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In diesem Beitrag setzt sich Leonard Seidel mit dem neuen Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG) auseinander, das bedeutende Änderungen im Berufsbildungsgesetz (BBiG) mit sich gebracht hat. Der Fokus liegt dabei auf den zentralen Änderungen durch die neu geschaffenen Möglichkeiten des digitalen mobilen Ausbildens und das neu eingeführte Validierungsverfahren. Der Beitrag analysiert mögliche Auswirkungen der Reform auf den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur beruflichen Bildung und zum allgemeinen Arbeitsmarkt.
Der vorliegende Beitrag wurde bereits leicht abgewandelt in der Zeitschrift RP Reha 1/2025 erstveröffentlicht. Wir danken dem Universitätsverlag Halle-Wittenberg für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
(Zitiervorschlag: Seidel: Relevante Änderungen des Berufsbildungsgesetzes durch das Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG) aus Sicht von Menschen mit Behinderungen; Beitrag D5-2025 unter www.reha-recht.de; 22.07.2025)
Am 19. Juli 2024 wurde das BVaDiG verkündet. Es ist ein typisches Artikelgesetz, das gleich mehrere bestehende Gesetze ändert. In Artikel 1 und 2 des BVaDiG finden sich wesentliche Änderungen des Berufsbildungsgesetzes (BBiG), in Artikel 4 BVaDiG wesentliche Änderungen der Handwerksordnung (HwO) und in Artikel 5 BVaDiG einige Änderungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG).
Das BBiG (BGBl. I S. 1112) trat am 14. August 1969 in Kraft. Es wurde seitdem, etwa 2005 durch eine komplette Neufassung (BGBl. I S. 931), immer wieder umfangreich reformiert. Die Reform des Berufsbildungsrechts aus dem Jahr 2005 sollte als Bestandteil des Prozesses zur Stärkung von Bildung, Wissenschaft und Forschung dienen, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Ziel des Gesetzgebers war es, jungen Menschen beim Einstieg in die Berufswelt die volle berufliche Handlungsfähigkeit in einem breit angelegten Tätigkeitsbereich für qualifizierte Fachkräfte zu vermitteln, die sie befähigt, den sich stetig wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden und damit den Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben zu legen.[1] Zugleich sollte mit diesen Änderungen ein wichtiger Baustein für die Sicherung und die Qualität des Wirtschaftsstandortes Deutschland geschaffen werden.[2] Auch das neue BVaDiG reiht sich in diese Zielvorgaben ein. Der Gesetzgeber reagiert darauf, dass heute in vielen Bereichen Betriebe immer größere Schwierigkeiten haben, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen.[3]
Das BVaDiG knüpft an die Gesetzesnovellierungen aus dem Jahr 2020 durch das Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung an.[4] Im Zuge dessen wurden im BBiG und in der HwO bereits umfassende Änderungen unternommen.[5]
Zwei zentrale Themen waren von der Änderung 2020 noch nicht erfasst und waren nun Gegenstand des BVaDiG. Das betrifft zum einen
sowie
Dieser Beitrag befasst sich speziell mit den Änderungen, die sich auf den Zugang von Menschen mit Behinderungen zur Berufsbildung auswirken könnten.[7] Menschen mit Behinderungen sind häufiger als Menschen ohne Beeinträchtigung auf ein flexibles duales Ausbildungssystem angewiesen. Diesen Flexibilisierungsbedarfen kommt das BBiG entgegen, indem etwa die zuständigen Stellen bei Einvernehmlichkeit der Parteien die Möglichkeit haben, hinsichtlich der zeitlichen Gliederung gem. § 8 BBiG dem behinderten Auszubildenden, der aufgrund seiner Behinderung oder Erkrankung nur mit einer täglich reduzierten Stundenanzahl arbeiten kann, die tägliche oder wöchentliche Ausbildungszeit entsprechend zu verkürzen.[8]
Art. 24 Abs. 5 der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet Deutschland als Vertragsstaat, das Recht auf Berufsbildung, als Ausfluss des Rechts auf Bildung und Arbeit[9], durch ein inklusives Bildungssystem in allen Bereichen zu verwirklichen.[10] Insofern gilt es, die bestehende Gesetzeslage sowie Gesetzesänderungen hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht zu untersuchen.
