12.05.2021 D: Konzepte und Politik Fuchs: Beitrag D23-2021

20 Jahre SGB IX – Impulse zu einer Agenda 2025 – Teil II

Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens des neunten Sozialgesetzbuchs zieht der Autor Prof. Dr. Harry Fuchs Bilanz, inwiefern die 2001 formulierten Anforderungen an das Gesetz umgesetzt wurden und ob die Reform des SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz einen Beitrag zur Erfüllung der ursprünglichen Zielsetzung leisten konnte. Er kommt zu dem Schluss, dass sich das Teilhaberecht  insbesondere beim Leistungs-, Leistungserbringungs- und Vergütungsrecht auseinanderentwickelt und die Bestimmungen des SGB IX durch die Rehabilitationsträger nicht immer eingehalten werden. Zudem bestehe Unter-, Über- und Fehlversorgung im Bereich der medizinischen Rehabilitation. Der Autor schlägt daher eine umfassende Revision und Weiterentwicklung des SGB IX anhand von 13 Punkten vor.

(Zitiervorschlag: Fuchs: 20 Jahre SGB IX – Impulse zu einer Agenda 2025 – Teil II; Beitrag D23-2021 unter www.reha-recht.de; 12.05.2021)

I. Einleitung

In Teil I dieses Beitrags wurde diskutiert, ob das ursprünglichen Ziel des SGB IX, die Divergenz und Unübersichtlichkeit des Rehabilitationsrechts zu beenden, erreicht wurde. Nachfolgend wird weiter diskutiert, inwiefern mit jüngeren Gesetzesänderungen (insbesondere mit dem Bundesteilhabegesetz, BTHG) die ursprünglichen Ziele des SGB IX umgesetzt wurden. Daraus abgeleitet werden Vorschläge für eine umfassende Revision und Weiterentwicklung des SGB IX im Sinne einer Agenda 2025.

II. Einheitliche Praxis des Rehabilitationsrechts

Die mit dem SGB IX angestrebte einheitliche Praxis des Teilhaberechts wurde nicht erreicht, weil die dafür im SGB IX enthaltenen Vorschriften von den Trägern weitgehend nicht umgesetzt wurden. Kein Rehabilitationsträger hat sich die Umsetzung des SGB IX zum vorrangigen Anliegen gemacht. Die Beharrungskraft bisheriger Verwaltungspraxis und organisationsspezifisch unterschiedlicher Orientierungen wurde unterschätzt.

Auch die Rechtsprechung hat nur eindeutige Kollisionsregeln, insbesondere zur Zuständigkeitsklärung, aufgegriffen. Bei der Auslegung des Leistungsrechts hat sie sich die nach Fachkammern gegliederte Sozial- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aber fast immer für die Strukturprinzipien der speziellen Gesetze entschieden und gegen die allgemeinen Prinzipien des SGB IX.

Weder die Aufsichtsbehörden als Wächter der gesetzlichen Ziele noch die Verwaltungsräte und Vorstände der Selbstverwaltung als Vertreter der Betroffenen sind bislang in besonderer Weise initiativ geworden, um die Versorgungsstrukturen der Rehabilitation im Sinne des SGB IX weiterzuentwickeln.[1]

1. Einheitliche Praxis durch das Bundesteilhabegesetz?

Bei dieser Sachlage durfte man erwarten, dass der Gesetzgeber das erste große Sozialgesetz für Menschen mit Behinderungen nach in Kraft treten des SGB IX nutzt, um die auf eine einheitliche Praxis des Rehabilitationsrechts abzielenden Regelungen weiter zu konkretisieren, noch bestimmter und abweichungsfest zu fassen.

