14.01.2020 D: Konzepte und Politik Beyerlein et al.: Beitrag D4-2020

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an wichtigen Lebensbereichen – Bericht vom 1. Kongress der Teilhabeforschung: Teil III

In diesem dreiteiligen Beitrag wird über den 1. Kongress der Teilhabeforschung berichtet, der am 26. und 27. September 2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Initiiert wurde der Kongress vom Aktionsbündnis Teilhabeforschung, die wissenschaftliche Leitung übernahmen Prof. Dr. Markus Schäfers (Hochschule Fulda, Sprecher Aktionsbündnis Teilhabeforschung) und Prof. Dr. Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin). Ziele dieses Kongresses und zukünftiger Veranstaltungen dieser Art sind die Profilierung, Etablierung und Weiterentwicklung der Teilhabeforschung. Ca. 250 Teilnehmende zeigten Interesse an dieser Gelegenheit zum fachlichen Austausch und zur Vernetzung. Teil III fasst Vorträge und Diskussionen zur Teilhabe an wichtigen Lebensbereichen zusammen.

(Zitiervorschlag: Beyerlein et al.: Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an wichtigen Lebensbereichen – Bericht vom 1. Kongress der Teilhabeforschung: Teil III; Beitrag D4-2020 unter www.reha-recht.de; 14.01.2020)

I. Einleitung

In den ersten beiden Teilen dieses Beitrags wurde über Vorträge berichtet, die sich mit Stand und Entwicklung der Teilhabeforschung (Beitrag D2-2020) sowie dem Thema Partizipation von Menschen mit Behinderungen (Beitrag D3-2020) auseinandersetzten. Der 1. Kongress der Teilhabeforschung[1] fand am 26. und 27. September 2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt.

II. Teilhabe an Bildung

Philine Zölls-Kaser (Humboldt-Universität zu Berlin) stellte eine explorative, multiperspektivische Längsschnittstudie zum Übergang Schule – Beruf von Schülerinnen und Schülern des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung vor. Hierbei untersuchte sie

  1. welche Faktoren die Berufswahl der Schülerinnen und Schüler beeinflussen,
  2. inwiefern die Umsetzung des Berufswunsches gelingt,
  3. welche Barrieren erkennbar sind und
  4. welche Unterstützungsbedarfe und -möglichkeiten bestehen.

Die Studie zeigte, dass die Befragten entgegen häufiger Vorurteile, realistische Berufswünsche haben. Dennoch gelang es nur einer Befragten in ihren Wahlberuf einzumünden. Dieser Befund lasse an der Möglichkeit zur Selbstbestimmung der Teilnehmenden zweifeln und mache die Stärkung der Betroffenenperspektive nötig. Auch konnte ein hoher Einfluss der Eltern auf die Berufswahl festgestellt werden.

Das Projekt „Promotion inklusive“ (Promi) wurde von Susanne Groth (Universität zu Köln) vorgestellt. Im Rahmen des Projektes haben insgesamt 45 Hochschulabsolvierende mit Behinderungen die Möglichkeit zur Promotion erhalten. Dazu wurden in den Jahren 2013 bis 2015 zusätzliche „halbe Stellen” für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter an 21 Hochschulen eingerichtet. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts durch die Universität zu Köln zeigte sich, dass vor allem Unklarheiten bei der Beantragung und Bewilligung von Rehabilitationsleistungen zu erheblichen Verzögerungen führten. So seien Zuständigkeiten sowohl bei den Reha-Trägern als auch bei den Universitäten selbst unklar gewesen, mit der Konsequenz, dass einige Teilnehmende nur mit Verspätung ihre Promotionsvorhaben beginnen konnten. Als wesentliche Faktoren für eine gelingende Teilhabe zeigten sich die Vernetzung der einzelnen Akteure sowie die Bestimmung fester Ansprechpersonen.