Eine wesentliche Änderung betrifft den § 28 BBiG. Mit dem BVaDiG wurde § 28 Abs. 2 BBiG um zwei weitere Sätze ergänzt. Im Kern wird klargestellt, dass Ausbildungsinhalte in angemessenem Umfang auch digital, also mobil und ohne gleichzeitige Anwesenheit der Auszubildenen und ihrer Ausbilder, vermittelt werden können. Diese Neuregelung trifft auf Zustimmung.[11]
Der Gesetzgeber will die Attraktivität von Ausbildungsplätzen steigern und Auszubildende schon mit einer zeitgemäßen Ausbildung auf ein späteres Berufsleben mit mobiler Arbeit vorbereiten.[12]
Den erhöhten Bedarf an flexiblen Ausbildungsbedingungen für Menschen mit Behinderungen berücksichtigt § 65 Abs. 1 S. 1 BBiG (ebenso § 42 l HwO) in anerkannten Ausbildungsberufen seit seiner Implementierung dadurch, dass von den zuständigen Stellen (vgl. dazu die Aufzählung in § 71 BBiG) die „besonderen Verhältnisse behinderter Menschen“ berücksichtigt werden sollen.[13] Zu dieser Rücksichtnahmepflicht gehört u. a. die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung oder die Dauer von Prüfungszeiten anzupassen, Hilfsmittel oder die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen Dritter zuzulassen, damit die Teilhabehindernisse für Auszubildende mit Behinderungen ausgeglichen werden können. Damit sollen Möglichkeiten geschaffen werden, in einem staatlich anerkannten, regulären Ausbildungsberuf ausgebildet zu werden und mit einem entsprechend qualifizierten Berufsabschluss ohne besonderen Zeugnisvermerk abschließen zu können.[14] Dieser Grundsatz kann nun durch die Ergänzung um die mobile Ausbildung in § 28 Abs. 2 S. 2 BBiG an Geltungskraft gewinnen.
Der § 65 Abs. 1 S. 2 BBiG bezieht sich, ausweislich seines Wortlauts, bisher lediglich auf die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung. Durch die gesetzliche Verankerung der mobilen Ausbildung gewinnt auch die örtliche Komponente der Ausbildung an Bedeutung.
Durch die mobile Ausbildung können Nachteile von Menschen mit Behinderungen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, zumindest verringert werden. Insofern ist diese Änderung zu begrüßen, da zu erwarten ist, dass Menschen mit Behinderungen infolge mobiler Ausbildungsangebote mit weniger Barrieren beim Zugang zu Ausbildungsinhalten konfrontiert werden.
Zu beachten bleibt allerdings, dass auch digitale Vermittlungsformate für alle Menschen gleichermaßen zugänglich gemacht werden müssen und sich hier andere Herausforderungen an die Barrierefreiheit stellen als bei der Lehre in Präsenz.[15]
a) Beteiligung des Betriebsrats
Für eine möglichst barrierefreie betriebliche mobile Berufsausbildung können sich Betriebsräte einsetzen, etwa indem sie ihr Mitbestimmungsrecht bei der „Durchführung von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung“ aus § 98 Abs. 1 BetrVG[16] entsprechend nutzen. Der Begriff der „Durchführung“ ist abzugrenzen von dem der „Einführung“ von Maßnahmen der betrieblichen Berufsbildung in § 97 BetrVG, über die mit dem Betriebsrat grundsätzlich lediglich zu beraten ist.[17] Während es bei der Einführung um die Frage geht, ob eine bestimmte Berufsbildungsmaßnahme überhaupt eingeführt werden soll, betrifft die Durchführung alle Fragen, die sich nach einer Einführung stellen.[18]
Inwiefern bei der mobilen Ausbildung die Barrierefreiheit berücksichtigt werden muss, betrifft Fragen nach Einführung der mobilen Ausbildung und deshalb die Durchführung der betrieblichen Berufsbildung. Führen Arbeitgeber die mobile Berufsausbildung ein, können Betriebsräte insofern bei der konkreten Ausgestaltung mitbestimmen. Hierbei können sie wichtige Aspekte der Barrierefreiheit stark machen. Werden sich Betriebsrat und Arbeitgeber nicht einig, entscheidet gem. § 98 Abs. 4 BetrVG die Einigungsstelle, deren Spruch die Einigung ersetzt.
