I. Einführung
Der Beitrag (Teil I–III) basiert auf den Ergebnissen des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Auftrag gegebenen Forschungsberichts „Untersuchung der Auswirkungen der Neufassung der den Leistungszugang in der Eingliederungshilfe konkretisierenden Verordnung“ (Vorabevaluation Leistungsberechtigter Personenkreis)[1], veröffentlicht im Januar 2024. Gegenstand des Forschungsberichts war der Entwurf einer „Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe“ (VOLE, 18.06.2021[2]), die in einem mehrjährigen Prozess entwickelt worden war, um unter Bezug auf den mit dem Bundesteilhabegesetz eingeführten § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX die seit 1975 im Wesentlichen unveränderte und damit veraltete Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) abzulösen.[3] Der Auftrag für die Bundesregierung war verankert im § 99 Abs. 4 SGB IX.
Die für die Erarbeitung des VOLE-Entwurfs maßgebliche Vorgabe des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales vom 30. November 2016 lautete unmissverständlich:
„Eine Neudefinition im Lichte der UN-Behindertenkonvention und in Orientierung an ICF soll erst dann in Kraft treten, wenn gesichert ist, dass sie nicht zu einer Verschlechterung führt.“[4]
Der Bundestagsauschuss hatte also nicht verlangt, auszuschließen, dass sich der Personenkreis vergrößert! Im Übrigen sollte sich die VOLE im Aufbau an der bisherigen Eingliederungshilfeverordnung sowie an den Begrifflichkeiten der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, Weltgesundheitsorganisation 2001) orientieren.
Den inhaltlichen Bezugsrahmen für die VOLE bilden der § 2 Abs. 1 SGB IX und der § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX. Die erwähnten gesetzlichen Bestimmungen orientieren sich an dem bio-psycho-sozialen Ansatz der ICF und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Das integrative Behinderungsmodell der ICF nutzt zur Überwindung des einseitigen medizinischen Behinderungsmodells und des einseitigen sozialen Modells den bio-psychosozialen Ansatz.[5] Diesem integrativen Behinderungsmodell zufolge ist eine Behinderung als Teilhabebeeinträchtigung zu verstehen, die sich aus der Wechselwirkung der Beeinträchtigungen einer Person mit ihren Umweltfaktoren – im § 2 Abs. 1 SGB IX die „einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ – ergibt.
§ 99 Abs. 1 SGB IX bestimmt die Voraussetzungen für die Leistungsberechtigung der Eingliederungshilfe, er konkretisiert dazu die grundsätzlich dem § 2 Abs. 1 SGB IX entsprechenden Aussagen zur Teilhabebeeinträchtigung, indem er deren Wesentlichkeit verlangt. Der Gesetzgeber hat allerdings den unbestimmten Rechtsbegriff der Wesentlichkeit weder näher erläutert noch operationalisiert. Außerdem macht die Formulierung des § 99 SGB IX[6] deutlich, dass die Begriffe der wesentlichen Behinderung und der wesentlichen Beeinträchtigung der Teilhabe dem Gesetzgeber gleichbedeutend sind.
Die nachfolgende rechtliche Beurteilung des in § 99 SGB IX geregelten Zugangs zu den Leistungen der Eingliederungshilfe endet mit der Feststellung, dass das entscheidungsrelevante Kriterium für die Leistungsberechtigung der Eingliederungshilfe ausschließlich die Wesentlichkeit der Behinderung bzw. der Teilhabebeeinträchtigung ist. Aus dieser prägnanten Prämisse resultiert unmissverständlich: Welche Beeinträchtigung (oder Krankheit) vorliegt oder wie schwer diese ausgeprägt ist, ist nicht maßgeblich für die Feststellung der Wesentlichkeit einer Behinderung oder Teilhabebeeinträchtigung.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: § 99 SGB IX geht davon aus, dass es sich um eine Person mit einer Behinderung im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 SGB IX handelt, d. h. dass diese Behinderung auf der Grundlage einer Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur (oder einer Krankheit) gegeben ist und nunmehr für die Leistungsberechtigung nach SGB IX, Teil 2, zu prüfen ist, ob die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Anders formuliert: Das Vorliegen von Beeinträchtigung oder Krankheit ist stets eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die Wesentlichkeit der Behinderung.
II. Zur Entwicklung des § 99 SGB IX
Die Inkraftsetzung der UN-BRK in Deutschland im Jahr 2009 und die Einführung der ICF auf internationaler Ebene im Jahr 2001 veranlassten den Bundesgesetzgeber, mit dem BTHG insbesondere dem integrativen Behinderungsbegriff der ICF und dem bio-psychosozialen Ansatz (Wechselwirkung der Beeinträchtigungen mit den Kontextfaktoren) – aufgegriffen in der UN-BRK und der Begrifflichkeit der ICF – Geltung zu verschaffen.
