22.03.2024 E: Recht der Dienste und Einrichtungen Boysen, Carstens: Beitrag E2-2024

Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil II: Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen – Rechtsvorschriften, Standards und Ausnahmen

Die Autoren widmen sich in dieser Beitragsreihe der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und setzen sich in sechs Teilen mit der Bedeutung digitaler Teilhabe, mit den rechtlichen Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen sowie den digitalen Barrierefreiheitsanforderungen außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen auseinander.

In diesem Teil werden die rechtlichen Verpflichtungen und Standards zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen sowie diesbezügliche Ausnahmeregelungen und ihre Begrenzungen dargestellt.

(Zitiervorschlag: Boysen, Carstens: Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil II: Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen – Rechtsvorschriften, Standards und Ausnahmen; Beitrag E2-2024 unter www.reha-recht.de; 22.03.2024)

I. Einleitung

Diese Beitragsreihe widmet sich der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und den hierzu geltenden rechtlichen Anforderungen. Nachdem in Beitragsteil I aufgezeigt wurde, was digitale Barrierefreiheit bedeutet, folgt in diesem Beitrag eine Übersicht zu den rechtlichen Verpflichtungen, Standards und Ausnahmen hinsichtlich der Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen. Welche Maßnahmen zur Sicherstellung dieser Vorgaben zu treffen sind, wird in Beitragsteil III aufgezeigt.

Die übrigen Beitragsteile befassen sich mit den Anforderungen an die digitale Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen (Teil IV), von elektronischen Akten und Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung (Teil V), von elektronischen Dokumenten und Formularen und schließlich mit den zukünftigen Herausforderungen der digitalen Barrierefreiheit (VI).

II. Rechtliche Verpflichtungen zur Barrierefreiheit

Schon das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) aus dem Jahr 2002 (und ihm folgend die Ländergesetze zur Gleichstellung behinderter Menschen) enthielt in § 11 BGG eine Vorschrift, wonach Dienststellen und sonstige Einrichtungen der Bundesverwaltung zur Barrierefreiheit ihrer Auftritte und Angebote im Internet verpflichtet waren. 2016 wanderte die Vorschrift in § 12 BGG und wurde bei der Verpflichtung zur Barrierefreiheit um diejenige für mobile Anwendungen sowie der Informationen für Beschäftigte im Intranet[1] erweitert.

Nunmehr sind die Vorschriften zur digitalen Barrierefreiheit in den §§ 12–12d BGG enthalten. Sie gehen maßgeblich auf die Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen[2] (im Folgenden RL) zurück. Wichtig ist vor allem die Einführung von Mechanismen, die sicherstellen sollen, dass die Vorgaben zur Barrierefreiheit tatsächlich umgesetzt und eingehalten werden,[3] sowie die konsequente Ausweitung der Verpflichtung zur Barrierefreiheit auf alle öffentlichen Stellen.[4]

Während sich die Verpflichtungen zur Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen für die öffentlichen Stellen des Bundes aus den §§ 12 bis 12d BGG ergeben, werden die öffentlichen Stellen in den Ländern und Kommunen durch die Parallelvorschriften im Landesrecht verpflichtet. Zur Umsetzung der RL (EU) 2016/2102 wurden deshalb auch die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder in wesentlichen Teilen überarbeitet und ergänzt.[5] Auch nach dem Landesrecht ist der Kreis der öffentlichen Stellen aufgrund der Vorgaben der RL (EU) 2016/2102 weit gefasst. Zur Barrierefreiheit ihrer Websites und mobilen Anwendungen verpflichtet werden neben den Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Landesverwaltung (siehe z. B. § 10a Abs. 1 BGG NRW, § 16 Abs. 1 Nr. 1 BGG LSA, § 12 Abs. 1 LBGG SH), einschließlich der landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, auch die Parlamente (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 1 HessBGG) und Gerichte (z. B. § 2 Abs. 2 Nr. 1 InklG RP, § 1 Abs. 1 Nr. 1 BfWebG Sachsen)[6] sowie die kommunalen Gebietskörperschaften (Städte, Gemeinden und Landkreise). Damit sind nunmehr in allen Bundesländern auch die Kommunen verpflichtet, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten (vgl. z. B. § 9 Abs. 1 Nr. 1 NBGG sowie § 9 Abs. 3 BbgBGG, § 14 Abs. 2 HessBGG und § 1 Abs. 1 BfWebG Sachsen).[7] Hinzu kommen die sonstigen öffentlichen Stellen, die dem Landesrecht zuzuordnen sind. Dazu gehören beispielsweise Krankenhäuser sowie Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs, die als juristische Personen des Privatrechts von öffentlichen Stellen betrieben werden (§ 9 Abs. 1 Satz 4 NBGG).