Über die Qualifizierung beim Peer Counseling referierte Prof. Dr. Gudrun Wansing (Humboldt-Universität zu Berlin), die zunächst das Konzept des Peer Counseling vorstellte und dessen rechtliche Verankerung in Art. 26 Abs. 1 UN-BRK und § 32 SGB IX (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, EUTB). Die EUTB-Stellen verfolgen das Ziel, eine Orientierungs- und Planungshilfe, insbesondere im Vorfeld der Beantragung von Teilhabeleistungen zu sein. Mit der im Rahmen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes[2] vorgesehenen dauerhaften Förderung der EUTB erfuhren diese eine Aufwertung. Zugleich werde für Menschen mit Behinderungen ein exklusives Berufsfeld geschaffen. Damit stelle sich die Frage nach der Professionalisierung und einer einheitlichen Qualifizierung der Peer Couselor, die bislang sehr heterogen sei. Empirische Studien zu diesem Themenfeld gebe es kaum. Eine Ausnahme bilde die Evaluation von Peer Counseling im Rheinland, die im Auftrag des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) von der Universität Kassel (unter Leitung von Gudrun Wansing) und der Prognos AG durchgeführt wurde.[3] Wansing charakterisierte Peer Counseling als eine Form psychosozialer reflexiver Beratung und diskutierte erforderliche Beratungskompetenz entlang eines mehrdimensionalen Kompetenzmodells (Wissen, Können, Handlungsorientierung).

Theresia Haßler (Katholische Hochschule NRW) stellte die Ergebnisse einer Arbeit zur Nutzung sozialer Online-Netzwerke durch Menschen mit geistiger Behinderung vor. Betrachtet wurden die Teilhabe an der Nutzung des Internets sowie die Teilhabeförderung durch das Internet. Rechtlich verankert sei die digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b UN-BRK (Zugänglichkeit von Informations-, Kommunikations- und anderen Diensten), der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) sowie den Richtlinien für barrierefreie Webinhalte (WCAG). Ausgangsthese der Referentin war, dass es aufgrund mangelnder Barrierefreiheit sowie finanzieller Barrieren zu einer „digitalen Spaltung“ der Gesellschaft komme. Im Rahmen ihrer systematischen Literaturanalyse sowie der Auswertung bestehender Daten zur digitalen Teilhabe, fand Haßler heraus, dass vor allem Kommunikationsdienste aktiv verwendet und digitale Medien ansonsten eher passiv genutzt werden. Zudem würden sprachgesteuerte Ein- und Ausgabedienste sehr geschätzt. Die Referentin gelangte zu dem Fazit, dass Medienbildung für die Nutzung digitaler Medien essentzell ist und barrierefreie Beratungsangebote zu schaffen sind.

III. Teilhabe am Arbeitsleben

Azize Kasberg (Alice Salomon Hochschule Berlin) und Thomas Künneke (Kellerkinder e. V.) berichteten über eine qualitative Studie zu barrierefreien Arbeitsplätzen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die von Forscherinnen und Forschern mit und ohne persönliche Erfahrungsexpertise durchgeführt wurde.[4] Die Befragung von Betroffenen ergab, dass die Zugänglichkeit von Arbeitsplätzen für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen u. a. von einem akzeptierenden Umgang, bedarfsgerechter Unterstützung und der Passung von Arbeitsaufgaben und Arbeitsorganisation abhängt. Darüber hinaus müssten auch die Bildungswege frei von Barrieren, der Zugang zu Leistungen zur Teilhabe niedrigschwellig (vor allem in Form einfacher Anträge und kurzer Bewilligungszeiten) und die selbstbestimmte Gestaltung des Unterstützungssystems möglich sein. Insbesondere müsse berücksichtigt werden, dass Barrieren für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sehr verschieden sind und auch Faktoren außerhalb des Arbeitsplatzes eine wichtige Rolle spielen.[5]