Dazu sah Art. 25a BTHG zunächst eine den leistungsberechtigten Personenkreis definierende Fassung des § 99 SGB IX vor, die hinsichtlich ihrer Wirkung und Praktikabilität höchst umstritten war. Insbesondere galt nicht als gesichert, dass eine Verschlechterung für die betroffenen Personen vermieden wird. Der Gesetzgeber machte deshalb das Inkrafttreten der Regelung von einer vorherigen wissenschaftlichen Evaluation abhängig,[7] bei der sich die beabsichtigte Regelung insbesondere hinsichtlich der Vermeidung von Verschlechterungen gegenüber dem vorherigen Rechtszustand als ungeeignet erwies.
Daraufhin erarbeitete eine Arbeitsgruppe einen neuen Formulierungsvorschlag für den § 99 SGB IX und den Entwurf einer neuen, die Eingliederungshilfeverordnung ersetzenden „Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe – VOLE“[8].
Die auf diesem Ergebnis basierende Fassung des § 99 SGB IX, die nun nicht mehr den leistungsberechtigten Personenkreis beschreibt, sondern die Leistungsberechtigung für Leistungen der Eingliederungshilfe definiert, wurde mit Art. 7 des Teilhabestärkungsgesetzes vom 2. Juni 2021 vom Deutschen Bundestag beschlossen und ist am 1. Juli 2021 in Kraft getreten.
Bereits zum 1. Januar 2018 wurde in § 2 Abs. 1 SGB IX der Begriff der „Behinderung“ durch den der „Menschen mit Behinderungen“ abgelöst und auch inhaltlich wesentlich neu gefasst und erweitert. Die Neufassung des § 2 SGB IX entspricht dem Verständnis der UN-BRK, die ihrerseits der ICF der WHO folgt.
Die UN-BRK knüpft nicht ausschließlich an der funktionellen Beeinträchtigung des Menschen und die dadurch verursachten Einschränkungen an, sondern bezieht umweltbedingte Barrieren mit ein. Behinderung manifestiert sich nach diesem Verständnis erst durch gestörte oder nicht entwickelte Interaktion zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen Umwelt. Folglich sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen mit Behinderungen solche Menschen, „die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“.
Ausweislich der Gesetzesbegründung ist mit der Neufassung durch das BTHG eine Ausweitung des Behinderungsbegriffs nicht beabsichtigt, vielmehr soll sie nur deklaratorischen Charakter haben und der Rechtsklarheit dienen.[9] Einigkeit bestand ferner darüber, dass nach der Neudefinition des Begriffs „Menschen mit Behinderungen“ auch der leistungsberechtigte Personenkreis der Eingliederungshilfe zwar im Lichte der UN-BRK sowie der ICF neu definiert werden soll, eine tatsächliche Änderung des bisher leistungsberechtigten Personenkreises jedoch nicht beabsichtigt ist.[10]
III. Darstellung des geltenden Rechts (Schwerpunkt „Wesentlichkeit“)
§ 99 SGB IX baut für den Zugang zu den Leistungen der Eingliederungshilfe auf dem in § 2 SGB IX im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbezogenen Barrieren definierten Behinderungsbegriff auf. Dieser allgemeine Grundsatz des Teils 1 des SGB IX ist auch im Recht der Eingliederungshilfe (Teil 2 des SGB IX) zu beachten, da § 2 SGB IX die Behinderung einheitlich für das gesamte Rehabilitations- und Teilhaberecht definiert. Um Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten zu können, muss die Behinderung zudem eine wesentliche Einschränkung der Teilhabe an der Gesellschaft zur Folge haben. Damit ist der Tatbestand der Norm durch zwei Begriffe geprägt: „Behinderung“ und „wesentlich“.
1. Behinderung
Menschen mit Behinderungen sind gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Im vorstehenden Sinne ist Behinderung nicht allein ein medizinischer Sachverhalt, sondern auch ein sozialer Begriff. Entscheidend ist nicht nur ein regelwidriger Körper- oder Gesundheitszustand, daneben kommt es entscheidend auf die wahrscheinliche Hinderung an der gleichberechtigen Teilhabe an der Gesellschaft an.
2. „Wesentlichkeit“
§ 99 Abs. 1 SGB IX enthält aktuell eine Legaldefinition des Begriffs „wesentliche Behinderung“: „Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.“
Nachdem der Begriff „Behinderung“ aufgrund der expliziten Bezugnahme auf die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 SGB IX einheitlich für die gesamte Rechtsordnung, mithin (zumindest) auch für das Recht der Eingliederungshilfe, umschrieben wurde, stellt sich nun die Frage nach dem Verständnis und der Funktion des zweiten Merkmals, also des Begriffs „wesentlich“.