Weitere Einzelheiten ergeben sich aus der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) des Bundes vom 12. September 2011,[8] die durch Verordnung vom 21. Mai 2019[9] weitgehend neu gefasst wurde. Die Länder haben sich der Verordnung entweder durch Bezugnahme angeschlossen[10] oder teilweise auch eigene Verordnungen zur digitalen Barrierefreiheit erlassen.[11]

Die Regelungen des BGG aus dem Jahr 2018 gelten ebenso wie die Parallelvorschriften im Landesrecht seit dem 23. September 2020 für ausnahmslos alle Websites sowie seit dem 23. Juni 2021 für mobile Anwendungen. Das umfasst sowohl die Auftritte und Angebote im Internet als auch die Informationen für Beschäftigte im Intranet (§ 12a Abs. 1 Satz 1 BGG, § 2a Abs. 1 Satz 4 BITV 2.0). Bei mobilen Anwendungen handelt es sich um Programme für mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets (§ 2a Abs. 2 Satz 1 BITV 2.0).[12] Zu den barrierefrei zu gestaltenden Inhalten gehören sowohl die textuellen und nicht textuellen Informationen in unterschiedlichen Formaten (Dokumente, Video und Audio) als auch Dokumente und Formulare zum Herunterladen sowie alle Funktionen, die eine beidseitige Interaktion ermöglichen, beispielsweise zum Ausfüllen digitaler Formulare oder zur Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen (§ 2a Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Satz 3 BITV 2.0).[13] Die Umsetzung der RL (EU) 2016/2102 in das innerstaatliche Recht dient damit zugleich der Umsetzung von Art. 9, 21 und 27 der UN-BRK.[14]

III. Einzuhaltende Standards

1. BGG und BITV 2.0

Nach § 12a Abs. 2 BGG haben öffentliche Stellen des Bundes (§ 12 BGG) zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen die Vorgaben aus der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) zu beachten. Soweit diese keine Vorgaben enthält, hat die barrierefreie Gestaltung nach den anerkannten Regeln der Technik zu erfolgen (§ 12a Abs. 2 Satz 2 BGG). Die danach zu beachtenden Standards und die einzuhaltenden Anforderungen werden durch § 3 Abs. 1–4 der BITV 2.0 festgelegt und konkretisiert. Nach § 3 Abs. 2 BITV 2.0 sind die Standards der europäischen Normungsinstitutionen zu beachten, deren Referenz im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Hierzu nimmt § 3 Abs. 2 Nr. 1 BITV 2.0 Bezug auf harmonisierte Normen[15] der europäischen Normungsinstitute.[16] Das sind Standards, die von diesen Normungsinstituten im Auftrag der EU erarbeitet wurden.[17] Sie sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 BITV 2.0 zur barrierefreien Gestaltung verbindlich zu beachten, sobald eine Referenz auf diesen Standard im Amtsblatt der EU bekannt gemacht worden ist.

