I. Einführung
Gegenstand des erwähnten Forschungsberichts war der Entwurf einer „Verordnung über die Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe“ (VOLE), die in einem mehrjährigen Prozess entwickelt worden war, um unter Bezug auf den mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) eingeführten § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX die seit 1975 im Wesentlichen unveränderte und damit veraltete Eingliederungshilfe-Verordnung (EinglHV) abzulösen.[1] Der Auftrag für die Bundesregierung war verankert im § 99 Abs. 4 SGB IX.
Der Teil I dieses Beitrages zu den Anforderungen an einen überarbeiteten Entwurf einer VOLE begründet, dass das entscheidungsrelevante Kriterium für die Leistungsberechtigung der Eingliederungshilfe ausschließlich die Wesentlichkeit der Behinderung bzw. die Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung ist. Aus dieser prägnanten Prämisse resultiert unmissverständlich: Welche Beeinträchtigung (oder Krankheit) vorliegt oder wie schwer dieselbe ausgeprägt ist, ist nicht maßgeblich für die Feststellung der Wesentlichkeit einer Behinderung oder Teilhabebeeinträchtigung.
Die erwähnten gesetzlichen Bestimmungen des SGB IX orientieren sich an dem bio-psycho-sozialen Ansatz der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF; Weltgesundheitsorganisation 2001) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK; Vereinte Nationen 2006). Das integrative Behinderungsmodell der ICF nutzt zur Überwindung des tradierten einseitigen medizinischen Behinderungsmodells und des ebenfalls einseitigen sozialen Modells den bio-psycho-sozialen Ansatz.[2] Diesem integrativen Behinderungsmodell der ICF zufolge ist eine Behinderung als eine Teilhabebeeinträchtigung zu verstehen, die sich aus der Wechselwirkung der Beeinträchtigung(en) einer Person mit ihren Umweltfaktoren – im § 2 Abs. 1 SGB IX die „einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ – ergibt.
II. Anforderungen an eine überarbeitete VOLE
Im Folgenden werden die wichtigsten Anforderungen an eine überarbeitete VOLE möglichst knapp formuliert zusammengestellt. Auf ausführliche Begründungen wird um der Lesbarkeit willen verzichtet.
Der Forschungsbericht hat die Anforderungen im Detail begründet.
- Für die Feststellung, ob eine Behinderung im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 SGB IX vorliegt, ist das gesicherte Vorliegen einer Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur (ICF) oder einer Krankheit (ICD) zwingende Voraussetzung. Die Begründung ergibt sich aus dem Wortlaut des § 2 SGB IX, wonach die Hinderung an der gleichberechtigten Teilhabe durch Krankheit oder Behinderung verursacht sein muss. Das entspricht der Logik der ICF, die ebenfalls an das Vorliegen eines Gesundheitsproblems (Gesundheitsstörung oder Krankheit) anknüpft. Die ICF ist grundsätzlich nur im Kontext von Gesundheitsproblemen verwendbar. Rein sozial, beispielsweise durch fehlenden Zugang zur Bildung, verursachte Teilhabeprobleme, denen keine Beeinträchtigung (Schädigung) von Körperfunktionen und -strukturen zugrunde liegt, sind nicht Gegenstand der Regelung des § 2 SGB IX. Auch die ICF ist übrigens für derartige Konstellationen nicht vorgesehen.
- Für die Feststellung, ob eine Person mit einer Behinderung gemäß § 2 Absatz 1 Satz und 2 SGB IX einen Leistungsanspruch gegen einen Träger der Eingliederungshilfe hat, ist ausschließlich die Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung = Wesentlichkeit der Behinderung entscheidend. Hingegen sind die Erheblichkeit oder die Schwere von Beeinträchtigungen oder Krankheiten dafür nicht maßgeblich.
- Wenn in der VOLE zur Orientierung und zur verwaltungspraktischen Erleichterung auf Listen von Beeinträchtigungen (in der Terminologie der ICF „Schädigungen“ für Beeinträchtigungen der Körperfunktionen oder -strukturen) oder Krankheiten nicht verzichtet werden soll, dürfen derartige Listen keinesfalls abschließend sein, wenn sie dem Gesetz entsprechen sollen. Listen dürfen vor allem nicht den Schluss nahelegen, das Vorliegen bestimmter, in der Liste aufgeführter, Beeinträchtigungen oder Krankheiten respektive deren „Schwere“ führe „in aller Regel“ oder „üblicherweise“ zu einer wesentlichen Behinderung. Eine derartige Verfahrensweise würde die Wechselwirkung zwischen einer individuell vorliegenden Beeinträchtigung und den individuell vorliegenden Barrieren fundamental verschieben, weil sie den Barrieren damit nur noch den Charakter modifizierender Bedingungen zuspräche. Das wäre jedoch ein grundlegender Fehler in der Anwendung der ICF-Logik und damit des Gesetzes, das ausdrücklich auf die ICF bezogen ist. Der Gesetzestext spricht im Einklang mit dem ICF-Ansatz von Wechselwirkungen zwischen den Beeinträchtigungen und den Barrieren, sieht also die Wechselwirkung als konstitutiv für die Teilhabe-beeinträchtigung.[3]
- Die „einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ (§ 99 Abs. 3 SGB IX) eines jeden konkreten Einzelfalls spielen eine entscheidende Rolle, sie müssen explizit erfasst werden: Eine vergleichsweise „leichte Beeinträchtigung“ oder „leichte Krankheit“ kann gemäß dem bio-psycho-sozialen Ansatz der ICF in Wechselwirkung mit bestimmten „einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ des konkreten Einzelfalls zu einer erheblichen Behinderung führen. Umgekehrt kann das Fehlen von Barrieren dazu führen, dass selbst eine vergleichsweise schwere Krankheit oder schwere Beeinträchtigung keine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung nach sich zieht.