Die Frage der Wesentlichkeit ist nach der noch näher aufzuzeigenden Rechtsprechung des BSG, die im Übrigen vom Gesetzgeber bei der Formulierung der Legaldefinition des § 99 Abs. 1 SGB IX[11] sinngemäß übernommen wurde, wertend zu bestimmen, insbesondere anhand der Auswirkungen der Beeinträchtigung für die Eingliederung in die Gesellschaft. Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die Beeinträchtigung ist und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt.[12]
§ 99 Abs. 4 SGB IX – wie sämtliche Vorgängervorschriften seit 1975 – ermächtigt die Bundesregierung, „durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Bestimmungen über die Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe“ zu erlassen.
Rechtsverordnungen sind abstrakt-generelle Regelungen mit Außenwirkung, welche die Exekutive auf der Grundlage einer durch ein förmliches Gesetz erteilten Ermächtigung erlässt. Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Verordnungsgebung aufgrund einer bundesgesetzlichen Ermächtigung sind in Art. 80 Abs. 1 GG geregelt. Dabei müssen Inhalt, Ausmaß und Zweck der erteilten Ermächtigung im Gesetz hinreichend bestimmt sein. Diese Anforderung folgt aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) und dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG). Danach hat das Parlament das Rechtsetzungsmonopol. Art. 80 GG ist – durch die enge Bindung der verordnungsgebenden Exekutive an die Vorgaben des Parlaments – eine systemkonforme Ausnahme von diesen Prinzipien. Rechtsverordnungen, die nicht von einer gesetzlichen Ermächtigung gedeckt sind, sind nichtig.
Die hier in Rede stehende Verordnungsermächtigung lässt ausdrücklich nur die Konkretisierung der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe zu; es geht also ausschließlich um eine „Konkretisierung“ der „wesentlichen Behinderung“, wobei sowohl der Begriff „Behinderung“ (in § 2 Abs. 1 SGB IX) als auch der Begriff „wesentliche Behinderung“ (in § 99 Abs. 1 SGB IX) legal definiert sind. Hinzu kommt, dass beide Begriffe durch die das Gesetz verbindlich und einheitlich auslegende (höchstrichterliche) Rechtsprechung Konturen erhalten haben. Diese Konturen wiederum sind dem Gesetzgeber des § 99 Abs. 1 SGB IX nicht nur vertraut gewesen; vielmehr hat der Gesetzgeber bei der Legaldefinition der „wesentlichen Behinderung“ explizit die Auslegung und das Verständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung übernommen. Ein derart manifestierter Wille des Gesetzgebers darf durch die Rechtsverordnung nicht konterkariert werden.
Vor dem Hintergrund des Vorangestellten ist die aktuell geltende EinglHV – wie auch jede künftige Rechtsverordnung – den Grundsätzen der Normhierarchie, genauer den §§ 2, 99 SGB IX in der durch die Rechtsprechung vorgenommenen und vom Gesetzgeber explizit in der Gesetzesbegründung bestätigten Auslegung verpflichtet. Insofern muss die Verordnung stets „rangkonform“, d. h. im Einklang mit dem Gesetz und dessen höchstrichterlich entwickeltem und vom Gesetzgeber rezipiertem Verständnis, ausgelegt werden. Widerspricht die Rechtsverordnung als eine rangniedere Rechtsnorm auch nach dem insofern zunächst durchzuführenden Versuch der „rangkonformen Auslegung“ gleichwohl einer – ihrerseits wirksamen – ranghöheren Vorschrift, hier dem SGB IX, so hat diese Normenkollision nach dem Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“ („die höherrangige Norm verdrängt die niederrangige Norm“) zur Folge, dass die rangniedere Rechtsvorschrift nichtig, d. h. unwirksam (ungültig) ist. Als allgemeine Rechtsregel ist dieser sog. Geltungsvorrang der ranghöheren vor der rangniederen Vorschrift auch dann zu befolgen, wenn er im betreffenden Gesetz nicht ausdrücklich positiviert ist.
Dies vorausgeschickt, muss konstatiert werden, dass die aktuell geltende EinglHV teilweise hinter der geltenden Gesetzeslage, wie sie von der noch näher aufzuzeigenden Rechtsprechung zum SGB IX und (der Rechtsprechung folgend) auch vom Gesetzgeber verstanden wird, zurückbleibt. Allerdings wird noch im Rahmen der Würdigung darzulegen sein, ob und inwieweit etwaige Widersprüche durch rangkonforme Auslegung der Verordnung gelöst werden können.