Die europäischen Normungsinstitute haben im März 2021 den europäischen Standard EN 301 549 „Accessibility requirements for ICT products and services“ in der Version 3.2.1 veröffentlicht.[18] Dazu gibt es mittlerweile den Durchführungsbeschluss (EU) 2021/1339, mit der Folge, dass zur barrierefreien Gestaltung der Standard EN 301 549 in seiner aktuellen Fassung zu beachten ist.[19] Eine deutsche Übersetzung ist seit Juni 2022 als DIN EN 301 549 zugänglich.[20]

In seinen Abschnitten 9 bis 11 enthält der Standard Anforderungen an die Barrierefreiheit, und zwar in Abschnitt 9 für Websites (Internet und Intranet), in Abschnitt 10 für elektronische Dokumente und in Abschnitt 11 für Software (einschließlich der mobilen Anwendungen). Dabei sind diese Festlegungen zusammen mit Anforderungen aus anderen Abschnitten des Standards zu beachten. Eine Auflistung der nach den EU-Vorgaben mindestens einzuhaltenden Anforderungen enthält der Standard EN 301 549 in seinem Annex A in Tabelle A.1 für Websites und in Tabelle A.2 für mobile Anwendungen.

2. EN 301 549 und WCAG

Anforderungen an die Barrierefreiheit von Websites formulieren auch die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1), die vom World Wide Web Consortium (W3C) im Juni 2018 veröffentlicht wurden und die auch weitgehend Pate für die EN 301 549 in ihrer verbindlichen Version gestanden haben.[21] Die WCAG 2.1 enthalten insgesamt 78 prüfbare Erfolgskriterien zur Erreichung von Barrierefreiheit, davon 30 mit der Konformitätsstufe A, 20 mit der Konformitätsstufe AA und 28 mit der Konformitätsstufe AAA. Jedem Erfolgskriterium der WCAG 2.1 ist eine der drei Konformitätsstufen zugeordnet. Die höchste Konformität mit den WCAG 2.1 wird erreicht, wenn auch die Erfolgskriterien mit der Konformitätsstufe AAA eingehalten werden.

Der europäische Standard EN 301 549 geht teilweise über die WCAG 2.1 hinaus, da er im Annex A Anforderungen zur Barrierefreiheit auflistet, die in den WCAG 2.1 nicht enthalten sind. Teilweise bleibt er aber auch hinter den Erfolgskriterien der WCAG 2.1 zurück, da deren Kriterien mit der Konformitätsstufe AAA in der EN 301 549 in Abschnitt 9.5 lediglich als fakultativ aufgelistet werden.

Durch die WCAG 2.2 vom 5. Oktober 2023 wurden die WCAG 2.1 um 9 zusätzliche Erfolgskriterien ergänzt, davon sechs Erfolgskriterien mit der Konformitätsstufe A und AA.[22] Darüber hinaus hat das W3C mit den WAI Accessible Rich Internet Applications (WAI-ARIA 1.2)[23], den Authoring Tool Accessibility Guidelines (ATAG 2.0)[24] und den User Agent Accessibility Guidelines (UAAG 2.0)[25] weitere bei der Barrierefreiheit zu berücksichtigende Richtlinien veröffentlicht.

3. Weitere Anforderungen

Weitere Anforderungen können sich aus der Perspektive der potentiellen Nutzergruppen ergeben, wenn deren Anforderungen oder Bedarfe durch die zu beachtenden Standards nicht oder nur unvollständig abgebildet werden (§ 3 Abs. 3 BITV 2.0). Der europäische Standard EN 301 549 (V3.2.1) listet hierzu in seinem Abschnitt 4 beispielhaft die folgenden Nutzergruppen auf:

  • Nutzung ohne Sehvermögen
  • Nutzung mit eingeschränktem Sehvermögen
  • Nutzung ohne Farbwahrnehmung
  • Nutzung ohne Hörvermögen
  • Nutzung mit eingeschränktem Hörvermögen
  • Nutzung ohne oder mit eingeschränktem Sprachvermögen
  • Nutzung mit eingeschränkter Handhabung oder Kraft
  • Nutzung mit eingeschränkter Reichweite
  • Nutzung ohne Risiko epileptischer Anfälle
  • Nutzung mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten

