB profitieren kann, etwa durch die Nutzung etablierter Verwaltungsstrukturen und Netzwerke, den Rückgriff auf qualifiziertes Beratungspersonal, den Verweis auf komplementäre Beratungsangebote, zum Beispiel im Rechtsbereich, die Einbeziehung in trägerinterne Fortbildungen sowie die Nutzung barrierefreier Örtlichkeiten für die Beratung.

Zweitens stellen sich für die EUTB-Angebote Herausforderungen im Kontext von Migration und Flucht. Aus der Forschungsperspektive wäre im Rahmen gruppenspezifischer Vertiefungen genauer zu untersuchen, wie Menschen mit Behinderungen und Migrations- und Fluchthintergrund von der EUTB erreicht werden können, welche spezifischen Beratungsanliegen sie haben und wie diesen Anliegen gut begegnet werden kann. Vertieft werden könnte auch, welche Peer-Aspekte zum Tragen kommen, wenn gemeinsam geteilte Erfahrungen mit einer Beeinträchtigung und einem Migrationshintergrund zugleich vorliegen. Auch die Netzwerkperspektive wäre zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf das Zusammenwirken der EUTB mit flucht- und migrationsspezifischen Beratungsstellen.

Literatur

Heimer, Andreas; Schütz, Holger; Wansing, Gudrun et al.  (2023): Evaluation der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung. BMAS Forschungsbericht 620. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsberichte/fb-620-evaluation-der-eutb.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 27.11.2023.

Beitrag von Andreas Heimer, Prognos AG Berlin, Dr. Holger Schütz, infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, und Prof. Dr. Gudrun Wansing,
Humboldt-Universität zu Berlin

Fußnoten

[1] Heimer, Maetzel, Schütz: Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil I: Konzept- und Strukturqualität; Beitrag D38-2021 unter www.reha-recht.de; 13.12.2021.

[2] Heimer, Maetzel, Schütz: Befunde Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil II: Prozess- und Ergebnisqualität; Beitrag D2-2022 unter www.reha-recht.de; 10.02.2022.

[3] Schütz, Heimer: Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil III: Was bringt die EUTB den Ratsuchenden?; Beitrag D11-2023 unter www.reha-recht.de; 27.11.2023.

[4] Die Homepage der Fachstelle Teilhabeberatung ist abrufbar unter https://www.teilhabeberatung.de/, zuletzt abgerufen am 27.11.2023.

[5] So zeigen sich beispielsweise uneinheitliche Vorgehensweisen der Beraterinnen und Berater mit dem Wunsch mancher Ratsuchenden nach einer über die Beratung im engeren Sinne hinausgehenden Fallbegleitung. Während einige Beratungskräfte dies ablehnen, füllen andere Leistungsanträge gemeinsam mit Ratsuchenden aus oder unterstützen ratsuchende Personen bei örtlichen Behördengängen. Damit verlassen sie das eigentliche Mandat der EUTB, das derartige Fälle zwar nicht per se ausschließt, sich aber auf Erstberatung und die Lotsenfunktion konzentriert.

[6] Schütz, Heimer: Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der Ergänzenden unabhän-gigen Teilhabeberatung (EUTB) – Teil III: Was bringt die EUTB den Ratsuchenden?; Beitrag D11-2023 unter www.reha-recht.de; 27.11.2023.


Stichwörter:

Bundesteilhabegesetz (BTHG), Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), Evaluation, Peer Counseling, Selbstbestimmung


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