Dies ist mit dem BTHG jedoch nur beim Teilhabeplanverfahren einschließlich der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs (Kapitel 2 bis 4) geschehen. Danach dürfen nunmehr weder die Rehabilitationsträger noch die Länder von den Regelungen des Kapitels 4 abweichen. Nach der vom Gesetzgeber vorgegebenen Untersuchung zur Wirkung der neuen Regelungen[2] zeichnen sich erst langsame Schritte zur Umsetzung ab, die zudem in den einzelnen Zweigen der Rehabilitationsträger auch weiterhin deutlich erkennbare Unterschiede aufweisen. Es ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass in absehbarer Zeit alle Rehabilitationsträger insbesondere die inhaltlichen Anforderungen der Bedarfsermittlung in gleicher Qualität erfüllen und damit eine einheitliche Basis entsteht, auf deren Grundlage der leistende Träger das weitere Teilhabeplanverfahren steuern kann.

2. Weitgehender Ermessungsspielraum der Eingliederungshilfe

Die leistungsrechtlichen Bestimmungen der Eingliederungshilfe gewähren einen Anspruch dem Grunde nach, während die Entscheidung über die Leistungshöhe weitgehend der pflichtgemäßen Ermessensauübung der Träger überlassen bleibt, für deren Ausübung der Gesetzgeber in den leistungsrechtlichen Vorschriften wenig bis keine Maßstäbe gesetzt hat.

Die große Zahl der Träger der Eingliederungshilfe auf kommunaler oder Länderebene führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Auslegungen und Praktiken des Eingliederungshilferechts. Eine von der Universität Kassel (Welti, Beyerlein) im Auftrag der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. erstellte Synopse zu den Landesgesetzen zum SGB IX – Teil 2 und zu den Landesrahmenvereinbarungen zeigt, wie vielfältig und unterschiedlich die Regelungen zur Umsetzung des SGB IX Teil 2 in den Landesgesetzen, insbesondere aber in den Landesrahmenverträgen sind.[3] Mit Blick auf diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit bestehen erhebliche Zweifel, dass auf dieser Grundlage noch gleichwertige Lebensverhältnisse für Menschen mit Behinderungen gesichert werden können. Für die Berechtigten steuert dem allein die für die Ermessensausübung maßgebende Bindung an das fürsorgerechtliche Bedarfsdeckungsprinzip (§ 104 SGB IX) entgegen. Damit wird deutlich, dass vor allem die rechtmäßige und im Einzelfall strikt an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) orientierte Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs (§§ 13, 118 SGB IX) sich unmittelbar auf die Höhe der Eingliederungshilfeleistungen auswirkt.

3. Entwicklungen im Bereich des Leistungsrechts

Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sind bei den Rehabilitationsträgern weniger auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft oder individuelle Teilhabeziele, sondern vielmehr immer noch auf trägerspezifische Ziele oder auf die Unterstützung des Erfolges der Krankenbehandlung ausgerichtet. Das Gesetzgebungsverfahren zum BTHG hat die Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation vollständig ausgeblendet, obwohl bekannt ist, dass es in diesem Bereich sowohl Über-, Unter- wie auch Fehlversorgung gibt. Jean-Jacques Glaesener, Matthias Morfeld und Matthias Schmidt-Ohlemann haben auf der Basis der Beratungen und Diskussionen in den Arbeitsgruppen des Projekts RehaInnovativen „Handlungsempfehlungen – Impulse zur Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation“ erarbeitet, in denen neben anderem Handlungsbedarf, im Abschnitt 3 die Versorgungsbereiche aufgelistet sind, zu denen die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung besteht. Leider hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) diese Handlungsempfehlungen mangels Konsenses aller Beteiligten am Projekt nicht veröffentlicht.