Außerdem sieht die BITV 2.0 vor, dass für die Gestaltung von Navigations- und Einstiegsangeboten sowie Funktionen, die eine Nutzerinteraktion erfordern, bzw. ermöglichen, stets ein höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit anzustreben ist (§ 3 Abs. 4 BITV 2.0).[26] Die Vorschrift enthält für öffentliche Stellen eine Handlungspflicht, jeweils zu prüfen, wie sich die Barrierefreiheit über die Einhaltung der einschlägigen Standards hinaus verbessern lässt. Hierzu gehört, neben einer Berücksichtigung weiterer Anforderungen an die Zugänglichkeit (accessibility), wie beispielsweise den Erfolgskriterien der WCAG 2.2 mit der Konformitätsstufe AAA,[27] insbesondere auch die Gebrauchstauglichkeit (usability). Bei Nutzerinteraktionen, die regelmäßig aus mehreren einzelnen Schritten bestehen (Workflow), ist daher stets auch zu fragen, wie sich Gebrauchstauglichkeit und Nutzerfreundlichkeit (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 2 BITV 2.0)[28] für Menschen mit Behinderungen verbessern lassen.[29] Konkrete Hinweise hierzu nennt beispielsweise die Anlage 2 zu § 5 Abs. 6 der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) vom 8. April 2020[30] in ihrem Abschnitt „Nutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit“.

4. Informationen zur Barrierefreiheit durch den Ausschuss zur BITV 2.0

Wer jetzt den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, den können wir gut verstehen. Die Komplexität der Anwendung von Barrierefreiheitsstandards war auch dem Verordnungsgeber bewusst. Deshalb hat er mit § 3 Abs. 5 BITV 2.0 einen (allerdings nach unserer Einschätzung nur teilweise erfolgreichen) Abhilfeversuch unternommen. Danach ist die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT) verpflichtet, in ihrem Web-Auftritt[31] regelmäßig alle zur Umsetzung der BITV 2.0 erforderlichen Informationen in deutscher Sprache zu veröffentlichen; insbesondere aktuelle Informationen zu den zu beachtenden Standards, aus denen die Barrierefreiheitsanforderungen detailliert hervorgehen, Konformitäts­tabellen, die einen Überblick zu den wichtigsten Barrierefreiheitsanforderungen geben, Empfehlungen des Ausschusses für barrierefreie Informationstechnik nach § 5 BITV 2.0 sowie weiterführende Erläuterungen.[32] Öffentliche Stellen und Schwerbehindertenvertretungen können sich zudem ebenso wie Menschen mit Behinderungen im Web-Auftritt der Überwachungsstelle zur Barrierefreiheit registrieren lassen. Sie haben dann die Möglichkeit, die vom DIN e.V. erstellte deutsche Übersetzung der EN 301 549 in ihrer jeweils aktuellen Fassung kostenfrei abzurufen.[33]

IV. Ausnahmen von der Verpflichtung zur Barrierefreiheit

1. Ausnahmeregelung im BGG des Bundes

Nach § 12a Abs. 6 BGG dürfen öffentliche Stellen von den Vorgaben zur Barrierefreiheit ausnahmsweise abweichen, soweit die barrierefreie Gestaltung eine unverhältnis­mäßige Belastung bewirken würde. Vergleichbare Vorschriften enthält auch das Landesrecht (vgl. z. B. § 4 Abs. 3 BIKTG Bln, § 10 Abs. 4 BGG NRW).