b) Empfehlungen des BIBB
Die Ergänzung des § 28 Abs. 2 S. 3 BBiG durch das BVaDiG ermöglicht es dem Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Empfehlungen zur näheren Ausgestaltung bezüglich des digitalen mobilen Ausbildens zu beschließen. Die aktuelle Empfehlung des Hauptausschusses des BIBB vom 20. Juni 2023 zum planmäßigen „Mobilen Ausbilden und Lernen“ enthält bisher keinerlei Inhalte, die die Barrierefreiheit der mobilen Ausbildung betreffen.[19] Insoweit besteht noch erheblicher Anpassungsbedarf.
Zentral für die Änderungen des BBiG durch das BVaDiG sind die neuen Regelungen des 6. Abschnitts des BBIG, §§ 50a–50e BBiG. Eingeführt wurde die „Validierung“, ein Verfahren zur Feststellung der erworbenen individuellen beruflichen Handlungsfähigkeit im BBiG und in der HwO, unabhängig von einem formalen Berufsausbildungsabschluss. Intention des Gesetzgebers war es, substanzielle berufliche Kompetenzen, die unabhängig von einem formalen Berufsausbildungsabschluss erworben wurden, sichtbar und verwertbar zu machen und damit Berufsbiografien zu honorieren sowie Anschlüsse im System der beruflichen Bildung für diese Personengruppe zu schaffen.[20] Das Validierungsverfahren basiert auf Erfahrungen aus den vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMBF) geförderten Projekten ValiKom und ValiKom Transfer.[21]
Dem Grundsatz des neuen § 50b Abs. 1 BBiG nach stellt die zuständige Stelle auf Antrag die individuelle berufliche Handlungsfähigkeit des Antragstellers oder der Antragstellerin am Maßstab eines vom Antragsteller oder von der Antragstellerin zu bezeichnenden anerkannten Ausbildungsberufs (Referenzberuf) in einem Feststellungs- oder Ergänzungsverfahren fest und bescheinigt die individuelle berufliche Handlungsfähigkeit, wenn diese überwiegend oder vollständig mit der für die Ausübung des Referenzberufs erforderlichen beruflichen Handlungsfähigkeit vergleichbar ist.
Antragsteller des Verfahrens kann nach § 50b Abs. 2 BBiG sein, wer mindestens 25 Jahre alt ist, seinen Wohnsitz in Deutschland hat oder die notwendige Berufstätigkeit mindestens zur Hälfte im Inland absolviert hat und im entsprechenden Referenzberuf keinen Berufsabschluss vorweisen kann und auch nicht in einem Berufsausbildungsverhältnis des Referenzberufs steht.