Bevor die einschlägige Rechtsprechung näher dargelegt wird, bedarf es zweier Klarstellungen:
Es ist in der Praxis weitgehend anerkannt, dass es Fälle gibt, in denen erst die Gesamtheit und damit die Gesamtschau der Beeinträchtigungen zum Überschreiten der Schwelle der „Wesentlichkeit“ führt, während bei einer Prüfung entsprechend der Systematik der Verordnung, also getrennt nach der jeweiligen Form der Beeinträchtigung, das Merkmal „Wesentlichkeit“ zu verneinen wäre. Fraglich ist nur, ob bei der Gesamtschau der Beeinträchtigungen nur die in der Verordnung abschließend aufgeführten „Gesundheitsprobleme“ als Auslöser in Betracht kommen. Eine solche Einschränkung auf die in der Verordnung genannten Oberbegriffe ist abzulehnen und widerspräche der Teleologie des § 99 SGB IX. Die Systematik und die Terminologie der Verordnung dienen dem Ziel der praktikablen Anwendung des Gesetzes. Aspekte der Praktikabilität sind jedoch der erklärten gesetzgeberischen Zielsetzung untergeordnet und können diese nicht konterkarieren, da eine Verordnung die unbestimmten Rechtsbegriffe eines Gesetzes lediglich konkretisieren, nicht aber inhaltlich aushöhlen darf.
Gegen die hier vertretene Rechtsauffassung kann auch nicht eingewendet werden, dass ohne die Einschränkung auf die explizit in der Verordnung genannten Oberbegriffe eine Abgrenzung der Anspruchsnorm (§ 99 Abs. 1 SGB IX) von der Ermessensregelung (§ 99 Abs. 3 SGB IX) nicht möglich sei. Denn die Ermessensentscheidung, die aufgrund der sehr weiten und umfassenden Beschreibung der einzelnen Gesundheitsprobleme ohnehin nur in einem engen Raum möglich ist und bisher in der Praxis nicht bzw. kaum Gegenstand der Rechtsstreitigkeiten gewesen ist, betrifft eine andere Konstellation: Wird nämlich bei der Prüfung einer Behinderung oder drohenden Behinderung das Merkmal der Wesentlichkeit verneint, hat die betroffene Person keinen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe, sondern nur einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die beantragte Leistung. Bei einem solchen Verständnis verbliebe der Ermessennorm weiterhin ein eigenständiger Anwendungsbereich.
Der zweite Aspekt betrifft eine vereinzelt in den Fachdiskussionen vorgetragene und – soweit ersichtlich – nicht schriftlich publizierte Auffassung, wonach durch die Erwähnung der Eingliederungshilfe-Verordnung in § 99 Absatz 4 SGB IX der Gesetzgeber die Verordnung zum Gesetz hochgestuft habe mit der Folge, dass das in der Verordnung genannte Merkmal der „Erheblichkeit“ (der Gesundheitsstörung) als (quasi einschränkende) weitere Tatbestandsvoraussetzung zwingend zu beachten sei.
Eine solche Deutung der Gesetzgebung vermag schon im Ansatz nicht zu überzeugen, da sie die unterschiedlichen Verwendungen der Begriffe „Wesentlichkeit“ und „Erheblichkeit“ nicht berücksichtigt: Während der Begriff „Wesentlichkeit“ sowohl im Gesetz als auch in der Verordnung steht, kommt der Begriff „Erheblichkeit“ ausschließlich in der Verordnung vor. Hätte der Gesetzgeber die beiden Begriffe als Synonyme verstanden, hätte er auf einen der Begriffe verzichten und in beiden Rechtsquellen einheitlich von „Wesentlichkeit“ oder „Erheblichkeit“ sprechen können.
Hinzu kommt, dass die Auslegung des Begriffs „wesentlich“ inzwischen abschließend durch das BSG (im Einklang mit der Legaldefinition, der Gesetzesbegründung und der UN-BRK) vorgenommen wurde, während man in Bezug auf den Begriff der „Erheblichkeit“ vergeblich nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung und/oder juristischen Auslegung in der Rechtsprechung und im veröffentlichen Schrifttum im Zusammenhang mit der Bestimmung des leistungsberechtigten Personenkreises sucht.
