11.05.2021 D: Konzepte und Politik Fuchs: Beitrag D22-2021

20 Jahre SGB IX – Impulse zu einer Agenda 2025 – Teil I

Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens des neunten Sozialgesetzbuchs zieht der Autor Prof. Dr. Harry Fuchs Bilanz, inwiefern die 2001 formulierten Anforderungen an das Gesetz umgesetzt wurden und ob die Reform des SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz einen Beitrag zur Erfüllung der ursprünglichen Zielsetzung leisten konnte. Er kommt zu dem Schluss, dass sich das Teilhaberecht insbesondere beim Leistungs-, Leistungserbringungs- und Vergütungsrecht auseinanderentwickelt und die Bestimmungen des SGB IX durch die Rehabilitationsträger nicht immer eingehalten werden. Zudem bestehe Unter-, Über- und Fehlversorgung im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Der Autor schlägt daher eine umfassende Revision und Weiterentwicklung des SGB IX anhand von 13 Punkten vor.

(Zitiervorschlag: Fuchs: 20 Jahre SGB IX – Impulse zu einer Agenda 2025 – Teil I; Beitrag D22-2021 unter www.reha-recht.de; 11.05.2021)

I. Einleitung

Am 1. Juli.2001 – mithin vor 20 Jahren – ist das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – in Kraft getreten, mit dem der Gesetzgeber den Anspruch verbunden hat, in Deutschland ein einheitliches Teilhabrecht zu gestalten, mit dem zumindest für Menschen mit Behinderungen die Nachteile der Schnittstellen des gegliederten deutschen Sozialleistungssystems überwunden werden. Schon mit dem SGB IX von 2001 wurden die zuvor in der Eingliederungshilfe-Verordnung zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) verankerten leistungsrechtlichen Bestimmungen für Menschen mit Behinderungen dort weitgehend gestrichen, herausgelöst und als gesetzliche Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in §§ 55 ff SGB IX übernommen.

Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurden danach lediglich noch die wenigen in § 54 SGB XII verbliebenen Leistungstatbestände, vor allem aber das gesamte Verwaltungs- und Verfahrensrecht sowie das Leistungserbringungs- und Vergütungsrecht der Eingliederungshilfe in das SGB IX – Teil 2 übernommen und weiterentwickelt. Eine Beurteilung der Wirkungen des BTHG ist danach nur im Gesamtkontext des SGB IX effizient.

Mit dem SGB IX von 2001 sollten u. a. folgende Grundsätze verwirklicht werden:[1]

  • Umsetzung des Benachteiligungsverbots des Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Bereich der Sozialpolitik
  • Beendigung der Divergenz und Unübersichtlichkeit des Rehabilitationsrechts
  • Für mehrere Träger einheitliche Regelungen an einer Stelle (Gemeinsames Rehabilitationsrecht)
  • Gemeinsames Recht und einheitliche Praxis des Rehabilitations- und Behindertenrechts durch Koordination, Kooperation und Konvergenz
  • Bürgernahe Organisation des Zugangs und der Erbringung der Leistungen
  • Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Leistungserbringern

Nachfolgend werden, orientiert an einigen dieser Grundsätze, die Entwicklung des SGB IX in den letzten 20 Jahren, insbesondere aber auch die Auswirkungen des BTHG erörtert.[2] Daraus abgeleitet werden in Teil II dieses Beitrags Vorschläge zur Weiterentwicklung für eine Agenda 2025 formuliert.

II. Beendigung der Divergenz des Rehabilitationsrechts/Gemeinsames Rehabilitationsrecht

Menschen mit Behinderungen sollen die nach ihrem individuellen Bedarf erforderlichen Leistungen zur Förderung der Teilhabe nach Gegenstand, Umfang und Ausführung (einschließlich Qualität) einheitlich erhalten, und zwar unabhängig von der Zuständigkeit oder Leistungsverpflichtung eines Rehabilitationsträgers (§§ 13 Abs. 2, 19 Abs. 1, 25 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Im Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages vom 4. April 2001 heißt es dazu: „Im Neunten Buch sind somit alle Regelungen zusammengefasst, die für die in § 6 genannten Rehabilitationsträger einheitlich gelten.“[3]

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 findet das SGB IX für Leistungen zur Teilhabe Anwendung, soweit in den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes geregelt ist. Deshalb wurde während des Gesetzgebungsverfahrens 2001 akribisch darauf geachtet, dass das bis dahin noch unterschiedliche Leistungsrecht vereinheitlicht wurde und in den für die Träger geltenden spezifischen Leistungsgesetzen keine Abweichungen mehr enthalten waren.