Marie Sophia Heide (Universität zu Köln) referierte zum Thema „Die Rolle der Schwerbehindertenvertretung in der betrieblichen Inklusion: Optimierung der Zusammenarbeit mit inner- und außerbetrieblichen Kooperationspartnern“.[6] Zunächst stellte Heide empirische Ergebnisse über die Verbreitung und Zusammensetzung der untersuchten Schwerbehindertenvertretungen vor. Demnach sind die meisten Vertrauenspersonen männlich, über 51 Jahre alt und haben einen Schwerbehindertenstatus. Schwerbehindertenvertretungen sind überwiegend in großen Unternehmen mit mehr als 249 Mitarbeitenden eingerichtet und die meisten Vertrauenspersonen üben weiterhin auch operative Tätigkeiten aus. Etwa die Hälfte von ihnen sind sowohl in der Schwerbehindertenvertretung als auch im Betriebs- bzw. Personalrat aktiv. Die Tätigkeiten finden als direkte Zusammenarbeit mit den schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, als Interkation mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und anderen Akteuren sowie zur Etablierung im Ehrenamt statt.

Aufgrund der verschiedenen Kooperationspartnerinnen und -partner (schwerbehinderte Menschen, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Betriebsräte) aber auch aufgrund der Tatsache, dass die Vertrauenspersonen regelmäßig auch weiterhin operative Tätigkeiten wahrnehmen, sähen sich die Schwerbehindertenvertretungen verschiedenen Erwartungen und großen Herausforderungen ausgesetzt. Eine gelingende Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren bedürfe der Transparenz der eigenen Arbeit, aber auch der Etablierung eines professionellen Selbstverständnisses.[7] Insgesamt zeichne sich die Tätigkeit durch eine hohe Belegschaftsnähe aus, mit der eine Helfer- und Unterstützungsfunktion einhergeht und die ggfs. ein hohes Maß an Information und Schulung in Sozial- und Beratungskompetenzen notwendig macht.[8] Auch in der Diskussion wird die Tätigkeit in der Schwerbehindertenvertretung als anspruchsvolles Amt beschrieben und Bedarf an Schulungen mitgeteilt. Problematisch sei, dass ein überbetrieblicher Austausch zwischen Schwerbehindertenvertretungen kaum möglich ist, da es hierfür keine Freistellung gebe.

Hintergrund der von Dr. Sebastian Klaus (Humboldt-Universität zu Berlin) vorgestellten Mixed-Method-Studie „Wege psychisch Kranker in die EM-Rente und Rückkehrperspektiven aus der EM-Rente in Arbeit“[9] ist der starke Anstieg der Bewilligungen von EM-Berentungen aufgrund psychischer Beeinträchtigungen von 24% im Jahr 2001 auf 43% 2016. Das Durchschnittsalter beim Renteneintritt ist gering und liegt bei etwa 48 Jahren, wobei die Hälfte der Betroffenen vor dem EM-Rentenantrag keine Rehabilitation in Anspruch genommen hat.[10] Die Hauptfrage des Projektes zielte auf die Rekonstruktion der biografischen Entwicklungsgeschichten von EM-Rentnerinnen und Rentner vor und während des ersten Bewilligungszeitraums.

In der Analyse des Datenmaterials zeigte sich eine sehr große Heterogenität der biografischen Vorgeschichten: Viele, meist jüngere Teilnehmende sähen den Ursprung ihrer Beschwerden in negativen Kindheitserlebnissen, in psychischen Belastungen in Familie und Beruf oder in einer schweren somatischen Erkrankung, die entscheidend für den Ausbruch der psychischen Erkrankung war. Allen gemein ist eine der Beantragung einer EM-Rente vorausgehende lange, schleichende, durch Schwankungen geprägte Krankheitsgeschichte. Obwohl sich die Chronifizierung in unterschiedlichen Lebenslagen und -phasen vollziehe, sei bei allen Teilnehmenden ein finaler „Präsentismus"[11] erkennbar, in dem die Menschen mit aller Kraft versuchen, ihren beruflichen sowie privaten Alltag aufrechtzuerhalten und ihre psychischen Belastungen auszublenden und zu kaschieren. Der Phase des Präsentismus folgten ein psychischer Zusammenbruch und häufig viele Monate der Arbeitsunfähigkeit. Verbunden mit der Hoffnung auf strukturelle Entlastung, künftige Stabilität, (Planungs-) Sicherheit und auf eine Zeit aktiver Auseinandersetzung mit der chronischen Krankheit, stellten sie schließlich einen Antrag auf EM-Rente.