Antragstellende werden zum Feststellungsverfahren gem. § 50b Abs. 3 BBiG zugelassen, wenn sie
Für Menschen mit Behinderungen enthält der neu eingeführte § 50d BBiG spezifische Erweiterungen für das Validierungsverfahren.
a) Vorrang der behinderungsgerechten Ausbildung gem. §§ 64 ff. BBiG
Die §§ 64 ff. BBiG, die die behinderungsgerechte Ausbildung ermöglichen, gelten im Verhältnis zu § 50d BBiG vorrangig.[22] Das bedeutet insbesondere, dass Menschen mit Behinderungen soweit möglich, weiterhin vorrangig ihr Recht auf Erwerb eines Berufsabschlusses in einem anerkannten Ausbildungsberuf gewährt wird.[23]
b) Öffnung der Validierungsvoraussetzungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen
Nach § 50d Abs. 1 Nr. 1 BBiG sollen die Regelungen der §§ 50b, 50c BBiG insofern gelten, dass die individuelle berufliche Handlungsfähigkeit am Maßstab eines Referenzberufs auch dann festgestellt und bescheinigt wird, wenn diese nicht überwiegend oder vollständig vergleichbar mit der für die Ausübung des Referenzberufs erforderlichen beruflichen Handlungsfähigkeit ist. Liegt ein solcher Fall vor, weist der Validierungsbescheid eine teilweise Vergleichbarkeit aus. Deshalb beziehen sich die Feststellung und Bescheinigung in einem solchen Fall lediglich auf die im Antrag vorgetragenen bzw. in der Feststellung nachgewiesenen, für die Ausübung des Referenzberufs erforderlichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten.[24]
§ 50d Abs. 2 BBiG regelt, dass im Fall einer teilweisen Vergleichbarkeit sichergestellt werden muss, dass die festgestellten, für die Ausübung des Referenzberufs erforderlichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten zusammen dem Referenzberuf eindeutig zugeordnet werden können und eine berufliche Tätigkeit im Tätigkeitsbereich des Referenzberufs ermöglichen. Der Gesetzgeber erhofft sich von dieser Regelung eine Verbindung zwischen einer möglichst nachhaltigen Integration mit der Notwendigkeit der berufsbildungsrechtlichen Aussagekraft eines Bescheides auf Grundlage des BBiG.[25] § 50d Abs. 2 BBiG zielt auf verbesserte Teilhabechancen, ohne dass durch die eventuelle Nutzung des Verfahrens für kleinste Kompetenzpakete ohne klaren Berufsbezug der Gesetzeszweck des BBiG, berufliche Handlungsfähigkeit zu sichern und berufsorientiert abzubilden, gefährdet werden soll.[26]
Nach § 50d Abs. 1 Nr. 2 lit. a BBiG genügt im Rahmen des § 50b Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BBiG eine Tätigkeit im Tätigkeitsbereich des Referenzberufs, die die im Antrag bezeichneten, für die Ausübung des Referenzberufs erforderlichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten umfasst. Begrüßenswert ist, dass laut dem Gesetzesentwurf dazu auch einschlägige Tätigkeiten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) gehören sollen.[27] Dies könnte ein Impuls für einen erfolgreichen Übergang von einer WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt begründen.
c) Nachweis der Vergleichbarkeit mit einer Referenzausbildung