So findet man z. B. die Definition, was unter medizinischen Leistungen zur Rehabilitation zu verstehen und was Gegenstand dieser Leistungen ist, ausschließlich in § 42 SGB IX und in keinem der für die Träger geltenden Leistungsgesetze. Durch eine Bezugnahme auf die §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX in § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der bis 31. Dezember 2017 gültigen Fassung) wurde der gesamte Katalog der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auch zum Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe. Unterschiedliches Recht blieb in § 41 SGB V mit einer erweiterten Zielsetzung für die Vater-Mutter-Kind-Rehabilitation und mit dem gesamten Leistungsvereinbarungs- und Vergütungsrecht des SGB XII und Restanten an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf in § 54 SGB XII erhalten.

III. Auseinanderentwicklung des Teilhaberechts

1. Orientierung der Leistungen auf die Erreichung von Teilhabezielen/Auswirkungen auf das Leistungsniveau

Die Leistungen zur Teilhabe aller Rehabilitationsträger sollen zur Erreichung von Teilhabezielen erbracht werden (§ 4 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Die gesetzliche Orientierung der Leistungsausführung auf Teilhabeziele ist von besonderer Bedeutung für Gegenstand, Umfang und Qualität der Leistungen und damit auch zur Beurteilung der Eignung eines Leistungsangebotes (§§ 1, 4 Abs. 1, 42 Abs. 1 SGB IX usw.). Diese Zielorientierung bindet auch das den Trägern belassene Auswahlermessen (§ 36 Abs. 2 SGB IX), nach dem immer der Anbieter mit der zur Zielerreichung nach seiner Struktur und Prozessqualität am besten geeigneten Leistung für die Ausführung der Leistungen auszuwählen ist.

Entsprechend den mit der Bedarfsermittlung festgestellten individuellen Teilhabezielen kann der Leistungsbedarf im Einzelfall unterschiedlich hoch oder niedrig sein. Die mit der Leistung zu erreichenden Teilhabeziele haben mithin unmittelbaren Einfluss auf den Leistungsanspruch der Höhe nach. Mit dem BTHG wurden die bis dahin trägerübergreifend einheitlichen Teilhabziele für die Eingliederungshilfe abgesenkt. Schon die Aufgabenstellung der Eingliederungshilfe (§ 90 Abs. 1 SGB IX) zielt primär auf die individuelle Lebensführung und erst im Weiteren auf die Förderung der Teilhabe ab. Förderung der Selbstbestimmung und Vermeidung von Benachteiligungen sind nicht Gegenstand der Aufgabenstellung. Leistungsrechtlich ist Aufgabe der medizinischen Rehabilitation der Eingliederungshilfe nicht die uneingeschränkte Förderung der Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 90 Abs. 2 SGB IX), sondern letztlich nur die Verbesserung der wesentlichen Behinderung i. S. v. § 1 der Eingliederungshilfeverordnung.

Teilhabeziel der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist im Gegensatz zum Teil 1 des SGB IX nicht die dauerhafte Sicherung der vollen Teilhabe am Arbeitsleben, sondern nur die Aufnahme, Ausübung und Sicherung einer Beschäftigung (§ 90 Abs. 3 SGB IX). Dementsprechend umfassen die Leistungen der Eingliederungshilfe auch nicht mehr das umfassende Leistungspaket der §§ 49 ff SGB IX, sondern nur noch Leistungen zur Beschäftigungsförderung, insbesondere in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen oder dementsprechende Leistungen (§§ 111, 56 ff SGB IX). Die nach dem BTHG in der Eingliederungshilfe in Teilen niedrigerschwelligen Teilhabeziele rechtfertigen zwangsläufig ein im Verhältnis zum Teil 1 SGB IX niedrigeres Leistungsniveau. Das entspricht der aus den fürsorgerechtlichen Wesensmerkmalen abgeleiteten, in Teilen der Eingliederungshilfe vertretenen Auffassung, nur zu einer Teilhabesicherung nach dem Minimalprinzip verpflichtet zu sein.