- Die VOLE als untergesetzliche Regelung zur rechtlichen und fachlichen Orientierung des Verwaltungshandelns muss sich konsequent und kompromisslos an der der rechtlichen Neuregelung zugrundeliegenden ICF der WHO orientieren.
- Die VOLE muss nicht nur dem auf dem bio-psycho-sozialen Ansatz beruhenden Behinderungsmodell der ICF folgen; sie muss überdies die aus der zentralen nomenklatorischen Zielsetzung der ICF folgende Nomenklatur (Terminologie) der ICF berücksichtigen. Dazu ist Deutschland als WHO-Mitglied aufgefordert.[4]
- Die Nomenklatur der ICF verlangt, bei Körperfunktionen und -strukturen vorliegende Beeinträchtigungen konsequent als Schädigungen, bei Aktivitäten und Teilhabe vorliegende Beeinträchtigungen ICF-gemäß ebenfalls als Beeinträchtigungen zu bezeichnen. Anderslautende Begriffe wie Einschränkungen, Beschränkungen usw. sind im Kontext der ICF nicht zu verwenden.
- Wo die VOLE auf Krankheitsbilder Bezug nimmt, muss sie die diagnostischen Kategorien der gültigen Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der WHO, derzeit die 10. Revision (ICD-10), verwenden. Einige wenige Krankheitsbilder sind nicht unmittelbar in der ICD-10 aufgelistet, z. B. der oft verwendete Begriff Erworbener Hirnschaden. Zweckmäßig ist, in solchen Fällen die komplexe Symptomatik in ICD-10-Kategorien aufzugliedern.
- Es ist weder fachlich legitim noch sachlich notwendig, bestimmte Beeinträchtigungen oder bestimmte Krankheitsbilder (diagnostische Kategorien) auszuschließen, denn am Ende des Prüfprozesses entscheidet ohnehin ausschließlich die Wesentlichkeit der Behinderung, nicht die Erheblichkeit oder Schwere von Krankheit oder Beeinträchtigung.
- Der Umstand, dass über die Entwicklung der verschiedenen ICD-Versionen (ICD-8, ICD-9, ICD-10, ICD-11) immer mehr diagnostische Kategorien Eingang in die ICD Eingang gefunden haben, beruht außerdem nur teilweise auf gänzlich neu eingeführten Sachverhalten. Oft sind nur vorhandene Kategorien schrittweise verfeinert, manchmal zusammengefasst worden. Andere Kategorien sind gänzlich aus der ICD entfernt worden.
- Auf Begriffe veralteter (z. B. ICD-9) Klassifikationssysteme oder in Deutschland nicht verbindlicher Klassifikationssysteme (z. B. DSM-5) zurückzugreifen, ist ausgeschlossen. Es widerspräche der im SGB V[5] gesetzlich geregelten Verbindlichkeit der jeweils gültigen Version der ICD (derzeit ICD-10) und der Notwendigkeit zur Berücksichtigung vorliegender Befunde und dergleichen, die aus dem Gesundheitssystem mitgebracht oder eingeholt werden müssen.
- Da die ICD-11 für die Verschlüsselung der Morbidität in Deutschland noch nicht eingeführt wurde – und dies nach Auskunft des für die Klassifikationssysteme zuständige Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) noch mehrere Jahre dauern wird – ist vor einem generellen Vorgriff auf die ICD-11 in der VOLE zu warnen. Es gibt in der ICD-11 im Vergleich zur ICD-10 nicht nur eine teilweise veränderte Klassifikationssystematik und neue diagnostische Kategorien, sondern auch teilweise andere Definitionen und Merkmale bekannter diagnostischer Kategorien. Der Hauptgrund für die Warnung vor dem Vorgriff auf die ICD-11 liegt darin, dass die Leistungserbringer nach dem SGB V noch nicht zur Anwendung der ICD-11 verpflichtet sind. Es könnte im Einzelfall zweckmäßig sein, die Angabe der ICD-10-Kategorien um die Angabe der zutreffenden ICD-11-Kategorie zu ergänzen.