Schließlich wird die oben genannte Auffassung auch im Wege der historischen Auslegung widerlegt:
Die Bezugnahme auf die Weitergeltung der EinglHV im Absatz 4 des § 99 SGB IX ist offensichtlich dem Umstand geschuldet, eine „verordnungslose“ Situation zu vermeiden und eine Interimslösung herbeizuführen. Dass eine solche, durchaus verbreitete Gesetzgebungstechnik eine „Höherstufung“ der Verordnung in den Rang eines formellen Gesetzes bedeuten würde, widerspricht den allgemeinen Regeln der Rechtsmethodik und den Grundsätzen der Normhierarchie. Soweit ersichtlich, wird eine solche Rechtsauffassung im veröffentlichten Schrifttum auch nicht vertreten.
Selbst wenn eine solche Deutung normtheoretisch und methodologisch denkbar wäre, obläge dem Vertreter einer solchen Ansicht die Darlegungs- und Beweislast für die Behauptung, der Gesetzgeber des Teilhabestärkungsgesetzes habe in Kenntnis der expliziten BSG-Rechtsprechung zur Auslegung der „Wesentlichkeit“ im § 99 SGB IX (bzw. im früheren § 53 SGB XII) sein abweichendes, medizinorientiertes Verständnis dadurch zementiert, dass er die EinglHV über die Bezugnahme in Absatz 4 zum Gesetzesrang erhoben habe. Tatsächlich kann die behauptete Motivation, nämlich die „Höherstufung“ der Verordnung in den Rang eines Gesetzes mittels Erwähnung in § 99 Abs. 4 SGB IX, dem Gesetzgeber nicht im Geringsten unterstellt werden.
Ganz im Gegenteil: Die Begründung des Gesetzes verdeutlicht unmissverständlich, dass der Gesetzgeber der BSG-Rechtsprechung explizit folgen möchte und die Erwähnung im Absatz 4 lediglich deklaratorisch festhält, dass die bisherige Verordnung bis zum Erlass einer neuen Verordnung anzuwenden ist.
IV. Rechtsprechung
Die Sozialgerichtsbarkeit hat sich nur wenig mit der Frage der Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bzw. dem BSHG befasst.[13] Die zahlreichen Entscheidungen in den einschlägigen Datenbanken zu den entsprechenden Vorschriften des BSHG, des SGB XII und des SGB IX befassen sich vorwiegend mit den Fragen der Erforderlichkeit, des Leistungsumfangs und der Leistungskonkurrenz, während eine isolierte Behandlung der Problematik der „wesentlichen Behinderung“ kaum thematisiert wird. Gleichwohl liegen zwei zentrale Entscheidungen des BSG vor, angesichts derer die Auslegung der „wesentlichen Behinderung“, insbesondere der Bezugspunkt und Maßstab der Prüfung, als (gefestigt) geklärt bezeichnet werden können:
BSG-Urteil vom 22. März 2012 – B 8 SO 30/10 R
Im zweiten Leitsatz der „Montessori-Entscheidung“ des BSG vom 22. März 2012 heißt es:
„Bei der Beurteilung der für eine Pflicht-Eingliederungshilfeleistung erforderlichen Wesentlichkeit einer geistigen Behinderung ist auf das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabemöglichkeit, nicht auf das der Regelwidrigkeit bzw. des Funktionsdefizits abzustellen.“ (Hervorhebung vom Verfasser)
Damit hat das BSG klargestellt, dass für die Zugehörigkeit zum Personenkreis der Eingliederungshilfe gerade nicht entscheidend ist, „wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt“ (Rn. 19).
Das BSG setzt sich in dieser Entscheidung systemgerecht und konsequent sowohl mit dem Begriff „Behinderung“ als auch mit dem Begriff „wesentlich“ auseinander und legt § 53 SGB XII iVm § 2 EinglHV unter Heranziehung der UN-BRK und im Einklang mit höherrangigem Recht wie folgt aus: Wenn der Begriff der Behinderung im Sinne des sozialen Modells als Beeinträchtigung der Teilhabe verstanden wird, dann darf der Begriff der Wesentlichkeit hier nicht auf die Beeinträchtigung der Funktion reduziert, sondern zutreffend auf die Beeinträchtigung der Teilhabe bezogen werden:
„Insoweit ist wie bei der Prüfung einer Behinderung selbst auch ihre Wesentlichkeit wertend auszurichten an den Auswirkungen für die Eingliederung in der Gesellschaft (so wohl auch BVerwG, Urteil vom 28.9.1995 - 5 C 21/93 -, FEVS 46, 360 ff). Entscheidend ist mithin nicht, wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeit auswirkt.“
Die BSG-Entscheidung hat zur Folge, dass ein bestimmtes Maß einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung, das die „Schwelle“ („Untergrenze“) zum leistungsberechtigten Personenkreis markieren würde, nicht bestimmt werden kann. Denn abhängig von den Kontextfaktoren, die neben der Beeinträchtigung die Behinderung erst konstituieren, kann dieselbe Beeinträchtigung in einem Fall eine Behinderung bewirken, in einem anderen Fall aber nicht.