Die Ausnahmeregelung ist eng auszulegen. Die englische Fassung der RL (EU) 2016/2102 spricht insoweit klarstellend von „excessive burden“. Keine zureichenden Gründe sind mangelnde Priorität, Zeit oder Kenntnis sowie die fehlende Beschaffung oder Entwicklung der für die barrierefreie Gestaltung erforderlichen Software.[34] Der Gesetzgeber geht in der Begründung zu § 12a Abs. 6 BGG davon aus, dass öffentliche Stellen, die schon bisher verpflichtet waren, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten (wie z. B. die Bundesverwaltung hinsichtlich ihrer Web-Auftritte seit 2002), sich im Regelfall nicht auf eine solche Ausnahme berufen können.[35] Zu beachten ist außerdem die Einschränkung durch das Wort „soweit“. Damit enthält die Vorschrift keinen Freibrief, eine gesamte Anwendung von der Barrierefreiheit auszunehmen. Auf jeden Fall sind Inhalte und Funktionen, bei denen die Voraussetzungen für eine Ausnahme nicht vorliegen, ebenso barrierefrei zu gestalten, wie auch die übrigen Anforderungen zur Barrierefreiheit einzuhalten sind. Hinzu kommt, dass die Gründe für eine Ausnahme vollständig und nachprüfbar in der Erklärung zur Barrierefreiheit veröffentlicht werden müssen (siehe z. B. § 12b Abs. 2 Nr. 2 lit. b) BGG, § 10b Abs. 2 Nr. 1 lit. b) BGG NRW). Ziel der Vorschriften in §§ 12a ff. BGG und §§ 3 ff. BITV 2.0 ist, in jedem Einzelfall eine umfassende und grundsätzlich uneingeschränkte barrierefreie Gestaltung zu verwirklichen und sicherzustellen (siehe § 1 Abs. 1 BITV 2.0).[36]

Darüber hinaus sind die konkreten Hürden für eine Ausnahme hoch. Voraussetzung ist im Einzelfall eine Maßnahme, die einer öffentlichen Stelle eine übermäßige organisatorische oder finanzielle Last auferlegen würde oder die die Fähigkeit der öffentlichen Stelle, entweder ihren Zweck zu erfüllen oder Informationen, die für die Aufgaben und Dienstleistungen erforderlich oder relevant sind, zu veröffentlichen, gefährden würde.[37] Die übermäßige organisatorische oder finanzielle Last muss ein ebenso erhebliches Gewicht haben wie die beiden anderen Gründe. Bei der erforderlichen Bewertung ist dem voraussichtlich entstehenden Nutzen oder Nachteil insbesondere für Menschen mit Behinderungen Rechnung zu tragen.[38] Die Gründe für eine Ausnahme sind von der öffentlichen Stelle zu dokumentieren und in die Erklärung zur Barrierefreiheit aufzunehmen (§ 12b Abs. 2 Nr. 1 BGG, § 9a Abs. 4 NBGG, § 12 Abs. 1 Satz 3 LBGG SH). Betroffene Nutzerinnen und Nutzer haben dadurch die Möglichkeit, die Gründe in einem Durchsetzungsverfahren nachprüfen zu lassen (vgl. z. B. § 9a Abs. 4 NBGG, § 3 Abs. 2 Satz 2 BayEGovV).[39]

2. Ausnahmeregelungen in den Ländergesetzen

Weitere Ausnahmen gibt es für bestimmte Inhalte in einzelnen Bundesländern (vgl. z. B. § 1 Abs. 2 Satz 1 BfWebG Sachsen, § 1 Abs. 2 ThürBarrWebG). Diese Ausnahmen stützen sich auf Art. 1 Abs. 4 und Abs. 5 RL (EU) 2016/2102. Soweit das Landesrecht hiervon Gebrauch macht, ist zu beachten, dass der Anwendungsbereich der Ausnahmen bereits in der Richtlinie regelmäßig durch eine Gegenausnahme eingeschränkt wird. Im Ergebnis bleibt es damit – trotz der zulässigen Ausnahmen – bei der generellen Verpflichtung, Websites und mobile Anwendungen barrierefrei zu gestalten, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

3. Begrenzungen der Ausnahmen

Wenn elektronische Dokumente und Formulare für die Erfüllung der Aufgaben einer öffentlichen Stelle notwendig sind (z.B. im Format PDF), so sind sie stets barrierefrei zu gestalten. Das Gleiche gilt für elektronische Dokumente und Formulare, die erstmals nach dem 22. September 2018 veröffentlicht wurden (Art. 1 Abs. 4 lit. a) RL (EU) 2016/2102). Dienste Dritter, die in einen Web-Auftritt oder in eine mobile Anwendung eingebunden werden, müssen barrierefrei sein, wenn sie von der betreffenden öffentlichen Stelle finanziert oder entwickelt wurden oder deren Kontrolle unterliegen. Besteht dabei die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Anbietern oder Angeboten zu wählen, muss zumindest ein Anbieter dabei sein, der seine Dienste barrierefrei anbietet (Art. 1 Abs. 4 lit. e) RL (EU) 2016/2102). Inhalte im Intranet, die nach dem 22. September 2018 veröffentlicht wurden, müssen stets barrierefrei sein. Ältere Inhalte sind spätestens bei einer grundlegenden Überarbeitung der Website barrierefrei zu gestalten (Art. 1 Abs. 4 lit. g) RL (EU) 2016/2102).