- Im § 1 VOLE (neu) sollten die Grundlagen des integrativen Behinderungsmodells der ICF kurz erläutert und in Bezug zu den einschlägigen Bestimmungen des SGB IX gesetzt werden.
- Die §§ 2-4 der VOLE (neu) müssen ICF- oder UN-BRK-kompatible Überschriften erhalten.
- Die Bestimmungen zu Beeinträchtigungen der intellektuellen Funktionen (streng genommen nach ICF: „Schädigungen der Funktionen der Intelligenz“) dürfen nicht einengend (IQ-Grenzwerte, spezielle ICD-10-Diagnosen oder deren Schweregrade) formuliert werden, zumal das der wiederholt erläuterten Bedeutungslosigkeit der Erheblichkeit und der Vorgabe des Bundestagsausschusses von 2016 widerspricht.
- Der § 3 VOLE (neu) bedarf bezüglich seiner Überschrift ausdrücklich der Erläuterung: Der Begriff intellektuelle Beeinträchtigungen steht der ICF-Terminologie (Funktionen der Intelligenz) näher. Er greift überdies den vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen jüngst als Ersatz für den von Selbstvertreterinnen und -vertretern oft als abwertend empfundenen Begriff „Geistige Behinderung“ eingebrachten Begriffsvorschlag auf.[6] Die Formulierung der amtlichen deutschsprachigen Übersetzung von Artikel 1 der UN-BRK indes verwendet den Begriff der geistigen Beeinträchtigung[7].
Ein ernstzunehmendes Problem besteht darin, dass der Begriff intellektuelle Beeinträchtigung für sich genommen – noch weniger als der Begriff geistige Beeinträchtigung – unterscheidet zwischen angeborenen oder früh im Leben (Kindheit und Jugend) einerseits und erst später im Leben erworbenen Beeinträchtigungen intellektueller Funktionen andererseits. Beispielsweise kommt es bei Demenzprozessen im Alter auch zu Beeinträchtigungen der Funktionen der Intelligenz, aber eben als Ausdruck eines Verlustes vordem vorhandener kognitiver Leistungsfähigkeit. Deshalb bedarf die Verwendung des Begriffs intellektuelle Beeinträchtigung im Kontext des § 3 VOLE folgender expliziten Erläuterung und Begründung: Der § 3 VOLE (neu) soll den § 2 EinglHV ersetzen. In der ersten Fassung der EinglHV aus dem Jahre 1964b beinhaltete deren § 5 noch einerseits die anlage-, krankheits- und verletzungsbedingten Entwicklungshemmungen der geistigen Kräfte, andererseits die Rückbildungen der intellektuellen Funktionen (geistige Kräfte) infolge Krankheit oder Hirnverletzung. Letztere gehören in der EinglHV von 1975 zum Regelungsinhalt des § 3. Die „Entwicklungshemmung der geistigen Kräfte“ – also die Folge der Einwirkung von schädigenden Faktoren auf das sich erst noch entwickelnde Gehirn – wurde schon im § 4 EinglHV 1971 folgendermaßen beschrieben: „Personen mit Schwäche der geistigen Kräfte. Durch Schwäche ihrer geistigen Kräfte wesentlich behindert im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 Nummer 5 des Gesetzes sind Personen, die infolge dieser Schwäche am Leben in der Gemeinschaft, vor allem auf einem angemessenen Platz im Arbeitsleben, nicht oder nur unzureichend teilnehmen können.“ Die Herkunft des § 2 EinglHV 1975[8] verdeutlicht, dass er ausschließlich die von Geburt an bestehenden, in Kindheit oder Jugend erworbenen Schwächen der geistigen Kräfte umfasst – unabhängig von der Ursache.
Diesen von Geburt an bestehenden oder in Kindheit und Jugend erworbenen Störungsbildern gehören zweifelsfrei die diagnostischen Kategorien Schwachsinn bzw. Oligophrenien (ICD-8; ICD-9) oder Intelligenzminderung (ICD-10) zu. Da jedoch die Fassungen 1964, 1971 und 1975 der EinglHV weder eine der vorstehenden diagnostischen ICD-Kategorien noch einen Intelligenzquotienten (IQ) aufführen, sind im § 3 VOLE gegenüber § 2 EinglHV 1975 unter der Maßgabe, dass es keine Verschlechterung des Zugangs zu den Leistungen der Eingliederungshilfe geben soll, keine einengenden Kriterien zulässig. Es entspricht der Tradition und den aktuellen Positionen der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der WHO, des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association sowie der American Association of Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD), den Zeitraum des Eintretens der mit der erwähnten diagnostischen Kategorie bezeichneten Zustände – gleich welcher Ursache – auf den Abschluss der Hirnentwicklung – 18. bis 22. Lebensjahr – zu begrenzen. Pragmatisch scheint den Autoren des vorliegenden Beitrages der Abschluss des 18. Lebensjahres zu sein.