Ein konkretes Präventionsangebot kann nach Klaus wegen der Heterogenität der biografischen Konstellationen und Problemlagen nicht abgeleitet werden. Der letzte mögliche Zeitpunkt für eine Intervention liege offenbar in der Präsentismusphase. Weil viele der Betroffenen jedoch selbst eine akute Behandlungsnotwendigkeit für sich nicht erkennen, bedarf es nicht nur niederschwelliger Angebote, sondern auch eines aktiven Herantretens an die Betroffenen.

IV. Wohnen und alltägliche Lebensführung

Prof. Dr. Antonia Thimm (Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen) referierte zum Thema „In welchen Wohnsettings leben Erwachsene mit geistiger Behinderung?“ Sie bezog sich dabei auf Daten aus dem BMBF-Forschungsprojekt „Modelle für die Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter innovativ gestalten“ (MUTIG).[12] Im Rahmen des Projektes erfolgte eine differenzierte Analyse der Wohnsituation von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung im Zuständigkeitsbereich des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL).

Das Forschungsprojekt analysierte personenbezogene Verwaltungsdaten des LWL und führte Primärerhebungen in Pflegeeinrichtungen nach SGB XI durch.

Es zeigte sich, dass sich Wohnsettings, in denen Menschen mit geistiger Behinderung leben, differenziert haben. Mehr als jede bzw. jeder Dritte wohnt bei Angehörigen, jede bzw. jeder Vierte in einem Wohnheim in der Gemeinde. Insgesamt sei der Prozentanteil der Erwachsenen in Komplexeinrichtungen zurückgegangen, im Alter nehme er aber wieder zu. Die Bedeutung von Pflegeeinrichtungen nehme im Alter außerdem zu. Mehr als jeder fünfte Mensch mit geistiger Behinderung über 65 Jahren lebe in einer Pflegeeinrichtung.

Vor diesem Hintergrund formulierte Thimm den Appell, dass die in den letzten Jahren entstandenen differenzierten Wohnangebote der Eingliederungshilfe allen Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig von Alter oder Hilfebedarf offenstehen sollten.

Ebenfalls von dem Projekt MUTIG berichtete Prof. Dr. Friedrich Dieckmann (Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen). Im Fokus seines Vortrags standen Umzüge älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Es wurde untersucht, wie häufig ältere Menschen mit geistiger Behinderung umziehen, von wo sie wohin ziehen und inwieweit sie sowie ihre Angehörigen – insbesondere bei Umzügen in stationäre Pflegeeinrichtungen – in Umzugsentscheidungen einbezogen werden.

Dabei wurde herausgefunden, dass jedes Jahr etwa 5% des Personenkreises ihre Wohnung wechseln. Sie ziehen dabei häufig in ein ähnliches Wohnsetting um, einige in stärker institutionalisierte, andere aber auch im Alter in eigenständigere Wohnformen.

Es sei festzustellen, dass fehlende Beratung und Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung sowie deren Angehörigen Barrieren für proaktive Umzugsentscheidungen darstellen. Zudem werde die Option eines Verbleibens in der vertrauten Wohnumgebung durch mangelnde konzeptionelle Vorbereitungen der Dienste und Einrichtungen der Eingliederungshilfe verhindert.

Auch hätten Leistungserbringer ein wirtschaftliches Interesse an der Auslastung der eigenen Pflegeeinrichtungen, was zu einer Einbindung in die Versorgungskette des Leistungserbringers führe. So stelle sich für die Zukunft auch die Frage, wie anbieterinterne Versorgungsketten überwunden werden können und wie man Institutionen dabei unterstützen könne, dieses Paradigma zu überwinden.