Auf Antrag weist der Bescheid zusätzlich zur Vergleichbarkeit mit dem Referenzberuf eine überwiegende oder vollständige Vergleichbarkeit mit einer Referenzausbildung nach § 66 BBiG aus, wenn sich die Ausbildungsregelung am gewählten Referenzberuf orientiert und entsprechend einer berufsspezifischen Musterregelung des Hauptausschusses des BBiB getroffen wurde.[28] Eine grundsätzliche Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf eine Berufsausbildungsregelung aus § 66 BBiG als Referenzberuf kommt dabei nach dem Wortlaut der Vorschrift und dem gesetzgeberischen Willen nicht in Betracht.[29] Nur durch die vorgesehene Regelung könne nach dem Verständnis des Gesetzgebers ein bundeseinheitliches Ergebnis, das heißt die Vergleichbarkeit mit dem Referenzberuf selbst, festgestellt werden.[30]
Fachpraktiker-Ausbildungen im Sinne von § 66 BBiG sind Ausbildungsgänge mit reduziertem Theorieteil, die an die spezifischen Bedarfe von Menschen mit Behinderungen angepasst sind und den Qualitätsstandards rechtlicher Vorgaben folgen.[31] Einerseits bietet die sogenannte „Fachpraktiker-Ausbildung“ Potenzial für Menschen mit Behinderungen, für die nach Art und Schwere der Behinderung eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf nicht in Betracht kommt. Andererseits muss beachtet bleiben, dass hierdurch „Sonderwege“ für Menschen mit Behinderungen entstehen.[32] Es besteht die Gefahr, dass dieses Parallelsystem mehrheitlich nicht zu anerkannten Abschlüssen führt, die einen Übergang in den regulären Arbeitsmarkt ermöglichen.[33]
Wenn eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf nach § 65 BBiG wegen Art und Schwere der Behinderung nicht in Betracht kommt, dann verdient die betriebliche Fachpraktiker-Ausbildung Vorrang. Dies ergibt sich einfachgesetzlich insbesondere aus §§ 2 Abs. 1 BBiG, 51 Abs. 1 S. 1 SGB IX, 117 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III in Zusammenschau mit den völkerrechtlichen Regelungen vor allem Art. 27 Abs. 1 UN-BRK, Art. 15 Nr. 1 ESC und Art. 15 rESC.[34] Dieser normativ begründete Vorrang wird durch eine aktuelle Studie des DGB bestärkt, wonach junge Menschen mit Behinderungen deutlich bessere Chancen auf eine Beschäftigung haben, wenn sie im Unternehmen ausgebildet werden.[35] Mit 74 % lag die Eingliederungsquote im Jahr 2023 nach einer begleiteten betrieblichen Ausbildung deutlich über der Eingliederungsquote nach einer außerbetrieblichen Ausbildung (65 %) oder einer Ausbildung im Berufsbildungswerk (60 %).[36]
d) Verfahrensbegleitung, § 50d Abs. 3 BBiG
Der spezifische Mehrwert des Validierungsverfahrens für Menschen mit Behinderungen wird auch davon abhängen, wie barrierefrei es in der Praxis sein wird. Für den barrierefreien Zugang spielen vor allem auch die Anpassungsspielräume und Differenzierungsmöglichkeiten bei der Fremdbewertung eine wesentliche Rolle.[37] Hierbei kann die Verfahrensbegleitung aus § 50d Abs. 3 BBiG mit entsprechendem Fachwissen unterstützen, indem sie auf Antrag des Antragstellers zur Auswahl der Feststellungsinstrumente Stellung nimmt (§ 50d Abs. 3 Nr. 1 BBiG) und selbst an der Durchführung der Feststellung teilnimmt (§ 50d Abs. 3 Nr. 2 BBiG). Nach gesetzgeberischem Willen ist die Stellungnahme der Verfahrensbegleitung in die Auswahl der Feststellungsinstrumente miteinzubeziehen.[38] Hierdurch können Flexibilisierungsbedarfe von Menschen mit Behinderungen in das Verfahren integriert werden.