Diese Herangehensweise bezüglich der Begrenzung des Zeitraums des Eintretens der intellektuellen Beeinträchtigung sollte bei allen Ausprägungsgraden von Beeinträchtigungen der hier gemeinten intellektuellen Funktionen eingehalten werden.
- Statt von „Begründung“ sollte in den §§ 1–4 VOLE (neu) durchgängig von „Erläuterungen“ gesprochen werden.
- Da in vielen Fällen nicht nur Beeinträchtigungen (Schädigungen) von Körperfunktionen oder -strukturen in einem einzelnen Bereich vorliegen – also etwa solche, die nur einen einzelnen Paragrafen der VOLE (neu) betreffen –, sondern in mehreren Bereichen, ist streng zu vermeiden, antragstellende Personen nur einem einzelnen Personenkreis gemäß einem bestimmten § XYZ zuzuordnen. Grundsätzlich ist offenzuhalten, dass bei einer Person die Voraussetzungen der Anwendung von zwei oder drei Paragrafen der VOLE vorliegen.
- Die Formulierung „Leistungsberechtigung der Eingliederungshilfe“ suggeriert, dass der Leistungsträger prüft, ob er das Recht hat zu leisten. Vielmehr geht es doch darum zu prüfen, ob der Antragsteller einen Rechtsanspruch auf Leistungen des Leistungsträgers hat.
III. Prüfschritte zur Ermittlung des Leistungsanspruchs auf Eingliederungshilfe
Der erste und der zweite nachfolgend dargelegte Prüfschritt sind zur Feststellung erforderlich, ob eine Behinderung im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2 SGB IX vorliegt, die bereits einen Anspruch auf Teilhabeförderung durch einen Sozialleistungsträger auslöst, soweit bei diesem die nach dem für ihn geltenden Gesetz geforderten Leistungsvoraussetzungen erfüllt werden.
Der dritte Prüfschritt ist darüber hinaus für die Feststellung erforderlich, ob die Leistungsvoraussetzungen bei einem Träger der Eingliederungshilfe erfüllt sind.
Nach § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX, insbesondere aber nach dem für die Eingliederungshilfe geltenden § 118 SGB IX umfassen die Prüfschritte auch die Beschreibung der nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigungen der Körperfunktionen oder -strukturen sowie der Beeinträchtigungen sowohl der Aktivitäten der Person wie auch der Teilhabe.
Erster Prüfschritt:
Liegt beim Antragsteller eine Beeinträchtigung (Schädigung) einer Körperfunktion oder -struktur (im umfassenden Sinne der ICF, also einschließlich mentaler Funktionen) als Folge eines Gesundheitsproblems, einer Gesundheitsstörung oder Krankheit (s. ICF) vor?
Es kann sich beispielsweise um den Ausdruck einer chronischen Krankheit (z. B. Multiple Sklerose), eines genetisch bedingten Prozesses, um Folgen von chemischen (z. B. Gifte) oder physikalischen (z. B. nukleare Strahlungen) Einwirkungen, um Folgen eines krankhaften Prozesses (z. B. Halbseitenlähmung nach Schlaganfall) oder eines Unfalls (z. B. Querschnittlähmung nach Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Verletzung) handeln. Für die finale Betrachtungsweise spielt die Ätiologie – die Ursache – von Schädigungen, Beeinträchtigungen oder Krankheiten keine Rolle. Die Ätiologie ist allerdings bei der Frage der Zuständigkeit für die Leistungen relevant.
Die Gesundheitsstörung oder Krankheit wird in der Terminologie der ICD der WHO bezeichnet. Oft werden zusätzliche Informationen (z. B. Assessment-Ergebnisse für Schweregrade, spezielle Diagnosen im Sinne von Präzisierungen) angegeben.
Zur Beurteilung dieser Voraussetzungen sind vorliegende (und hinreichend aktuelle) Befunde, ärztliche oder psychologische Beurteilungen heranzuziehen.
Zweiter Prüfschritt:
Welche im Einzelfall tatsächlich vorliegenden einstellungs- und umweltbedingten Barrieren hindern den Antragsteller an der gleichberechtigten Teilhabe in einer für ihn bedeutsamen Lebenssituation bzw. einem Lebensbereich? Dabei ist zu berücksichtigten, dass im Verständnis der ICF alle negativ wirksamen Umweltfaktoren in der physischen und sozialen Umwelt als Barrieren bezeichnet werden, also keineswegs nur bauliche u. ä. Barrieren. In Anwendung der ICF-Perspektive kann auch das Fehlen positiver Umweltfaktoren (ICF-Förderfaktoren) als Barriere interpretiert werden, z. B. das Fehlen eines tragfähigen sozialen Netzes für eine vereinsamte Person. Ebenso ist das Unterlassen einer erforderlichen Leistung als Barriere zu interpretieren.