2. Teihabezielerreichung – Maßstab für Qualität und Qualitätssicherung

Die Orientierung der Leistungsausführung auf die Erreichung von Teilhabezielen ist zugleich der Maßstab für die Qualitätsanalysen (§ 37 Abs. 1 SGB IX), Qualitätssicherung (§ 37 Abs. 2 bis 6 SGB IX) und die Prüfung von Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungen (§§ 28 Abs. 2, 128 SGB IX). Auch in diesem Bereich gibt es Divergenzen zwischen den Teilen 1 und 2 des SGB IX, aber auch im Verhältnis zu den SGB V und VI. Die Neufassung des § 15 SGB VI, insbesondere dessen Absatz 9 durch das „Gesetz Digitale Rentenübersicht (RentÜG)“[4] sieht weder für die Zulassung von Einrichtungen noch die Qualitätssicherung noch die zu schaffenden Vergütungsregelungen die Erreichung von Teilhabezielen als Struktur- und Prozess- oder Qualitätsmerkmal vor und gestaltet damit im Verhältnis zum SGB IX trägerspezifisch abweichendes Recht. Dass dennoch die Auslegung im Lichte des SGB IX einzufordern ist, um der Zielsetzung des SGB IX gerecht zu werden, ist ohne gesetzliche Klarstellung nur mäßig durchsetzbar. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die Teilhabezielorientierung im Rahmen des derzeit laufenden Entwicklungsprozesses zur Umsetzung der Neuregelung wahrgenommen wird.

3. Unterschiedlicher Zugang zu den Leistungen

Der Anspruch auf Förderung der Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie zur Vermeidung von Benachteiligungen (§ 1 SGB IX) richtet sich im Teil 1 des SGB IX ausschließlich danach, ob mit der Bedarfsermittlung eine Beeinträchtigung der Teilhabe festgestellt wird, die über die Definition von erreichbaren Teilhabezielen und daran orientierten Leistungen verbessert oder beseitigt werden kann. Lediglich für die Rentenversicherung bestehen daneben besondere Voraussetzungen, die sich aus ihrem spezifischen Auftrag ableiten.

Für die Menschen, die bei keinem anderen Rehabilitationsträger Leistungsansprüche geltend machen können und deswegen den Trägern der Eingliederungshilfe überantwortet sind, gibt es – außer dem Anspruch, Kosten senken zu wollen oder müssen – keinen ersichtlichen tragfähigen Grund, den Zugang zu den Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe von der Erfüllung besonderer Zugangsvoraussetzungen abhängig zu machen. Mit der Einführung spezifischer Anspruchsvoraussetzungen im „untersten sozialen Auffangnetz“ ergeben sich Zielgruppen, die einen Bedarf an Teilhabeleistungen haben, der durch keine gesetzliche Regelung und keinen Träger mehr gedeckt wird. Die Notwendigkeit, die Träger der Eingliederungshilfe von Kosten zu entlasten, kann auf andere Weise gelöst werden, als ausgerechnet über die Beschränkung des Zugangs zu den Leistungen für Menschen, die einen nachgewiesenen Leistungsbedarf – wenn auch ggfls. auf einem niedrigen Niveau – haben.

4. Unterschiedliches Wunschrecht

Das in § 8 SGB IX verankerte Wunschrecht gewährt den Berechtigten zur Förderung ihrer Selbstbestimmung bei der Entscheidung über und der Ausführung der Leistungen ein weitgehendes Wunschrecht. Im Bereich der Krankenversicherung wurde das Wunschrecht bereits 2007 durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz mit der Verpflichtung zur Tragung von Mehrkosten eingeschränkt. Diese Einschränkung besteht weiterhin, auch wenn die Verpflichtung durch das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPREG)[5] auf die Hälfte der Mehrkosten gesenkt wurde.