Wolfgang Stadel (Hochschule Fulda) richtete in seinem Vortrag den Blick auf die subjektive Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung auf ihre Alterungsprozesse und die damit verbundenen Fragen. In seiner Dissertation arbeitete er mit qualitativen Interviews subtile Machtprozesse heraus, die Fragen nach Teilhabe- und Partizipationschancen aufwerfen.

Er stellte dazu Auszüge aus Interviews vor, die zusammenfassend eine große Abhängigkeit der interviewten Menschen von ihren gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern und den Diensten bzw. Einrichtungen, die sie beim Wohnen unterstützen, aufzeigen.

Aus Perspektive der Leistungserbringer in der Behindertenhilfe referierte Dr. Ute Kahle über Herausforderungen und Perspektiven der Transformationsprozesse von Organisationen der Behindertenhilfe.[13]

Kahle identifizierte im Rahmen ihrer Dissertation verschiedene Sichtweisen auf Inklusion, die man in theologisch, soziologisch und pädagogisch unterteilen könne. Die UN-BRK liefere Überschriften, wie Inklusion gelingen könne, aber keine konkreten Inhalte. Diese müssten auf institutioneller Ebene erarbeitet werden. Dabei entfalten Organisationen der Behindertenhilfe grundsätzlich eine exkludierende Wirkung, zu deren Überwindung einerseits Initiativen der Organisationen wie auch die Akteure des Sozialraums maßgeblich beitragen könnten.

Dr. Caren Keeley und Timo Dins (beide Universität zu Köln) stellten unter dem Titel „Teilhabe von Menschen mit komplexer Behinderung durch professionelle Unterstützung und Begleitung“ Ergebnisse ihres bereits abgeschlossenen Forschungsprojektes „Teil-sein & Teil-haben“[14] vor. Anhand von 15 Einzelfällen wurden drei verschiedene Perspektiven zusammengeführt:

  1. Welche Bedürfnisse haben Menschen mit einer komplexen Behinderung?
  2. Über welche Fachkompetenzen müssen Fachkräfte verfügen, um Teilhabe zu ermöglichen?
  3. Welcher Strukturen und Rahmenbedingungen bedarf es für eine gelungene Teilhabe?

Generell könne festgestellt werden, dass es bei Menschen mit komplexen Behinderungen zwar einen Mehrbedarf aufgrund von Gesundheitsproblemen gibt. Davon abgesehen unterschieden sich ihre Bedürfnisse aber nicht fundamental von denen anderer Menschen. Die Realisierung ihrer Bedürfnisse sei nur aufwendiger. Strukturelle Bedingungen erschwerten es dem Personal, die Einrichtungsbewohnerinnen und -bewohner bedürfnisorientiert zu unterstützen. An die Fachkompetenzen des Personals würden hohe Anforderungen gestellt. Die Mitarbeitenden müssten über breites Fachwissen verfügen und sich professionalisieren. Es bestehe deshalb Bedarf an Weiterbildungsprogrammen zur Befähigung der Fachkräfte. Komplexe Beeinträchtigungen müssten in der Teilhabeplanung stärker berücksichtigt werden.

Dr. Marie-Theres Modes (Universität Kassel) trug zum Thema „Teilhabechancen oder Teilhabebegrenzung? Geschlecht in der pädagogischen Begleitung von Erwachsenen mit hohem Unterstützungsbedarf“ vor. Sie nahm eine intersektionale Perspektive auf Behinderung und Geschlecht ein, d. h. es handelt sich um zwei gleichzeitig vorhandene Ungleichheitskategorien mit Wechselwirkungen. Modes führte leitfadengestützte Interviews und offene Gespräche mit zwei Heilerziehungs-pflegerinnen. Diese arbeiten in einer stationären Wohngruppe bzw. in einer Tagesförderstätte.

