Die Autoren widmen sich in dieser Beitragsreihe der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und setzen sich in sechs Teilen mit der Bedeutung digitaler Teilhabe, mit der rechtlichen Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen sowie den digitalen Barrierefreiheitsanforderungen außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen auseinander.
In diesem Teil wird in das Thema der digitalen Barrierefreiheit eingeführt und es werden die Bedeutung und Grundprinzipien digitaler Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ausgeführt.
(Zitiervorschlag: Boysen, Carstens: Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil I: Barrierefreiheit und digitale Teilhabe; Beitrag E1-2024 unter www.reha-recht.de; 20.03.2024)
I. Einführung
Der Begriff „digitale Barrierefreiheit“ hat sich im Sprachgebrauch mittlerweile in der Verwaltung, aber auch – jedenfalls teilweise – in der Privatwirtschaft durchgesetzt. Welche Vorschriften und Standards aber erforderlich sind, um dieses Versprechen auf mehr Teilhabe umzusetzen, ist vielfach bislang nicht klar. Das zeigt auch der deutsche Bericht zum Stand der Barrierefreiheit für Websites und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen, der Ende 2021 an die EU übermittelt wurde.[1] Keine der dort geprüften Anwendungen erfüllte alle erforderlichen Kriterien. Nicht mitgeteilt wird dabei, welche Anwendungen von welchen öffentlichen Stellen geprüft wurden und was ggf. unternommen wurde, um hier Abhilfe zu schaffen.[2] Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung, die von „Aktion Mensch“ zusammen mit Google zur Barrierefreiheit von Onlineshops durchgeführt wurde. Dabei ergab sich, dass nur ein Viertel der meistbesuchten Onlineshops in Deutschland „teilweise“ barrierefrei war. 61 von 78 getesteten Seiten konnten nicht ausschließlich über die Tastatur bedient werden.[3]
Während Frankenstein für die Notwendigkeit digitaler Barrierefreiheit eine eher theoretische Argumentation, insbesondere aus dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK, hier vor allem Art. 4 lit. a), 9 und 21), abgeleitet hat,[4] soll vorliegend konkret untersucht werden, welche gesetzlichen Normen, Verordnungen und Standards die Durchsetzung digitaler Barrierefreiheit ermöglichen bzw. zwingend erfordern.[5]
In einem Fachbeitrag hat Boysen 2018[6] schon einmal Anforderungen an Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen erläutert. Eine Reihe der dortigen Ausführungen ist jedoch durch die am 11. Juli 2018 in Kraft getretene Novellierung des BGG sowie der sukzessive geänderten Landesgleichstellungsgesetze überholt, was einen neuerlichen und ausführlicheren Blick auf diese Thematik erfordert. Auch andere Regelungen, die für die Barrierefreiheit von Menschen mit Behinderungen von Bedeutung sind oder sein können, sind hinzugetreten. Dazu soll in dieser Beitragsreihe eine Übersicht gegeben werden. Das ist umso wichtiger, als insbesondere die Pandemie (aber nicht nur sie) seit 2020 die Notwendigkeit verdeutlicht hat, die Instrumente zu schärfen, die zur digitalen Kommunikation genutzt werden. Und das betrifft nicht nur die Videokonferenzsysteme, die, jedenfalls anfänglich, vielfach alles andere als barrierefrei waren und teils immer noch unter Zugänglichkeitsmängeln leiden.[7]
Dieser und die nachfolgenden Beiträge zeigen auf, was digitale Barrierefreiheit bedeutet (unter II.) und erläutern die dazu bisher erlassenen Rechtsvorschriften. Neben Inhalt und Umfang der Verpflichtungen für die öffentlichen Stellen von Bund, Ländern[8] und Kommunen werden zugleich die Anforderungen beschrieben, die zur barrierefreien Gestaltung einzuhalten sind, und welche zukünftigen Herausforderungen sich stellen (Beitragsteile II bis VI, siehe Abschnitt III). Das Vergaberecht wird hier ausgeklammert und bleibt einem gesonderten Beitrag vorbehalten.
II. Barrierefreiheit und digitale Teilhabe
Digitale Angebote, Dienste, Anwendungen und Inhalte sind barrierefrei, wenn sie auch für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind (§ 4 BGG).[9] Hierzu gehört auch, dass digitale Angebote, Anwendungen und Dienste mit assistiven Technologien wie Screenreadern, Screenmagnifiern oder einem Programm zur Steuerung über Sprachbefehle nutzbar sind. Das gilt für Websites und mobile Anwendungen ebenso wie für IT-Anwendungen am Arbeitsplatz sowie elektronische Dokumente und Formulare.[10]
Blinde Menschen nutzen am PC – ebenso wie bei Tablets und Smartphones – einen Screenreader, der es ihnen ermöglicht, die auf dem Monitor dargestellten Inhalte und Informationen auch taktil über eine Braillezeile sowie akustisch über eine Sprachausgabe wahrzunehmen. Dazu muss der Screenreader auf die Inhalte und Bedienelemente zugreifen können, so dass die Informationen vollständig und in einer korrekten Lesereihenfolge wiedergegeben werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass die Navigation am PC vollständig auch über Tastaturbefehle, und nicht nur über die Maus möglich ist. Gängige Screenreader für das Betriebssystem Windows sind JAWS[11] und NVDA[12]. Außerdem existiert für das Betriebssystem Windows der im System integrierte Narrator. Für Tablets und Smartphones gibt es die Screenreader VoiceOver (für iOS)[13] und TalkBack (für Android)[14], die bereits über das Betriebssystem zur Verfügung gestellt werden.