So gibt es z. B. für Menschen mit psychischen Erkrankungen keine ambulanten Angebote der medizinischen Rehabilitation. Stationäre Angebote der medizinischen Rehabilitation für diese Zielgruppe existieren weitgehend nur in der Form der Restanten der im Rahmen eines Modellvorhabens „Rehabilitation psychisch kranker Menschen (RPK)“ entwickelten Einrichtungen, die dann auf der Grundlage einer ersten Empfehlungsvereinbarung RPK der Renten- und Krankenversicherung vom 17. November 1986 weiterhin tätig blieben. An der Unterversorgung hat sich auch nach Inkrafttreten der „RPK-Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger sowie der Bundesagentur für Arbeit bei der Gewährung von Leistungen zur Teilhabe in Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke und behinderte Menschen“ vom 29. September 2005 wenig geändert. Die „Studie Rehabilitation für psychisch kranke Menschen in Deutschland“ kam zu dem Ergebnis, dass weite Teile des Bundesgebietes, insbesondere in den „neuen Ländern“ bisher ohne entsprechende Versorgung waren.[4]

Bei fast allen Indikationen mangelt es an der Frührehabilitation im Krankenhaus. Im Bereich der neurologischen Rehabilitation ist die ambulante rehabilitative Versorgung zwischen den verschiedenen stationären akutmedizinischen und rehabilitativen Leistungen weder definiert noch organisiert oder ausgestaltet. Die betroffenen Menschen sind weitgehend ausschließlich auf ambulante Krankenbehandlung angewiesen. Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPREG) hat zwar die häusliche Pflege für Menschen mit Bedarf an Intensiv- und Beatmungspflege neu geregelt, aber – trotz aller Hinweise und Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren[5] – die auch bereits während dieser Behandlungsphasen dringend gebotenen rehabilitativen und auf die Teilhabebeeinträchtigungen ausgerichteten Behandlungsmethoden völlig ausgeblendet. U. a. der Werkstattbericht über das beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales durchgeführte Projekt RehaInnovativen[6] zeigt vielfältige Impulse für die Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation auf. Leider konnten sich die Projektteilnehmer nicht auf die von einem Teil der Beteiligten erarbeiteten Handlungsempfehlungen verständigen, die deshalb vom BMAS auch nicht veröffentlicht wurden.

4. Entwicklungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Durch das BTHG wurde der früher in § 54 SGB XII enthaltene Verweis auf das gesamte Leistungspaket im Teil 1 des SGB IX aufgehoben, sodass heute nur noch Leistungen im Bereich der Beschäftigungsförderung möglich sind. Davon sind insbesondere Menschen mit Behinderungen betroffen, die keine Leistungsansprüche gegen einen anderen Rehabilitationsträger als den der Eingliederungshilfe geltend machen können und z. T. auch nicht über Ansprüche nach dem SGB II verfügen. Eine Zielgruppe sind Menschen mit psychischen Erkrankungen, die mangels wirksamer Angebote der medizinischen Rehabilitation im Verlaufe ihrer Erkrankung relativ früh Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben benötigen und zunehmend auf Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) verwiesen werden, obwohl ihr Leistungsvermögen noch deutlich über das für den Zugang zu einer Werkstatt erforderliche Mindestmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit hinausgeht und eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erreichbar wäre. Für Menschen mit Behinderungen, die über kein Mindestmaß an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verfügen, sieht das BTHG unverändert keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vor. Ebenso prekär ist, dass das SGB II für Empfänger von Grundsicherung bestimmte Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ausschließt.[7] Das Teilhabestärkungsgesetz sieht zwar vor, dass die Jobcenter künftig „neben einem Rehabilitationsverfahren“ Leistungen nach § 16a ff. SGB II erbringen können.[8] Das ändert nichts daran, dass die Leistungen nach § 116 Abs. 3 und 4 SGB III auch künftig nicht als Bestandteil der Teilhabeleistung am Arbeitsleben für Grundsicherungsempfänger erbracht werden dürfen.

Nach Auffassung des Verfassers muss eine Weiterentwicklung des Teilhaberechts erreichen, dass Menschen mit einem absolut gleichen individuellen Leistungsbedarf nicht mehr deswegen unterschiedliche Leistungen erhalten und ihnen keine gleichwertigen Zugänge zur vollen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eröffnet werden, weil das deutsche gegliederte Sozialleistungssystem in den spezifischen Leistungsgesetzen der Träger unterschiedliche Leistungsniveaus vorsieht.