Modes berichtete von ihrer Beobachtung, dass Geschlechtskategorien für das Personal handlungsleitend sind, d. h. pädagogische Angebote werden daran ausgerichtet, um Geschlechterdifferenz herzustellen. Orientiert werden die Handlungen an den eigenen Vorstellungen von Geschlecht. In den Augen des Personals sei eine eindeutige Geschlechtsidentität wichtig für gelungene Teilhabe. Diese Erkenntnis müsse stärker reflektiert und in der pädagogischen Ausbildung thematisiert werden. Oft würden bei kognitiv beeinträchtigten Menschen stellvertretende Handlungen vorgenommen. Das Thema Geschlecht werde bei diesem Personenkreis jedoch eher tabuisiert. Eine geschlechtersensible unterstützte Kommunikation müsse gefördert werden. Wie kann dies angesichts der strukturellen Mängel in Einrichtungen (wenig Privatsphäre, Personalmangel, Fluktuation) gelingen? Interdisziplinäre und partizipative Forschung zum Thema Geschlechtsidentität im Teilhabeprozess sei hier hilfreich.

Prof. Dr. Christian Bleck und Laura Schultz (beide Hochschule Düsseldorf) berichteten über ihr noch laufendes Forschungsprojekt „Selbstbestimmt teilhaben in Altenpflegeeinrichtungen (STAP)“[15]. Dem Projekt liege ein „offener“ Teilhabebegriff zugrunde. Es gehe um Mitbestimmung und gleichberechtigten Zugang. Er sei menschenrechtsbasiert und am Normalisierungsprinzip orientiert. Teilhabe sei in der Altenpflege ein noch relativ unbekanntes Konzept. Forschungsfragen waren: Wie können Wünsche und Bedürfnisse festgestellt und verwirklicht werden? Wie wird das Recht auf Teilhabe umgesetzt? Vorgegangen wurde nach einem Mixed-Method-Design, d. h. zunächst mit qualitativen (48 Interviews, Fokusgruppen, teilnehmende Beobachtung) und später mit quantitativen Methoden (Online-Befragung, n = 135). Zudem wurde eine Good-Practice-Analyse bei preisgekrönten Einrichtungen vorgenommen. Zur Reflexion der Ergebnisse wurde ein wissenschaftlicher Beirat eingesetzt.

Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört die Identifikation von Einflussfaktoren auf die Teilhabe der Bewohnerinnen und Bewohner von Altenpflegeeinrichtungen seitens der Mitarbeitenden, der Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungsstrukturen und -prozesse sowie im Hinblick auf die Förderung selbstbestimmter Teilhabe.

Bleck und Schultz gehen davon aus, dass Teilhabe z. B. durch personbezogene Faktoren der Bewohnerinnen und Bewohner, die Organisationskultur und die Arbeitskultur der Mitarbeitenden beeinflusst wird. Von den Mitarbeitenden wurde berichtet, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner in der Regel nicht oder kaum zu ihren Wünschen äußern („Kriegsgeneration“[16]). Es wirke förderlich auf die Teilhabe, wenn z. B. Angehörige befragt werden, die betreffende Person genau beobachtet wird, die Biografie bekannt ist, immer wieder Vorschläge (Trial-and-Error) unterbreitet werden und gute Beziehungen zwischen Personal und Bewohnerinnen und Bewohnern bestehen. Als hemmende Faktoren erwiesen sich beispielsweise gesundheitliche Einschränkungen, übertriebene Bescheidenheit oder Anpassungsschwierigkeiten nach Einzug in die Einrichtung. Über 50% des befragten Personals stimmte der Notwendigkeit einer systematischen Erfassung von Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohnern vollkommen zu (Gremien, Übergabegespräche, Pflegeplanung).

Führungskräfte seien in der Pflicht, eine Teilhabeorientierung vorzuleben und zu kommunizieren. Es bedürfe einer bereichsübergreifenden, teilhabeorientierten Organisationskultur. Eine kritische Schnittstelle bestehe insbesondere zwischen Pflege und sozialem Dienst. Zudem sollten Teilhabewünsche bei den vorhandenen Planungsinstrumenten (z. B. Pflegeprozessplanung) durchgängiger erfasst sowie im gesamten Team kommuniziert werden.