Zu beachten ist auch, dass Ausnahmen für Archive nicht zulässig sind, soweit deren Inhalte nach dem 22. September 2019 aktualisiert oder überarbeitet wurden (Art. 1 Abs. 4 lit. h) RL (EU) 2016/2102; zu Ausnahmen für aufgezeichnete zeitbasierte Medien siehe Art. 1 Abs. 4 lit. b) RL (EU) 2016/2102). Schulen, Kindergärten und Kinderkrippen in öffentlicher Trägerschaft sind verpflichtet, zumindest die Inhalte barrierefrei zu gestalten, die sich auf wesentliche Online-Verwaltungsfunktionen beziehen (Art. 1 Abs. 5 RL (EU) 2016/2102).[40] Wünschenswert wäre hier allerdings, dass sie generell wie andere öffentliche Stellen die Anforderungen an digitale Barrierefreiheit erfüllen müssen, weil damit Inklusion im Bildungswesen weiter vorangetrieben werden kann.

Beitrag von Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler und Andreas Carstens, Richter am Finanzgericht Niedersachsen, Vertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter

Fußnoten

[1] Vgl. Carstens, Barrierefreiheit der digitalen Verwaltung, in: Lühr/Jabkowski/Smentek (Hg.), Handbuch Digitale Verwaltung, 1. Aufl. 2019, S. 185–211, hier S. 189 f.

[2] ABl. L 327 vom 02.12.2016, S. 1–15.

[3] Dazu Beitragsteil III.

[4] Zum Begriff der öffentlichen Stelle, der aus den Vorschriften des Vergaberechts übernommen wurde, siehe Art. 3 Nr. 1 RL (EU) 2016/2102 und Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 RL 2014/24/EU; vgl. auch §§ 99 ff. GWB.

[5]    Fundstellen hierzu bei Carstens, Die rechtliche Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit, in: Peter/Lühr (Hg.), Handbuch Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit, 2021, S. 37–79, hier unter 2.1 am Ende.

[6] Siehe ergänzend § 2 Abs. 1 BIKTG und § 17 Abs. 4 Satz 2 JustG Bln.

[7] Dazu auch Art. 3 Nr. 1 RL (EU) 2016/2102 und § 99 Nr. 1 GWB.

[8] BGBl. I 2011, S. 1843.

[9] BGBl. I 2019, S. 738.

[10] So z. B. § 10 Abs. 1 Satz 2 L-BGG Baden-Württemberg, § 1 Abs. 1 Satz 2 BayEGovV, § 3 Abs. 3 BIKTG Bln,§ 13 Abs. 2 Satz 2 BremBGG, § 1 Satz 1 HmbBITVO, § 1 Abs. 4 BITV RhPf, § 9 Abs. 2 SBGVO Saarland, § 2 Abs. 2 Satz 1 BfWebG Sachsen, § 2 ThürBITVO sowie § 13 Abs. 3 LBGG Schleswig-Holstein.

[11] So z. B. § 11 BGGVO LSA in Sachsen-Anhalt und § 3 BITV NRW.

[12]  Hierzu sogleich unter III. 2.

[13]  Dazu auch ErwGr 19 RL (EU) 2016/2102.

[14]  ErwGr 12 und 13 RL (EU) 2016/2102.

[15] Harmonisierte Normen sind keine Rechtsnormen, sondern technische Normen; die Bezeichnung „EN“ kennzeichnet eine „Europäische Norm“ der europäischen Normungsinstitute.