Dritter Prüfschritt:
Erfüllen die vorliegenden Beeinträchtigungen der gleichberechtigten Teilhabe das Kriterium der Wesentlichkeit? Dafür eignen sich keine numerischen oder quantitativen Kriterien. Es kommt auf eine qualitative Beurteilung an.
Ein maßgeblicher Hinweis auf die Wesentlichkeit besteht darin, dass die erstrebte Teilhabe nicht ohne personale oder technische Hilfe erreicht werden kann. Personale Hilfen sind direkte (z. B. Begleitung durch einen Assistenten) oder indirekte Leistungen (z. B. Wohnsetting). Technische Hilfen sind u. a. Hilfsmittel (z. B. Rollstühle), die oft in die Leistungspflicht der Krankenkassen fallen. Maßgebend sind dabei auch die Teilhabeziele, die mit den Leistungen wirksam erreicht werden sollen (§13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX). Die Teilhabeziele sind einerseits gesetzlich vorgegeben, andererseits ergeben sie sich aus dem Wunschrecht (§ 8 SGB IX) und aus den Zielen der jeweiligen Person. Letztere sind nicht normierbar. Das vom Gesetz vorgeschriebene Bedarfsermittlungsverfahren zur Bedarfsfeststellung und Gesamtplanung ist notwendigerweise diskursiv angelegt.
Mit größtem Nachdruck ist zu verdeutlichen, dass die Prüfung der Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung niemals in abstrakter Weise erfolgen kann, denn die Teilhabebeeinträchtigung als eine abstrakte Kategorie gibt es nicht in der Realität. Vielmehr kann sie sich nur konkret auf einen oder mehrere, unter Umständen sogar auf alle Lebensbereiche beziehen. In der Klassifikation der Teilhabeaspekte der ICF wird deutlich, dass unterhalb der Ebene der Überschriften der neun Lebenssituationen (Lebensbereiche[9]) konkrete Aspekte davon betroffen sein können. Es kann sich um eine oder mehrere Aspekte handeln.
Im Lebensbereich Selbstversorgung (ICF-Kapitel 5) kann es sich etwa in einem konkreten Fall nur um den Aspekt Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs beschaffen (d620)[10] handeln, in einem anderen nur um Mitteilungen in Gebärdensprache ausdrücken (d340)[11].
Schon bei der Prüfung der Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung muss demzufolge geklärt werden, wofür, für welche Lebensbereiche bzw. zu welchen Aspekten, ein Leistungsbedarf besteht. Diese Klärung erfolgt unabhängig davon, ob ein Berechtigter eine bestimmte Leistung geltend macht.
Diese Erkenntnis steht ausdrücklich nicht im Widerspruch zur Bedarfsermittlung (§ 118 SGB IX), die in einem nächsten Schritt erfolgt. Bei der Bedarfsermittlung geht es dann um die Konkretisierung der erforderlichen Leistungen, etwa Zeitumfang, Zeitpunkt, Qualifikationsanforderungen bei personaler Assistenz, auch darum, ob und inwiefern andere Leistungsträger (z. B. Krankenkassen) vorrangig verpflichtet sind.
Aus der Gliederungssystematik der VOLE kann übrigens nicht unmittelbar auf die Gestaltung der Leistungen geschlossen werden. Beispielsweise benötigen Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (§ 4 VOLE neu) oft vorrangig oder zusätzlich, manchmal sogar ausschließlich Leistungen, die denen von Personen entsprechen, die ausschließlich die Voraussetzungen von § 2 VOLE (neu) erfüllen.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass immer mehr Mitarbeitende der Träger der Eingliederungshilfe im Wege ihrer akademischen Ausbildung oder im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen mit der ICF und dem zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Ansatz vertraut gemacht worden sind und demzufolge die stringente Umsetzung der ICF-Orientierung sehr wohl nachzuvollziehen in der Lage sein werden.
IV. Formulierungsvorschlag für eine neue Fassung
1. § 1 VOLE (neu) Gegenstand der Verordnung
Personen, bei denen eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 SGB IX vorliegt, haben auf Grundlage des § 99 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX immer dann Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe,
- wenn bei ihnen eine wesentliche Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft (wesentliche Behinderung) vorliegt oder sich zu entwickeln droht und
- wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 SGB IX erfüllt werden kann.
Erläuterungen[12]
- Die vorstehenden Ausführungen stellen klar, dass im Gesetz die Begriffe der wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung und der wesentlichen Behinderung gleichbedeutend verstanden werden.
- Die Begründung dafür, dass (wesentliche) Teilhabebeeinträchtigung und (wesentliche) Behinderung gleichbedeutend sind, liegt in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO (2001), die von der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) aufgegriffen und vom Gesetzgeber mit Nachdruck zur konzeptionellen Grundlage des Behinderungsbegriffs im SGB IX bestimmt wurde.