5. Leistungen zur Sozialen Teilhabe

Letzteres gilt ebenso für die Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Zur unterschiedlichen Leistungsgestaltung innerhalb der Eingliederungshilfe wurde bereits oben auf die Studie der Universität Kassel hingewiesen. Darüber hinaus bestehen zwischen den Teilen 1 und 2 des SGB IX zu den einzelnen Leistungsgruppen auch gesetzlich definierte Leistungsunterschiede. Neben der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zur Wiederherstellung eines einheitlichen Teilhaberechts bedarf die weitgehend der Ermessensausübung der Träger der Eingliederungshilfe überlassene Entscheidung über Gegenstand und Ausführung der Leistungen zur Sicherung einheitlicher Lebensverhältnisse von Menschen mit Behinderung und der Gleichbehandlung der Bindung an gesetzliche Maßstäbe der Ermessensausübung.

III. Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Leistungserbringern

Das SGB IX hat nicht nur Strukturen für die Zusammenarbeit, sondern erstmals auch ein für alle Rehabilitationsträger – mit Ausnahme der Träger der Eingliederungshilfe – einheitliches Vertrags- und Vergütungsrecht geschaffen (§§ 36ff SGB IX). Dieses trägerübergreifende Recht wurde von den Rehabilitationsträgern weder hinsichtlich der gesetzlich vorgegebenen Anforderungen an die Versorgungsverträge (§ 38 Abs. 1 SGB IX) noch des Abschlusses von einheitlichen Grundsätzen für die Vereinbarung von Versorgungs- oder Rahmenverträgen (§ 38 Abs. 3 Satz 1 SGB IX), noch der Vereinbarung von Grundsätzen zur Vereinbarung von Vergütungen (§ 38 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) umgesetzt.

Nach dem SGB IX sind die Rehabilitationsträger bereits seit 2001 objektiv verpflichtet, den Leistungserbringern für ihre Leistungen eine angemessene Vergütung (§ 36 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 55 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB IX) zu gewähren, wobei der Gesetzgeber nach der Begründung erwartete, dass die Rehabilitationsträger (gemeinsam) in Grund-sätzen zur Vergütung (§ 38 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) ein leistungsbezogenes Vergütungssystem entwickeln.[9] Mit dem Leistungsbezug sollte die Vergütung über den Umfang der Leistungen sowohl am Bedarf der Berechtigten wie auch an der erforderlichen Qualität bezogen auf die Erreichung der individuellen Teilhabeziele gewährleistet werden. Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber selbst das trägerübergreifende Leistungserbringungs- und Vergütungsrecht weitgehend ausgehöhlt und auf trägerspezifisches Recht zurückgeführt. Da die Träger keine einheitlichen Kriterien für die Bestimmung von Gegenstand und Vergütung der Leistungen anwenden, entwickeln sich Qualität und Vergütung, insbesondere in der Krankenversicherung zunehmend auseinander. Damit stellt sich die Frage der Wirksamkeit der Leistungen bei individuell gleichen Teilhabezielen und letztlich auch deren Wirtschaftlichkeit.

Im Bereich der Krankenversicherung hat der Gesetzgeber die vom SGB IX abweichende Praxis durch das IPREG legitimiert. § 111c Abs. 3 Satz 1 SGB IX enthält nunmehr ein trägerspezifisches Vergütungsrecht, das nach Absatz 5 durch untergesetzliche Rahmenempfehlungen zu konkretisieren ist, deren inhaltliche Anforderungen hinter den gesetzlichen Vorgaben des § 38 SGB IX zurückbleiben. Prinzipiell übernimmt damit der Gesetzgeber die Praxis der Krankenversicherung, die Leistung und deren Vergütung vornehmlich über das Vergütungsniveau zu gestalten. Die Vergütungsregelungen der §§ 36 Abs. 2 Satz 3, 51 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB IX, die eine angemessene, leistungsbezogene Vergütung nach einheitlichen Grundsätzen der Rehabilitationsträger zusicherten, bestehen zwar fort, werden aber mit Blick auf das trägerspezifische Recht des SGB V in der Praxis kaum noch durchzusetzen sein.