V. Fazit

An den zwei Kongresstagen Ende September 2019 in Berlin wurden vielfältige Aspekte der Teilhabeforschung diskutiert. Es beteiligten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, Diskurse und Forschungsfelder, Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen und Expertinnen und Experten in eigener Sache sowie Akteure aus Politik und Praxis. Es wurde darüber nachgedacht, was Teilhabeforschung bedeutet, welche Aufgaben sie hat, welche Theorien und Methoden zur Anwendung kommen und in welche Richtung sie sich in den kommenden Jahren entwickeln wird bzw. soll. Vielfach wurde der Wunsch formuliert, Folgeveranstaltungen durchzuführen. Um eine Weiterentwicklung der Teilhabeforschung und eine gemeinsame Verständigung darüber zu ermöglichen, scheint dies auch notwendig zu sein. Ein wichtiger Impuls wird dabei von partizipativ angelegten Forschungsprojekten ausgehen.

Beitrag von Michael Beyerlein (LL.M.), René Dittmann (LL.M.), beide Universität Kassel; Cindy Gast-Schimank (LL.M.), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Lea Mattern (B.A.) und Dr. Tonia Rambausek-Haß, beide Humboldt-Universität zu Berlin

Fußnoten

[1] https://www.teilhabeforschung2019.de/index.html ; zuletzt abgerufen am 13.01.2020.

[2] Bundestags-Drucksache, 19/13399; zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens siehe http://dipbt.bundestag.de/dip21.web/searchDocuments/documentData_detail_vo.do;jsessionid=7CC04FE8585DBDD345B662E2EC8DD829.dip21, zuletzt abgerufen am 11.10.2019.

[3] Der Endbericht ist abrufbar unter https://www.lvr.de/media/wwwlvrde/soziales/menschenmitbehinderung/wohnen/dokumente_232/peer_counseling/170717_Peer_Counseling_Endbericht.pdf, zuletzt abgerufen am 10.10.2019; Ausführungen zur Qualifizierung der Peers finden sich in Gliederungspunkt 3., S. 61ff.

[4] Eine Zusammenfassung der Studie ist abrufbar unter: https://seeletrifftwelt.de/wp-content/uploads/2019/05/Broschuere-Barrierefrei_Mailversion.pdf (3,17 MB); zuletzt abgerufen am 01.10.2019.

[5] Zu den rechtlichen Vorgaben der und den Erfahrungen mit Barrierefreiheit im Berufsleben siehe z.B.: Welti: Zur praktischen Bestimmung der rechtlich gebotenen Barrierefreiheit; Forum D, Beitrag D18-2013 unter www.reha-recht.de; 05.07.2013; Düwell: Barrierefreie Arbeitsstätten – Änderung der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV 2015); Forum B, Beitrag B3-2015 unter www.reha-recht.de; 25.03.2015; Krug: Barrierefreiheit in der beruflichen Rehabilitation am Beispiel der Berufsbildungswerke; Forum E, Beitrag E6-2015 unter www.reha-recht.de; 27.08.2015; Hahn: Barrierefreiheit in der Arbeitswelt – Zusammenfassung der Online-Diskussion im moderierten „Forum Fragen – Meinungen – Antworten zum Rehabilitations- und Teilhaberecht“ (16. Februar bis 11. März 2016); Beitrag D23-2016 unter www.reha-recht.de; 21.06.2016.

[6] Basierend auf dem von Prof. Dr. Mathilde Niehaus geleiteten und von Dr. Andreas Glatz und Marie Sophia Heide bearbeiteten Forschungsprojekt „Schwerbehindertenvertretungen: Allianzpartner in Netzwerken. Faktoren für gelingende Kooperationen zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“. Der Abschlussbericht ist abrufbar unter: https://www.boeckler.de/pdf_fof/101524.pdf (736 KB); zuletzt abgerufen am 01.10.2019.

[7] Verwiesen wird dazu auf den Handlungsleitfaden „Von Anfang an zusammen. Handlungsleitfaden für Schwerbehindertenvertretungen in Netzwerken“, abrufbar unter https://www.boeckler.de/pdf/p_mbf_praxis_2019_22.pdf (464 KB); zuletzt abgerufen am 01.10.2019.