BSG-Urteil vom 13. Juli 2017, B 8 SO 1/16 R
Mit der zweiten Grundsatzentscheidung vom 13. Juli 2017 hat das BSG klargestellt, dass auch Personen, deren Behinderung die Überwindung ihrer Folgen nicht zulässt, zum leistungsberechtigten Personenkreis gehören. In der Begründung führt das BSG aus:
„Notwendig, aber auch ausreichend, ist es nach § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jedoch, wenn durch die Leistungen der Eingliederungshilfe die Behinderungsfolgen gemildert werden und in diesem Rahmen eine Teilhabe ermöglicht wird“
Der Entscheidung lag der Fall eines chronisch mehrfachgeschädigten abhängigen Menschen zugrunde, der u. a. der Hilfe und Assistenz bei der Körperpflege und Körperhygiene bedurfte. Auch diese Leistungen hat das BSG als Leistungen der Eingliederungshilfe klassifiziert, da sie Teilhabe ermöglichen. Daraus folgt, dass es auch keine „Obergrenze“ der Intensität einer Behinderung geben kann, jenseits derer ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nicht mehr bestünde.
Die Analyse der beiden BSG-Entscheidungen zeigt in der Zusammenschau, dass etwaige Unklarheiten, Interpretationsunterschiede und insbesondere Relativierungen hinsichtlich der Wesentlichkeit, welche die Rechtsprechung des BVerwG bzw. die obergerichtliche Rechtsprechung einzelner Landessozialgerichte möglichweise zuließen, durch die beiden Grundsatzentscheidungen des BSG als überholt anzusehen sind. Dies gilt ebenso für abweichende Rechtsauslegungen anderer Systembeteiligter, die nach den Grundsatzentscheidungen des BSG-Rechtsprechung nicht mehr tragfähig sind. Zumal sich auch durch spätere Rechtsentwicklungen – z. B. das Teilhabestärkungsgesetz – an der für die Beurteilung des Leistungsanspruchs maßgeblichen Rechtsgrundlage nichts geändert hat. Soweit ersichtlich, gibt es auch in der aktuellen Kommentarliteratur keine Stimmen, die der Auslegung des BSG explizit widersprechen.
Vollständigkeitshalber wird darauf hingewiesen, dass die soeben zitierte ständige Rechtsprechung des BSG von der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum schulischen Nachteilsausgleich bei Legasthenie vom 22. November 2023 (1 BvR 2577/15)[14] nicht tangiert wird, da das BVerfG den Begriff der Behinderung stets im Gesamtgefüge des Gleichheitssatzes nach Art. 3 GG und im Zusammenhang mit dem Begriff der „Benachteiligung“ auslegt. Nach gefestigter und jüngst bestätigter Rechtsprechung des BVerfG liegt eine Behinderung „im verfassungsrechtlichen Sinne“ vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist.[15] Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt ferner vor, wenn einem Menschen wegen einer Behinderung Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten werden, die anderen offenstehen, soweit dies nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme hinlänglich kompensiert wird.[16] Die Bezugnahme auf die „Fähigkeit zur individuellen und selbständigen Lebensführung“ im Rahmen der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Behinderungsbegriffs sowie die Erwähnung der „Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten“ bei der Bildung des Benachteiligungsmaßstabs deuten sogar auf eine weitgehende Kongruenz des Verständnisses des BVerfG und des BSG bei der Bestimmung des Begriffs „Behinderung“ hin, jedenfalls hinsichtlich der Maßgeblichkeit der individuellen Teilhabemöglichkeiten.
V. Rechtliche Würdigung der EinglHV
Vor dem Hintergrund des Vorangestellten sind die einzelnen Regelungen der EinglHV wie folgt zu würdigen.
§ 1 EinglHV betrifft die Fälle der wesentlichen körperlichen Behinderung. Für die in § 1 Nr. 1–6 EinglHV genannten Personen besteht eine unwiderlegbare Vermutung zugunsten einer wesentlichen Behinderung, die Wesentlichkeit ist also nicht gesondert zu prüfen.
Soweit allerdings die einzelnen Tatbestände selbst teilweise unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, die auf die Quantität von gesundheitlichen Einschränkungen abstellen („in erheblichem Umfang“, „erheblich“, „von entsprechendem Schweregrad“, „stark“), so müssen sie im Lichte der Rechtsprechung gesetzes- und damit rangkonform dahingehend ausgelegt werden, dass die Verneinung eines (bezogen auf die gesundheitliche Beeinträchtigung) quantitativen Merkmals keine negative Indizwirkung für die Frage der Leistungsberechtigung beinhaltet. Vielmehr muss in diesem Fall die Frage der wesentlichen Behinderung, bezogen auf die konkreten und individuellen Auswirkungen auf die Hinderung der gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft, gesondert geprüft werden.