[16] Zum Begriff der harmonisierten Norm Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 1025/2012.

[17] Einen ersten Normungsauftrag für den europäischen Standard EN 301 549 hatte die EU-Kommission bereits durch das Mandat M 376 erteilt; der Durchführungsbeschluss vom 27.04.2017 enthält darüber hinaus einen Normungsauftrag zur Unterstützung der RL (EU) 2016/2102.

[18] https://www.etsi.org/deliver/etsi_en/301500_301599/301549/03.02.01_60/en_301549v030201p.pdf.  

[19] Durchführungsbeschluss der Kommission vom 11.08.2021 zur Änderung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2018/2048 über die harmonisierte Norm für Websites und mobile Anwendungen, ABl. EU L 289/53.

[20] Bezug über: https://www.beuth.de.

[21] Download: http://www.w3.org/TR/WCAG21/; zu den WCAG 3.0, die erst in einigen Jahren zum neuen Standard werden sollen, siehe https://www.w3.org/WAI/standards-guidelines/wcag/wcag3-intro/.

[22] http://www.w3.org/TR/WCAG22/

[23] http://www.w3.org/TR/wai-aria

[24] Download: http://www.w3.org/TR/ATAG20.

[25] Download: https://www.w3.org/TR/UAAG20/.

[26] Diese Verpflichtung gilt auch in den meisten Bundesländern: § 10 Abs. 1 Satz 2 L-BGG Baden-Württemberg, § 1 Abs. 1 Satz 2 BayEGovV, § 3 Abs. 3 BIKTG Berlin, § 13 Abs. 2 Satz 2 BremBGG, § 1 Satz 1 HmbBITVO, § 1 Abs. 4 BITV Rheinland-Pfalz, § 9 Abs. 2 SBGVO Saarland, § 11 Abs. 3 BGGVO Sachsen-Anhalt, § 13 Abs. 3 LBGG Schleswig-Holstein, § 2 ThürBITVO.

[27] So ausdrücklich auch die Begründung zur BITV 2.0, Banz AT 29.05.2019 B1, S. 5.

[28] Ebenso der Durchführungsbeschluss (EU) 2018/1524, Anhang I, Nr. 1.2.4.

[29] Vgl. dazu auch Hellbusch, Mit barrierefreiem Webdesign zu einer besseren User Experience, in: Maaß/Rink (Hg.), Handbuch Barrierefreie Kommunikation, 2019, S. 507 ff.

[30] BGBl. I 2020, S. 768.

[31] http://www.bfit-bund.de

[32] Informationen zur barrierefreien Gestaltung und weiterführende Hinweise geben auch die Praxishilfen der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit (https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Fachwissen/Informationstechnik/informationstechnik_node.html) und das Projekt „BIK für alle“ (https://bik-fuer-alle.de/).

[33] Begründung zur BITV 2.0, BAnz AT 29.05.2019 B1, S. 4 f.

[34] Siehe ErwGr 39 der RL (EU) 2016/2102.

[35] Bundestags-Drucksache 19/2072, S. 29.

[36] Begründung zur BITV 2.0, BAnz AT 29.05.2019 B1, S. 2 und 4.

[37] ErwGr 39 RL (EU) 2016/2102; ebenso ausdrücklich § 13 Abs. 5 BremBGG.

[38] ErwGr 39 RL (EU) 2016/2102.

[39] Siehe außerdem Art. 9 Abs. 1 Satz 2 RL (EU) 2016/2102.

[40] Vgl. z. B. § 10 Abs. 5 Satz 1 BGG NRW; weitergehende Verpflichtungen für Schulen und Tageseinrichtungen für Kinder ergeben sich u. a. aus § 10 Abs. 5 Satz 2 BGG NRW, § 9 Abs. 3 Satz 1 NBGG sowie Art. 14 Abs. 1 BayBGG.


Stichwörter:

Barrierefreiheit, Barrierefreiheit (digital), Zugänglichkeit, Digitalisierung, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik (BITV 2.0)


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