[8] Zu den Aufgaben und Möglichkeiten der Schwerbehindertenvertretung ist eine Vielzahl von Fachbeiträgen im Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht erschienen, wie beispielsweise: Schuster: Die Schwerbehindertenvertretung als betrieblicher Interessenvertreter für Menschen mit Beeinträchtigungen – Aufgaben, Rechte und Pflichten;  Beitrag B14-2014 unter www.reha-recht.de; 25.09.2014; Kohte/Liebsch: Die Stärkung der Schwerbehindertenvertretung im Bundesteilhabegesetz; Beitrag D54-2016 unter www.reha-recht.de; 25.11.2016; Schachler/Schreiner: Mitbestimmung light? Die Reform der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung durch das Bundesteilhabegesetz – Teil I: Mitbestimmungsrechte und Ressourcenstärkung; Beitrag B2-2017 unter www.reha-recht.de; 26.04.2017.

[9] Zusammen mit Dr. Alexander Meschnig und unter Projektleitung von Prof. Dr. Ernst von Kardorff arbeitet Dr. Sebastian Klaus im Projekt „Wege psychisch Kranker in die EM-Rente und Rückkehrperspektiven aus der EM-Rente in Arbeit: Ansatzpunkte zu frühzeitiger Intervention in biografische und krankheitsbezogene Verlaufskurven (WEMRE)“, s. https://www.reha.hu-berlin.de/de/lehrgebiete/rhs/forschung/wege-psychisch-kranker-in-die-em-rente-und-rueckkehrperspektiven-aus-der-em-rente-in-arbeit-ansatzpunkte-zu-fruehzeitiger-intervention-in-biografische-und-krankheitsbezogene-verlaufskurven-wemre ; zuletzt abgerufen am 30.10.2019.

[10] Vgl. Mittag: Die Umsetzung des Grundsatzes „Reha vor Rente“ in der Domäne der Deutschen Rentenversicherung – Empirische Analyse der Zugänge zu Erwerbsminderungsrenten aus den Jahren 2005 bis 2009; Beitrag A14-2018 unter www.reha-recht.de; 10.09.2018.

[11] https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitswelt-und-Arbeitsschutz-im-Wandel/Organisation-des-Arbeitsschutzes/Wirtschaftlichkeit/Praesentismus.html; zuletzt abgerufen am 02.12.2019.

[12] Der erste Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Modelle für die Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter innovativ gestalten“ (MUTIG) ist unter https://www.lwl.org/spur-download/pdf/mutig.pdf abrufbar (11,8 MB), zuletzt abgerufen am 13.01.2020.

[13] Die gleichnamige Dissertation wurde dieses Jahr veröffentlicht. Siehe https://www.dvfr.de/rehabilitation-und-teilhabe/literatur-und-zeitschriftentipps/fachbuecher/inklusion-teilhabe-und-behinderung-herausforderungen-und-perspektiven-der-transformationsprozesse-von-organisationen-der-behindertenhilfe-aus-institutioneller-sicht/; zuletzt abgerufen am 13.01.2020.

[14] Das Projekt wurde von der Stiftung Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen gefördert. Weitere Kooperationspartner waren der Verein KuBus e. V. und acht Einrichtungsträger der freien Wohlfahrtspflege. Weitere Informationen finden sich unter: https://www.hf.uni-koeln.de/38207; zuletzt abgerufen am 15.10.2019.

[15] Gefördert wurde das Projekt von der Stiftung Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen. Kooperationspartner sind die Caritas (Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e. V.) und Dr. Harry Fuchs. Weitere Informationen finden sich hier: https://soz-kult.hs-duesseldorf.de/forschung/forschungsaktivitaeten/forschungsprojekte/stap; zuletzt abgerufen am 16.10.2019.

[16] Diese Generation sei dazu erzogen worden, dass man Beschwerden besser für sich behält.


Stichwörter:

Aktionsbündnis Teilhabeforschung, Chancengleiche Teilhabe, Teilhabeforschung, Partizipation


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