§ 2 EinglHV betrifft den Kreis der Personen mit einer wesentlichen geistigen Behinderung. Dazu gehören Menschen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfang in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. „Schwäche der geistigen Kräfte“ meint in erster Linie eine Verminderung der Intelligenz, allerdings ist eine alleinige Berücksichtigung von IQ-Werten als Kriterium – schon wegen der Schwierigkeiten der verlässlichen Ermittlung des IQ – nicht ausreichend. Damit kommt dem entscheidenden Kriterium, der Einschränkung der Teilhabefähigkeit, zentrale Bedeutung zu. Eine wesentliche geistige Behinderung liegt also dann vor, wenn die Schwäche der geistigen Kräfte dazu führt, dass die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erheblich eingeschränkt ist. Maßgeblich ist dabei nicht, wie stark die geistigen Kräfte beeinträchtigt sind und in welchem Umfang ein Funktionsdefizit vorliegt, sondern wie sich die Beeinträchtigung auf die Teilhabemöglichkeiten auswirkt.[17] Die Teilhabe zum Leben in der Gesellschaft ist etwa dann erheblich eingeschränkt, wenn die mit der Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht einer Grundschule entgegenstehen und die Lerninhalte ohne zusätzliche Hilfestellung nicht aufgenommen und vermittelt werden können, denn eine Grundschulbildung bildet die essenzielle Basis für jegliche weitere Schullaufbahn bzw. eine valide spätere berufliche Tätigkeit.[18]
§ 3 EinglHV definiert den Kreis der Personen mit einer wesentlichen seelischen Behinderung. Die Vorschrift zählt diejenigen seelischen Störungen auf, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit zur Folge haben können. Dazu zählen die körperlich nicht begründbaren Psychosen (z. B. Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungen), seelische Störungen als Folgen von Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen (z. B. Folgen einer Hirnhauterkrankung, Epilepsie), Suchtkrankheiten sowie Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Auch in diesem Bereich verlangt das ranghöhere Gesetz eine gesonderte Feststellung der Einschränkung der Teilhabe, unabhängig vom Ausmaß einer der in der Verordnung genannten Störungen.
VI. Rechtliche Würdigung des Entwurfs der VOLE
§ 1 VOLE-E verdeutlicht, dass die VOLE das für den Leistungszugang relevante Kriterium der „wesentlichen Behinderung“ im Sinne des § 99 Abs. 1 SGB IX konkretisiert. Bei einer rechtlichen Beurteilung wird es insbesondere darauf ankommen, ob und in welchem Umfang die Vorschriften der VOLE – auch im Sinne einer vergleichenden Analyse gegenüber der EinglHV - mit der Legaldefinition der „wesentlichen Behinderung“ in § 99 Abs. 1 SGB IX und der sie auslegenden, höchstrichterlichen Rechtsprechung harmonieren.
Vorab ist jedoch festzuhalten, welche Aspekte innerhalb des Prüfungsaufbaus des § 99 SGB IX von der VOLE nicht geregelt werden:
Nach § 99 Abs. 1 SGB IX ist für den Leistungszugang neben dem in §§ 2-4 der VOLE konkretisierten Merkmal der „wesentlichen Behinderung“ auch notwendig, dass „nach der Besonderheit des Einzelfalls Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann“. Auf dieses Merkmal geht die VOLE – wie bisher die EinglHV auch – nicht ein. Keine Aussagen enthält die VOLE – wie bisher auch – zu der Konstellation der „drohenden“ wesentlichen Behinderung im Sinne des § 99 Abs. 2 SGB IX. Gleiches gilt für § 99 Abs. 3 SGB IX, der in den von § 99 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit §§ 2-4 VOLE nicht erfassten Fällen Leistungen der Eingliederungshilfe im Ermessenswege ermöglicht.
Im Vergleich zur EinglHV ebenfalls unverändert geblieben ist die bisherige Dreiteilung (körperlich/geistig/seelisch), obgleich die ICF alle Beeinträchtigungen (= Gesundheitsprobleme) unter der Begrifflichkeit „Körperfunktionen und -strukturen“ erfasst und auch mentale (geistige und seelische) Funktionen unter „Körperfunktionen“ subsumiert.
Rechtlich positiv zu beurteilen ist, dass §§ 2-4 VOLE die Begrifflichkeiten des § 2 SGB IX und des § 99 SGB IX jeweils im Normtext aufgreifen. Damit wird die rechtliche Anschlussfähigkeit der VOLE an §§ 2 und 99 SGB IX sowie an andere Vorschriften, etwa im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII), gewährleistet.