Menschen mit einer Sehbehinderung nutzen am PC und am Notebook vielfach einen Screenmagnifier, auch Vergrößerungsprogramm oder Bildschirmlupe genannt, die die auf dem Monitor dargestellten Inhalte und Bedienelemente auch stark vergrößert anzeigen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Screenmagnifier auf die Inhalte und Bedienelemente zugreifen kann, so dass die Fokusverfolgung durch die Bildschirmlupe und eine Schriftglättung gewährleistet sind. Für sehbeeinträchtigte Menschen sind klare und deutliche Schriften und gute Kontraste wichtig. Auch dann, wenn Browser und mobile Endgeräte eigene Zoomfunktionen zur Verfügung stellen, muss es möglich sein, die Größe von Schrift und Symbolen sowie Farben und Kontraste individuell einzustellen. Gängige Screenmagnifier für das Betriebssystem Windows sind ZoomText[15] und SuperNova[16], die jeweils auch mit einer ergänzenden Sprachausgabe angeboten werden. Für mobile Endgeräte sind diese Funktionen über die Programme VoiceOver und TalkBack verfügbar.
Eine Tastaturbedienbarkeit ist nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen erforderlich, sondern beispielsweise auch für Nutzer, die aufgrund von motorischen Einschränkungen ein Programm nicht mit einer Maus bedienen können. Häufig sind Menschen mit motorischen Einschränkungen sowie mit Einschränkungen ihrer Reichweite oder Kraft auch darauf angewiesen, dass sich Programme und Apps über eine Spracheingabe bedienen lassen. Eine Steuerung über Spracheingabebefehle ermöglicht beispielsweise das Programm Dragon Naturally Speaking[17], das nicht nur über Diktierfunktionen verfügt.
Das Einfügen von Videos in Deutscher Gebärdensprache kann für Menschen ohne Hörvermögen hilfreich sein. Für sie unzugängliche Audioinformationen müssen auf andere Weise wahrnehmbar gemacht werden, etwa indem für Videos Untertitel angeboten werden. Informationen in Deutscher Gebärdensprache und in Leichter Sprache in einem Web-Auftritt erleichtern Menschen ohne Hörvermögen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen den Zugang.[18] Wichtig ist auch eine einfache und leichte Bedienbarkeit.
Barrierefreiheit setzt sowohl accessibility (Zugänglichkeit) als auch usability (Gebrauchstauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit) voraus. Zur barrierefreien Gestaltung sind daher außer den Standards zur Zugänglichkeit, wie beispielsweise den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.2), den Accessibility requirements for ICT products and services (EN 301 549) und den Guidance of software accessibility (DIN EN ISO 9241-171)[19], auch Anforderungen an die Nutzerfreundlichkeit und einfache Bedienbarkeit zu beachten.[20]
Zur Verdeutlichung seien noch einmal die vier Grundprinzipien der WCAG erläutert, die digitale Barrierefreiheit ermöglichen sollen: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit.
Alle Menschen müssen in der Lage sein, die digitalen Inhalte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Sinnen wahrzunehmen. Das bedeutet z. B., dass immer mindestens zwei Wahrnehmungskanäle gleichzeitig angesprochen werden müssen. Bekannteste Beispiele sind die Alternativtexte für Bilder, damit sie auch für blinde Menschen verstehbar sind, oder die Untertitel in Videos, damit diese von Hörbeeinträchtigten wahrgenommen werden können. Zur Bedienbarkeit gehört etwa, dass alle Funktionen auch über Tastaturbefehle ausgelöst werden können oder dass dies über die sich immer weiterverbreitenden Sprachsteuerungen ermöglicht wird. Zur Verständlichkeit muss nicht nur der sprachliche Aspekt der Texte und die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Bedienelementen berücksichtigt werden, sondern hierzu gehört auch der Bereich des technischen Umgangs mit Fehlern und automatisierten Hilfestellungen, der immer mehr an Bedeutung gewinnt. Über dynamische Web-Formulare können fehlerhafte Eingaben direkt abgefangen werden oder es kann Hilfestellung durch Alternativvorschläge erfolgen. Robustheit bedeutet, dass alle assistiven Technologien in der Lage sind, die Inhalte und Bedienelemente der Anwendungen darzustellen, ohne dass es zu Systemausfällen kommt. So soll eine Kompatibilität mit aktuellen und kommenden technischen Entwicklungen gewährleistet werden.[21]
III. Zu den weiteren Beitragsteilen
Die weiteren Beitragsteile nehmen zum einen die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen (Teile II und III) sowie außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen in den Blick (Teil IV). Zum anderen werden die rechtlichen Verpflichtungen zur Barrierefreiheit von elektronischen Akten und Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung (Teil V) sowie von elektronischen Dokumenten und Formularen aufgezeigt und schließlich ein Resümee hinsichtlich der verbleibenden Herausforderungen gezogen (Teil VI).
Beitrag von Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler und Andreas Carstens, Richter am Finanzgericht Niedersachsen, Vertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter
Fußnoten
Barrierefreiheit (digital), Barrierefreiheit (Begriff), Barrierefreiheit, Digitalisierung, Zugänglichkeit
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