Das Eingliederungshilferecht (§ 104 Abs. 2 SGB IX) sieht die Wunscherfüllung nur bei „Angemessenheit“ vor, während § 8 SGB IX drauf abstellt, dass die Wünsche berechtigt sind. Das RentÜG verpflichtet die Rentenversicherung in § 14 Abs. 9 Nr. 3 SGB VI bei der Bestimmung der für die Zuweisungssteuerung maßgeblichen sozialmedizinischen Kriterien nicht mehr zur Beachtung des in § 8 SGB IX verankerten Rechtsanspruchs auf das Wunsch- und Wahlrecht, sondern lediglich noch zu dessen „Berücksichtigung“ und überlässt damit die Beachtung (§ 14 Abs. 1 SGB VI) der Ermessensausübung des Trägers.

5. Selbstbeschaffung von Leistungen

Der Teil 1 des SGB IX sieht in § 18 SGB IX die Selbstbeschaffung von Leistungen durch die Berechtigte bzw. den Berechtigten auf der Grundlage einer Genehmigungsfiktion vor, wenn der Rehabilitationsträger nicht innerhalb von zwei Monaten über den Leistungsantrag entscheidet. Dies entspricht einer vergleichbaren Regelung für den Bereich der Akutversorgung in § 13 Abs. 3a SGB IX. Das Selbstbeschaffungsrecht wurde kürzlich schon wieder durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu Gunsten der Rehabilitationsträger eingeschränkt.[6]

Für den Bereich der Eingliederungshilfe wird eine solche Regelung sogar ausdrücklich gesetzlich ausgeschlossen (§ 18 Abs. 7 SGB IX). Dies, obwohl gerade in diesem Bereich die Fristen der §§ 14, 15 SGB IX zur Entscheidung über Leistungsanträge zum Teil über Monate, in Einzelfällen sogar mehr als ein Jahr nicht eingehalten werden.[7] Dies ist deswegen besonders prekär, weil durch den mit dem BTHG eingeführten § 24 SGB IX die an sich nach § 43 SGB I mögliche vorläufige Leistungsgewährung für alle Teilhabeleistungen ausdrücklich ausgeschlossen wird.

Beitrag von Prof. Dr. Harry Fuchs, Hochschule Düsseldorf

Fußnoten

[1] Auszug aus dem SGB IX Eckpunktepapier der Koalitionsarbeitsgruppe vom Juli 1999.

[2] Mit Blick auf den verfügbaren Umfang der Veröffentlichung müssen auch die zu den jeweiligen Grundsätzen aufgeführten Entwicklungsbeispiele auf einige Schwerpunkte begrenzt werden.

[3] Bundestags-Drucksache 14/5800, S. 11.

[4] Rentenübersichtsgesetz vom 11.02.2021 (BGBl. I S. 154) (RentÜG).

[5] Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPREG) vom 23.10.2020 (BGBl. I S. 2220).

[6] BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, BSGE (vorgesehen), SozR 4-2500 § 13 Nr. 53.

[7]    Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, 1. Teilhabeverfahrensbericht, 2019, S. 53, https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/THVB/1_Teilhabeverfahrensbericht_2019.pdf, zuletzt abgerufen am 19.04.2021; 2. Teilhabeverfahrensbericht, 2020, S. 67–71 https://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/_publikationen/reha_entwicklungen/pdfs/2_THVB_2020.pdf, zuletzt abgerufen am 20.04.2020; Erkenntnisse aus der Weiterbildung von Beratern der EUTBs und Selbsthilfeorganisationen.


Stichwörter:

Bundesteilhabegesetz (BTHG), Eingliederungshilfe, Einheitlichkeit des Rehabilitationsrechts, ICF, Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), Reform, Reform der Eingliederungshilfe


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