Vergleichbares gilt für den Bereich der Rentenversicherung. Das Rentenübersichtsgesetz (RentÜG) verpflichtet die Träger mit der Einführung des § 15 Abs. 9 Nr. 2 SGB VI zu einem verbindlichen transparenten, nachvollziehbaren und diskriminierungsfreien Vergütungssystem für alle zugelassenen Rehabilitationseinrichtungen. Dabei sollen insbesondere die Indikation, spezifische konzeptuelle Aspekte und besondere medizinische Bedarfe berücksichtig werden. Die wirksame Erreichung von Teilhabezielen durch dazu geeignete Struktur- und Prozessqualitäten wird gesetzlich ausdrücklich nicht vorgegeben und könnte allenfalls unter dem Begriff „spezifischer konzeptueller Aspekte“ Bedeutung erlangen, wenn § 15 Abs. 9 Nr. 2 SGB VI im Lichte der Bestimmungen des SGB IX ausgelegt und umgesetzt werden. Die gesetzliche Vorgabe, „ein geeignetes Konzept der Bewertungsrelationen zur Gewichtung der Rehabilitationsleistungen und eine geeignete Datengrundlage für die Kalkulation der Bewertungsrelationen“ zu entwickeln, deutet auf eine abstrakte Vergütungsbildung durch die Gewichtung der Vergütungssätze in den einzelnen Indikationsbereichen im Verhältnis zur Gesamtvergütung für Rehabilitationsleistungen hin. Dies hat mit einer an der Erreichung von Teilhabezielen orientierten Qualität und Wirksamkeit der Leistungen wenig zu tun. Die über einen Algorithmus definierte, abstrahierende Vergütungsfindung könnte mittelfristig zu einer mittelwertigen Vergütungsentwicklung und letztlich zur Gefährdung der Qualität und Wirksamkeit der Leistungen führen.

Im Bereich der Eingliederungshilfe hat der Gesetzgeber mit dem BTHG an der Vergütungsbildung durch Pauschalierung auf der Grundlage abstrakter Gruppen gleichen Bedarfs festgehalten. Dies kollidiert zumindest in Teilen mit der den Menschen mit Behinderungen zugesagten „Personenzentrierung“ der Leistungen. Der Begriff der „Personenzentrierung“ ist im Gesetz ausschließlich in der Bestimmung zum Sicherstellungauftrag (§ 95 SGB IX) enthalten. Damit werden die Träger der Eingliederungshilfe verpflichtet, eine personenzentrierte Leistungserbringung sicherzustellen (nicht etwa selbst auszuführen wie in § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Diese Sicherstellung erfolgt durch die Bindung der Leistungserbringer an den Gesamtplan in der Leistungsvereinbarung (§ 123 Abs. 5 Nr. 3 SGB IX). Damit obliegt dem Leistungserbringer die Individualisierung der Leistung bei der Leistungsausführung. Insoweit folgt der Teil 2 des SGB IX nunmehr dem Individualisierungsprinzip, das dem SGB IX bereits seit seinem Inkrafttreten innewohnt.

IV. Umsetzung der UN-BRK

Letztlich stellt sich die Frage, inwieweit das SGB IX das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) umsetzt. In der Begründung zum BTHG wird an verschiedenen Stellen ausgeführt, dass die Regelungen der Umsetzung der UN-BRK dienen.[10] Ohne dies im Einzelnen weiter zu konkretisieren, sei auf Anmerkungen der Monitoring-Stelle UN-BRK des Deutschen Instituts für Menschenrechte zum Regierungsentwurf BTHG, September 2016 verwiesen:

„Es wird jedoch der Anschein erweckt, dass der Gesetzentwurf die einschlägigen Vorgaben der UN-BRK hinreichend oder gar vollständig umsetzt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Aus der Sicht der UN-BRK bleiben auch nach der Verabschiedung eines BTHG große Herausforderungen für die Regelung gesellschaftlicher Teilhabe bestehen…“[11]

V. Impulse zu einer Agenda 2025

Der Grundsatz, dass Menschen mit Behinderungen nach ihrem individuellen Bedarf erforderliche Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unabhängig von der Zuständigkeit oder Leistungsverpflichtung eines Rehabilitationsträgers nach Gegenstand, Umfang und Ausführung (einschl. Qualität) bundesweit einheitlich erhalten sollen, ist ohne Einschränkungen weiterhin richtig.