e) Kritik an fehlender Mindestaltersgrenze
Die in § 50b Abs. 2 Nr. 4 BBiG vorgesehene Mindestaltersgrenze von 25 Jahren war im Regierungsentwurf noch nicht vorgesehen.[39] Das wurde kritisch gesehen und für das allgemeine Validierungsverfahren im Zuge der parlamentarischen Debatte ergänzt. Die Kritik am Fehlen einer Altersuntergrenze für das Validierungsverfahren unterstrich allerdings den Schutz einer Mindestaltersregelung gerade auch für die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.[40] Für die besonderen Regelungen zum Validierungsverfahren sieht § 50d Abs. 1 Nr. 3 BBiG ausdrücklich vor, dass für Menschen mit Behinderungen (§ 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX) die Altersgrenze von 25 Jahren nicht gilt. Insoweit ist die ursprüngliche Kritik nicht ausgeräumt. Um eine Unterminierung der Berufsausbildung zu verhindern und klarzustellen, dass auch in Zukunft für junge Menschen der Abschluss einer Berufsausbildung absolut vorrangig sein soll, müsste das Mindestalter von 25 Jahren auch für Menschen mit Behinderungen gelten.[41]
Menschen mit Behinderungen sind keine homogene Zielgruppe, weswegen der individuelle Unterstützungsbedarf unterschiedlich ist. Diesen Umstand muss auch das BBiG berücksichtigen. Dass das BBiG nun auch die mobile Ausbildung in § 28 Abs. 2 S. 2 BBiG normiert, ist aus Sicht von Menschen mit Behinderungen, die behinderungsbedingt in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind, ein Fortschritt. Wichtig ist nun vor allem, die Potenziale der mobilen Ausbildungsbestandteile durch die Ausstattung mit barrierefreien Arbeitsmitteln auch zu nutzen. Insoweit kann und muss aus den Erfahrungen mit den Vor- und Nachteilen des mobilen Arbeitens gelernt werden. Es dürfen erst gar nicht dieselben Fehler wie bei der heute inzwischen in vielen Betrieben und Dienststellen selbstverständlich praktizierten mobilen Arbeit gemacht werden. Behinderungsbedingte Bedarfe müssen bei der Einführung und Organisation mobiler (Aus-)Bildung von Beginn an mitgedacht werden.
Die formale Anerkennung beruflicher Kompetenzen durch das neu gesetzlich verankerte Validierungsverfahren nach den §§ 50b ff. BBiG birgt für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt bedeutsame Chancen, etwa indem Zeiten in einer WfbM bei der Validierung berücksichtigt werden. Hierdurch könnten neue Impulse für gelingende Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gesetzt werden.
Inwieweit positive Validierungsbescheide substanzielle berufliche Kompetenzen verwertbar machen können, wird auch davon abhängen, wie Arbeitgeber dieses Zeugnis der beruflichen Kompetenzen annehmen. Um mögliche vorteilhafte Wirkungen des Verfahrens potenzieren zu können, müssen relevante Personengruppen davon erfahren. Hierbei können betriebliche Akteure wie der Betriebsrat oder die Schwerbehindertenvertretung eine wichtige Rolle spielen. Außerhalb des Betriebs könnte die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) Menschen mit Behinderungen auf das neue Validierungsverfahren aufmerksam machen.
Beitrag von Leonard Seidel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
[1] Bundestags-Drucksache 15/3980, S. 38.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 1.
[4] BBiMoG (Berufsbildungsmodernisierungsgesetz), v. 12.12.2019, BGBl. I, S. 2522 ff., in Kraft seit 01.01.2020.
[5] Es wurden Fortbildungsstufen und neue Abschlussbezeichnungen (Geprüfte Berufsspezialistin und Geprüfter Berufsspezialist, Bachelor Professional, Master Professional) und eine Mindestvergütung für Auszubildende eingeführt sowie die Möglichkeiten einer Teilzeitberufsausbildung erweitert. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) evaluiert diese Änderungen. Die Ergebnisse werden in diesem Jahr erwartet, Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 1.
[6] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 2.
[7] Zur sozialrechtlichen Perspektive auf den Übergang von Schule in Ausbildung für Menschen mit Behinderungen: Nebe/Weiland, Sozialrechtliche Perspektiven, in: Stein/Kranert (Hrsg.), Aus der Schule in Beruf und Arbeit, S. 83–96.
[8] Vgl. Bundestags-Drucksache 15/4752, S. 35; Baumstümmler, in: Baumstümmler/Schulien, BBiG, 111. Lfg., § 65 Rn. 24.
[9] UN (2012), S. 79; UN, Committee on Economic, Social and Cultural Rights (1999), S. 15.
[10] Deutsches Institut für Menschenrechte, Das Recht auf inklusive Berufsausbildung und Arbeit von Menschen mit Behinderungen in Berlin, S. 2-3.