In den §§ 2-4 VOLE wird terminologisch auf das (oben näher beschriebene) „Wechselwirkungsmodell“ Bezug genommen. Obgleich es sich bei der expliziten Aufnahme des „Wechselwirkungsmodells“ in den Wortlaut der VOLE nur um eine Klarstellung handeln dürfte, ist die Bezugnahme rechtlich positiv zu bewerten. Denn damit wird zutreffend unterstrichen, dass der bio-psycho-soziale Ansatz der ICF auch in der Eingliederungshilfe die zentrale Grundlage für die Beurteilung des Leistungszugangs liefert.
Trotz der vorstehend positiv hervorgehobenen Aspekte bleibt die VOLE – wie die EinglHV – in einem zentralen Themenfeld hinter der Gesetzeslage und der Rechtsprechung zurück:
Die VOLE definiert weiterhin lediglich die „Gesundheitsprobleme/Beeinträchtigungen“, die als Auslöser für eine Teilhabeeinschränkung und damit für eine wesentliche Behinderung in Betracht kommen. Kriterien für die Prüfung des Ausmaßes der Einschränkung der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft enthält die VOLE indes – ebenso wie die EinglHV – nicht.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Feststellung des Gesundheitsproblems das maßgebliche oder gar alleinige Kriterium für den Leistungszugang sei. Vielmehr kommt es bei der Prüfung – wie bereits eingehend dargelegt – entscheidend auf das Ausmaß der Einschränkung der Teilhabe an.
Da die Veränderungen in § 2 VOLE im Vergleich zu § 1 EinglHV im Wesentlichen terminologischer und redaktioneller Natur sind, wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen, insbesondere zu der Notwendigkeit rangkonformer Auslegung.
Nach § 2 EinglHV ist eine Schwäche der geistigen Kräfte, infolge derer die Teilhabefähigkeit in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist, als wesentlich zu werten. Insofern ist für die Feststellung einer wesentlichen geistigen Behinderung neben dem Vorliegen einer Schwäche der geistigen Kräfte immer eine Prüfung der Auswirkungen auf die Teilhabe im Einzelfall erforderlich.
Die Prüfsystematik des § 3 VOLE weicht von der bisherigen gesetzlichen Prüfsystematik des § 2 EinglHV erheblich ab, indem sie sich künftig (nur) an bestimmten Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association von 2013 orientieren soll. Dabei wird außer Acht gelassen, dass in Deutschland grundsätzlich die ICD gilt, übrigens noch auf mehrere Jahre hinaus deren 10. Fassung (ICD-10) von 1992[19].
Die drei verschiedenen Formulierungsvarianten sind aus rein juristischer Sicht im Hinblick auf die Ausweitung oder Verkleinerung des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe indifferent. Alle drei Formulierungsalternativen in den Begründungen zu § 3 VOLE enthalten im Vergleich zu § 2 EinglHV erhebliche Einengungen durch Grenzwerte des Intelligenzquotienten oder bestimmte diagnostische Kategorien und bewirken – entgegen der politischen Vorgabe – Veränderungen des Personenkreises.
Aus juristischer Sicht müssen im Ergebnis alle drei Formulierungen – auch in der Begründung zum Text der Verordnung – im Einklang mit den höherrangigen Rechtsnormen der §§ 2 Abs. 1 und 99 Abs. 1 SGB IX stehen und im Lichte der diese Normen auslegenden BSG-Rechtsprechung verstanden werden. Etwaige Widersprüche wären sodann im Wege der rangkonformen Auslegung dahingehend aufzulösen, dass es ungeachtet der in der Verordnung formulierten Kriterien entscheidend auf die Prüfung und Feststellung der wesentlichen Beeinträchtigung der Teilhabe ankommt.
Vor dem Hintergrund des Vorangestellten kann die rein juristische Würdigung (anders als die medizinische und sozialwissenschaftliche Analyse) aller drei Formulierungsvorschläge zu keinen unterschiedlichen Bewertungen führen, da diese letztlich dem Anwendungsvorrang des höherrangigen Gesetzesrechts unterworfen sind.
Beitrag von Prof. Dr. iur. Reza Shafaei, Kiel, Prof. Dr. phil. Harry Fuchs, Düsseldorf, Prof. Dr. med. Michael Seidel, Bielefeld
Fußnoten
Eingliederungshilfe, Eingliederungshilfeverordnung, ICF, UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Leistungsberechtigter Personenkreis, Leistungsberechtigung, Wesentliche Behinderung, Teilhabebeeinträchtigung
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