- Für das Vorliegen einer wesentlichen Behinderung (wesentliche Teilhabebeeinträchtigung) ist entscheidend, dass sie in Wechselwirkung der vorliegenden Beeinträchtigungen[13] mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zur wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung entsteht.
- Teilhabebeeinträchtigungen sind immer auf dem Hintergrund der vorliegenden Beeinträchtigungen (bzw. Schädigungen) und der mit ihnen wechselwirkenden einstellungs- und umweltbedingten Barrieren darzustellen. Insofern sind Beeinträchtigungen bzw. Schädigungen oder Diagnosen Eingangsvoraussetzungen, d. h. Beschreibungen der Grundlagen für die jeweils einzelfallbezogene Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung.
- Mit diesem Verständnis gemäß dem bio-psycho-sozialen Ansatz überwindet die ICF das veraltete biomedizinische Verständnis von Behinderung, das sich an der Schwere, Erheblichkeit usw. einer Beeinträchtigung oder einer zugrundeliegenden Krankheit orientierte und eine Behinderung als Eigenschaft der Person verstand.
- Schwere, Erheblichkeit oder ähnliche Kriterien einer Beeinträchtigung oder Krankheit entscheiden nicht darüber, ob eine Behinderung im konkreten Einzelfall als wesentlich gilt, sondern die Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung, die sich ausschließlich im Kontext der individuellen Gegebenheiten qualitativ ermitteln lässt. Dem steht nicht entgegen, dass sich erfahrungsgemäß bestimmte Ausprägungen von Beeinträchtigungen bzw. Schädigungen von Körperfunktionen oder -strukturen besonders auf die Teilhabe auswirken. Im konkreten Einzelfall bedarf es ausnahmslos der Prüfung der tatsächlich vorliegenden Teilhabebeeinträchtigung.
- Die Wesentlichkeit einer Teilhabebeeinträchtigung entzieht sich quantitativen Be-stimmungen und Operationalisierungen. Sie muss in jedem Einzelfall qualitativ erfasst werden und sich immer auf einen oder mehrere oder sogar alle Lebensbereiche oder Teilhabeaspekte beziehen, für die die Leistungen zur Überwindung der Teilhabebeeinträchtigung begehrt werden.[14]
- Mit der Orientierung auf die Anwendung der ICF im SGB IX und insbesondere im Hinblick auf den Behinderungsbegriff muss die vorliegende Verordnung die konzeptionellen und terminologischen Anforderungen der ICF erfüllen.
- Bei der Prüfung der Leistungsberechtigung durch die Träger der Eingliederungshilfe sind für die Erhebung der individuell vorliegenden Beeinträchtigungen Beurteilungen der Beeinträchtigungen in der Begrifflichkeit der ICF oder medizinische Diagnosen gemäß der gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsstörungen (ICD) derjenigen Disziplinen hinzuzuziehen, die dafür über die erforderliche Fachkompetenz verfügen. Es ist auf Aktualität zu achten.
- Bei ein und derselben Person können Beeinträchtigungen von Körperfunktionen und -strukturen in mehreren Bereichen vorliegen, sodass die Bestimmungen mehrerer Paragrafen der vorliegenden Verordnung in Betracht kommen. Insofern ist nicht darauf abzustellen, zu welchem Personenkreis (etwa „gemäß § 3“) jemand gehört. Vielmehr sind die Paragrafen zu prüfen und – im Ergebnis der Prüfung – vollständig aufzuführen, die einzeln oder gemeinsam das Merkmal der Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung begründen.
2. § 2 VOLE (neu) Wesentliche Teilhabebeeinträchtigungen auf der Grundlage von körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen
Beeinträchtigungen (Schädigungen) körperlicher Funktionen und Strukturen einschließlich der Sinnesfunktionen und damit verbundener Beeinträchtigungen von Aktivtäten können in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen führen.
Insbesondere kommen dafür in Betracht:
- Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems,
- Spaltbildung des Gesichts oder des Rumpfes oder eine sonstige Beeinträchtigung des äußeren Erscheinungsbildes, vor allem des Gesichts, die sich auf interpersonelle Interaktionen und Beziehungen auswirken,
- Erkrankung der Haut oder Schädigung der Haut, die die körperliche Leistungsfähigkeit oder die interpersonellen Interaktionen beeinträchtigen.
- Blindheit oder sonstige Beeinträchtigungen der Seh- und verwandter Funktionen, bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel
a) auf dem besseren Auge oder beidäugig im Nahbereich bei einem Abstand von mindestens 30 cm oder im Fernbereich eine Sehschärfe von nicht mehr als 0,3 besteht oder
b) durch Buchstabe a nicht erfasste Beeinträchtigungen der Funktion des Sehens von entsprechendem Schweregrad vorliegen,
- Gehörlosigkeit oder Beeinträchtigungen des Hörens, in deren Folge die Kommunikation nur mit Hörhilfen, mittels der Deutschen Gebärdensprache, lautsprachbegleitenden Gebärden oder anderen geeigneten Kommunikationshilfen möglich ist,
- Beeinträchtigungen der Sprach-, Sprech- oder Stimmfunktionen einschließlich der Beeinträchtigung des Sprachverständnisses; vor allem dann, wenn die Verständigung mit nicht vertrauten Personen kaum oder überhaupt nicht möglich ist,
- Epilepsien
- Schädigung oder Verlust eines inneren Organs mit Auswirkungen auf die körperliche Leistungsfähigkeit.