Die zum SGB IX von 2001 definierten Ziele

  • Beendigung der Divergenz und Unübersichtlichkeit des Rehabilitationsrechts,
  • Gestaltung einheitlicher Regelungen für mehrere Träger an einer Stelle (Gemeinsames Rehabilitationsrecht),
  • gemeinsames Recht und einheitliche Praxis des Rehabilitations- und Behindertenrechts durch Koordination, Kooperation und Konvergenz,
  • bürgernahe Organisation des Zugangs und der Erbringung der Leistungen,
  • Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Leistungserbringern

sind weiterhin zu verfolgen. Auf dem Hintergrund der in diesem Beitrag aufgezeigten Beispiele für die

  • gesetzliche Auseinanderentwicklung des Teilhaberechts insbesondere des Leistungs-, Leistungserbringungs- und Vergütungsrechts,
  • die Nichtumsetzung der Bestimmungen des SGB IX durch die Rehabilitationsträger,
  • die aufgezeigte Unter-, Über- und Fehlversorgung im Bereich der medizinischen Rehabilitation

ist eine umfassende Revision und Weiterentwicklung des SGB IX im Sinne einer Agenda 2025 mit mindestens folgenden Inhalten erforderlich:

  • Wiederherstellung eines trägerübergreifenden, einheitlichen Teilhaberechts für alle Menschen mit Behinderungen,
  • Beseitigung der Einschränkungen bei den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im SGB II,
  • Sicherung des Leistungskatalogs des SGB IX, Teil 1 bei der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII,
  • Sicherung eines trägerübergreifend einheitlichen Zugangsrechts zu den Leistungen zur Teilhabe auf der Grundlage der ICF-orientierten Bedarfsermittlung,
  • Beseitigung der Über-, Unter- und Fehlversorgung im Bereich der medizinischen Rehabilitation,
  • Vereinheitlichung der unterschiedlichen Regelungen bei den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Sozialen Teilhabe,
  • Sicherstellung einer bundeseinheitlichen Rechtspraxis im Bereich der Sozialen Teilhabe,
  • Verpflichtung der Länder zur Errichtung der regionalen Trägerarbeitsgemeinschaften nach § 25 Abs. 2 SGB IX,
  • Beseitigung der Unterschiede beim Wunschrecht,
  • Schärfung des Selbstbeschaffungsrechts von Leistungen und Ausdehnung auf alle Rehabilitationsträger,
  • Wiedereinführung der Möglichkeit zur Erbringung vorläufiger Leistungen,
  • Wiederherstellung eines trägerübergreifend einheitlichen Leistungserbringungs- und Vergütungsrechts im Teil 1 des SGB IX,
  • Orientierung des Leistungserbringungs- und Vergütungsrechts im Teil 2 des SGB IX am Teil 1.

Letztlich steht zudem noch die Weiterentwicklung und Anpassung des SGB XI an die UN-BRK aus.

Beitrag von Prof. Dr. Harry Fuchs, Hochschule Düsseldorf

Fußnoten

[1]  Vgl. Welti, Das neue Teilhaberecht – oder wo stehen wir und wie geht es weiter mit den Rechtsgrundlagen für Menschen mit Behinderungen? Vortrag, gehalten am 17.02. 2014, Berlin, Kleisthaus, Welti: Das neue Teilhaberecht – Reform des SGB IX; Forum D, Beitrag D6-2014 unter www.reha-recht.de; 14.03.2014.