[11] Siehe etwa: DGB-Stellungnahme zum Gesetzesentwurf eines Berufsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetzes (BVaDiG), S. 2 und 8, mit dem Hinweis, dass mobiles Ausbilden die Ausbildung im Betrieb nicht ersetzen soll; BDA-Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetzes (BVaDiG), S. 4.
[12] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 33.
[13] Im Wortlaut heißt es in § 65 BBiG
„(1) Regelungen nach den §§ 9 und 47 sollen die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung, die Dauer von Prüfungszeiten, die Zulassung von Hilfsmitteln und die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen Dritter wie Gebärdensprachdolmetscher für hörbehinderte Menschen.“
[14] Baumstümmler, in: Baumstümmler/Schulien, BBiG, 111. Lfg., § 65 Rn. 1.
[15] Hilfestellungen für barrierefreie Online-Lehre im Überblick: https://www.studierendenwerke.de/themen/studieren-mit-behinderung/online-bibliothek/barrierefreie-lehre, zuletzt abgerufen am 18.07.2025.
[16] Für Personalräte des Bundes richtet sich das Mitbestimmungsrecht nach § 80 Abs. 1 Nr. 9 BPersVG. Auf Landesebene richtet es sich nach den jeweiligen Landespersonalvertretungsgesetzen (etwa für Sachsen-Anhalt: § 65 Abs. 1 Nr. 4 PersVG LSA).
[17] Rennpferdt, SR 2021, 149 (154); Waskow, in: NK-GA, 2. Aufl. 2023, § 98 BetrVG Rn. 3; vgl. Fitting, BetrVG, 32. Aufl. 2024, § 98 Rn. 2.
[18] Fitting, BetrVG, 32. Aufl. 2024, § 98 Rn. 2.
[19] Vgl. BAnz AT 14.07.2023 S4.
[20] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 32.
[21] Dazu https://www.validierungsverfahren.de/startseite, zuletzt abgerufen am 18.07.2025.
[22] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[23] Vgl. Baumstümmler, in: Baumstümmler/Schulien, BBiG, 111. Lfg., § 64 Rn. 2; Vgl. auch Kalina, in: RP Reha 1/2020, 25; Vgl. Nebe/Waldenburger, Budget für Arbeit, S. 87.
[24] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[25] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[26] Ebd.
[27] Ebd.
[28] Hagen, in: Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Arbeitsrecht, BBiG, 74. Edition Stand: 01.12.2024, § 50d Rn. 3, beck-online.
[29] Vgl. Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[30] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[31] Gall, in: br 2024, 119 (121).
[32] Den Begriff verwendet Kalina, RP Reha 1/2020, S. 25.
[33] Deutsches Institut für Menschenrechte, Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland, Berichtszeitraum Juli 2019–Juni 2020, S. 17 f. und 40.
[34] Kalina, in: RP Reha 1/2020, 25 (28).
[35] arbeitsmarktaktuell Nr. 4/Dezember 2024, S. 13 f.; vgl. dazuauch Gall, in: br 2024, 119 (124 f.).
[36] arbeitsmarktaktuell Nr. 4/Dezember 2024, S. 13 f.
[37] Vgl. Witherle, Das Validierungsverfahren Chancen und Begrenzungen aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen, in: Arbeitshefte zur berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung, Heft A 63, S. 6, abrufbar unter: https://fbh.uni-koeln.de/wp-content/uploads/2024/02/A63_Gemeinsam-Schritt-fuer-Schritt.pdf, zuletzt aufgerufen am 16.06.2025.
[38] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 51.
[39] Bundestags-Drucksache 20/10857, S. 14.
[40] Kritisch dazu z.B. DGB-Stellungnahme zum BVaDiG-Entwurf, S. 2.
[41] DGB-Stellungnahme zum BVaDiG-Entwurf, S. 2.
Berufsbildung, Ausbildung, Digitalisierung, Berufsausbildung, Berufsausbildung benachteiligter junger Menschen, Inklusive Ausbildung, Inklusive Bildung
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