Erläuterungen
- Die ICF fasst unter der Überschrift der Körperfunktionen nicht allein solche der Bewegungsfähigkeit, der Sinne usw., sondern auch die mentalen Funktionen. Gleiches gilt für die Breite des Begriffes der Körperstrukturen. Darunter sind nicht nur das Skelett, die Muskeln, die Sinnesorgane, sondern auch das Gehirn erfasst.
Aus der Absicht des Verordnungsgebers, unbedingt die Dreiteilung der Eingliederungsordnung von 1975 beizubehalten, ergibt sich ein offenkundiger Widerspruch zur Gliederungssystematik der ICF. Für das praktische Handeln lassen sich pragmatische Lösungen finden.
- Jedoch auch Beeinträchtigungen körperlicher und Sinnesfunktionen oder Diagnosen, die im Vorstehenden nicht aufgeführt sind, können ungeachtet dessen in Wechselwirkung mit den einstellungs- und umweltbedingten Barrieren Grundlage einer wesentlichen Behinderung sein.
- Die aufgelisteten Beispiele sind nicht abschließend.
3. § 3 VOLE (neu) Wesentliche Teilhabebeeinträchtigungen auf der Grundlage von intellektuellen Beeinträchtigungen
Beeinträchtigungen der intellektuellen Funktionen, die bis zum Abschluss des 18. Lebensjahrs eintreten, und dadurch bedingte Beeinträchtigungen der Aktivitäten können in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen führen.
Sie sind verbunden mit Beeinträchtigungen der Adaptation (Anpassung) in kognitiven, sozialen oder alltagspraktischen Bereichen sowie mit – bei gegebenenfalls durchgeführter Intelligenzdiagnostik – unterdurchschnittlichen Testwerten der Intelligenz (Intelligenzquotient, IQ). Handelt es sich um isolierte Defizite einzelner mentaler Bereiche, z. B. des Lesens oder des Schreibens, sind derartige Beeinträchtigungen dem § 4 VOLE (neu) zuzuordnen.
Erläuterungen
- In der ICF gehören die Funktionen der Intelligenz unter der Überschrift der Körperfunktionen zu den Mentalen Funktionen (Kapitel 1 der ICF). Die Absicht des Verordnungsgebers, die Dreiteilung der Eingliederungshilfeverordnung im Widerspruch zur Gliederungslogik der ICF beizubehalten, wurde bereits erwähnt.
- Im vorliegenden Zusammenhang werden die Beeinträchtigungen (Schädigungen) der Funktionen der Intelligenz unter den Begriff intellektuelle Beeinträchtigungen gefasst. Dieser Begriff geht (unter Bezug auf die Entwicklung des § 2 EinglHV 1975) ausdrücklich über die Fassung bestimmter diagnostischer Kategorien wie Intelligenzminderung (ICD-10) oder „geistige Behinderung“ und deren IQ-bezogene Grenzen hinaus.
- Es ist von entscheidender Bedeutung, für die hier in § 3 VOLE gemeinten Störungen den Entstehungszeitraum vor Abschluss des 18. Lebensjahres[15] zu beachten. Dies dient der Abgrenzung von später im Leben auftretenden Schädigungen der Hirnfunktionen, die auch mit umfassenden oder speziellen Beeinträchtigungen intellektueller und verwandter Funktionen verbunden sein können, jedoch dem § 4 VOLE zugeordnet werden müssen.
- Unter Bezug auf die weite Fassung des Begriffs der „Schwäche der geistigen Kräfte“ im § 2 EinglHV 1975 ist eine Einengung der Anwendungsvoraussetzungen für die intellektuellen Beeinträchtigungen in dieser Verordnung nicht gerechtfertigt, weder in Form von testdiagnostischen Kriterien noch durch Einengung auf eine bestimmte diagnostische Kategorie gemäß ICD oder DSM, z. B. Intelligenzminderung.
- Für intellektuelle Beeinträchtigungen kommen auch Ursachen in Betracht, die in den nichtpsychiatrischen Kapiteln der ICD-10 klassifiziert sind (z. B. Infektionskrankheiten, Schädel-Hirn-Traumata, genetische Krankheiten). Das bedeutet nicht, dass derartige Konstellationen in § 2 oder § 4 gehören würden.[16]
- Wenn eine Ursache für die Beeinträchtigung der intellektuellen Funktionen bekannt ist, sollte diese aufgeführt werden (z. B. Down-Syndrom/Trisomie 21; ICD-10: Q90).