[2] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Kienbaum Consultants International GmbH, Forschungsbericht 540 ‒ Implementationsstudie zur Einführung von Instrumenten zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX (Bundesteilhabegesetz) ‒ Abschlussbericht, https://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/BTHG/Studie_BedarfsEM.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt abgerufen am 19.04.2021.

[3] Siehe dazu Beyerlein, Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in den Bundesländern, Beiträge A4-2020 bis A7-2020 unter www.reha-recht.de.

[4] Weig, W./Schell, G., Rehabilitation für psychisch kranke Menschen in Deutschland, Krankenhauspsychiatrie 16 (2005), S. 107–112.

[5] Siehe z. B. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation, Stellungnahme der DVfR zum Referentenentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Reha- und IntensivpflegeStärkungsgesetz – RISG), September 2019, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/Stellungnahmen_WP19/RISG/DVfR.pdf, zuletzt abgerufen am 19.04.2021.

[6] Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Werkstattbericht RehaInnovativen, 2020, http://www.rehainnovativen.de/fileadmin/rehainnovativen/Downloads/Werkstattbericht_RehaInnovativen-12-2020_bf.pdf, zuletzt abgerufen am 19.04.2021.

[7] Nach § 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II finden § 116 Abs. 3 bis 5 SGB III keine Anwendung (Rechtsstand 29.04.2021).

[8] Bundestags-Drucksache 19/27400, S. 2. Bezüglich der Änderungen durch das Teilhabestärkungsgesetz an der Schnittstelle SGB II, SGB III und SGB IX siehe:
Dittmann: Sozialintegrative Leistungen nach dem SGB II neben einem Rehabilitationsverfahren – Teil I: Das Teilhabestärkungsgesetz und die Aufhebung des Verbots von Leistungen nach §§ 16a ff. SGB II an Rehabilitandinnen und Rehabilitanden im SGB-II-Leistungsbezug; Beitrag A15-2021 unter www.reha-recht.de; 05.05.2021, und Teil II: Das Teilhabestärkungsgesetz und Koordinierung von Jobcentern und Rehabilitationsträgern; Beitrag A16-2021 unter www.reha-recht.de; 06.05.2021;
Dittmann: Leistungen der aktiven Arbeitsförderung durch die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter neben einem Rehabilitationsverfahren – Teil I: Das Teilhabestärkungsgesetz und die partielle Aufhebung des Leistungsverbots nach § 22 Abs. 2 S. 1 SGB III; Beitrag A13-2021 unter www.reha-recht.de; 03.05.2021, und Teil II: Das Teilhabestärkungsgesetz und die Koordinierungserfordernisse zur Vermeidung von Doppelleistungen; Beitrag A14-2021 unter www.reha-recht.de; 04.05.2021;
Sellnick: Der Entwurf des Teilhabestärkungsgesetzes und die partielle Aufhebung des Verbots von Leistungen nach §§ 16a ff SGB II an erwerbsfähige SGB II-Leistungsberechtigte mit Behinderungen und Sellnick, Der Entwurf des Teilhabestärkungsgesetzes und das verbleibende Problem der Zuständigkeit für SGB II-Leistungsempfänger; in Kürze auf www.reha-recht.de.

[9] Bundestags-Drucksache 14/5074, S. 105.

[10] Siehe z. B. Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 2: „Folgende Ziele sollen im Lichte der UN-BRK mit dem Gesetz verwirklicht werden“.

[11] Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme - Bundesteilhabegesetz (BTHG) überarbeiten, Anmerkungen zum BTHG aus menschenrechtlicher Perspektive anlässlich der Ersten Beratung des Gesetzentwurfs im Deutschen Bundestag am 22.09.2016, S. 8; https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_Bundesteilhabegesetz_ueberarbeiten.pdf, zuletzt abgerufen am 19.04.2021.


Stichwörter:

Bundesteilhabegesetz (BTHG), Einheitlichkeit des Rehabilitationsrechts, Eingliederungshilfe, ICF, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Reform, Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)


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