- Erfüllt der vorliegende Zustand die Kriterien einer diagnostischen Kategorie nach ICD-10 (z. B. leichte Intelligenzminderung; ICD-10: F71), sollte diese angegeben werden.
- Der ursprünglich aus der Sonderpädagogik stammende Begriff Lernbehinderung ist keine diagnostische Kategorie der ICD-10 und deshalb zu vermeiden. Stattdessen sollte der Zustand, sofern er nicht die Kriterien einer Intelligenzminderung (ICD-10: F7) erfüllt, als intellektuelle Beeinträchtigung bezeichnet werden. Gleiches gilt für nicht operationalisierte Begriffe wie Lernschwierigkeiten etc.
- Streng abzugrenzen sind im vorliegenden Kontext isolierte Störungen wie Lese- und Rechtschreibstörungen (ICD-10: F81.0), Rechenstörungen (ICD-10: 81.2) und andere umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, die von § 4 VOLE erfasst werden würden.
- Die aufgelisteten Beispiele sind nicht abschließend.
4. § 4 VOLE (neu) Wesentliche Teilhabebeeinträchtigungen auf der Grundlage von seelischen Beeinträchtigungen
Beeinträchtigungen seelischer (psychischer) Funktionen und damit in Verbindung stehende Beeinträchtigungen von Aktivtäten können in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren wesentliche Teilhabebeeinträchtigungen bewirken.
Insbesondere kommen die psychiatrisch relevanten diagnostischen Kategorien der gültigen Fassung der ICD – derzeit Kapitel F der ICD-10 – als Eingangsvoraussetzung der Prüfung der Wesentlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung in Betracht.
Dabei sind ausdrücklich auch diejenigen Beeinträchtigungen seelischer (psychischer) Funktionen zu berücksichtigen, deren Ursachen in Krankheiten, Ereignissen usw. liegen, die in anderen ICF-Kapiteln klassifiziert werden (z. B. neurologische Krankheiten, Schädel-Hirntraumata, genetische Krankheiten). Es handelt sich dabei um die Kategorien Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (ICD-10: F0).
Erläuterungen
- In der ICF gehören die Mentalen Funktionen – andernorts psychische oder seelische Funktionen genannt – zu den Körperfunktionen. Die mentalen Funktionen enthalten auch die Funktionen der Intelligenz. Die Absicht des Verordnungsgebers, die Dreiteilung der Eingliederungshilfeverordnung im Widerspruch zur Gliederungslogik der ICF beizubehalten, wurde bereits erwähnt.
- Die diagnostischen Kriterien für die diagnostische Kategorien des Kapitels Psychische und Verhaltensstörungen, Kapitel V (F) der ICD-10, stellen weitestgehend direkt oder indirekt Beeinträchtigungen mentaler Funktionen der ICF dar.
- Es gibt keine fachliche Begründung, bestimmte diagnostische Kategorien des Kapitels V (F) von vornherein auszuschließen. Entscheidend bleibt auch hier die Wesentlichkeit der Behinderung bzw. Teilhabebeeinträchtigung.
- Wenn im Falle einer Diagnose aus dem Formenkreis der Organischen einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (ICD-10: F0) im Rahmen der zugrundeliegenden körperlichen Krankheit zusätzlich Beeinträchtigungen (Schädigungen) von Körperfunktionen oder -strukturen bzw. damit verbundene Beeinträchtigungen von Aktivitäten vorliegen, sind diese selbstverständlich zusätzlich gemäß den Bestimmungen von § 2 VOLE (neu) zu erörtern.
- Die aufgelisteten Beispiele sind nicht abschließend.
Literatur
Deutscher Bundestag (2018). Unterrichtung durch die Bundesregierung. Abschlussbericht zu den rechtlichen Wirkungen im Fall der Umsetzung von Artikel 25a § 99 des Bundesteilhabegesetzes (ab 2023) auf den leistungsberechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe, Bundestags-Drucksache 19/4500 vom 13. September 2018, abrufbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/045/1904500.pdf, zuletzt abgerufen am 15.05.2025.
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.) (1994). Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision. Band I: systematisches Verzeichnis. München – Wien – Baltimore: Urban & Schwarzenberg, abrufbar unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Kodiersysteme/klassifikationen/icd-10-who/version2019/icd10who2019syst-pdf_zip.html?nn=841246&cms_dlConfirm=true&cms_calledFromDoc=841246, zuletzt abgerufen am 09.07.2024.
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Beitrag von Prof. Dr. med. Michael Seidel, Bielefeld, Prof. Dr. phil. Harry Fuchs, Düsseldorf, Prof. Dr. iur. Reza Shafaei, Kiel.
Fußnoten
ICF, Leistungsberechtigung, Leistungsberechtigter Personenkreis, Behinderungsbegriff, Wesentliche Behinderung, Teilhabebeeinträchtigung, Eingliederungshilfe
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