Die Autoren widmen sich in dieser Beitragsreihe der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und setzen sich in sechs Teilen mit der Bedeutung digitaler Teilhabe, mit den rechtlichen Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen sowie den digitalen Barrierefreiheitsanforderungen außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen auseinander.
In diesem Teil der Beitragsreihe befassen sich die Autoren mit den Regelungen zur digitalen Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen, insbesondere in den Bereichen eGovernment, eJustice und eHealth.
(Zitiervorschlag: Boysen, Carstens: Digitale Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen – Teil IV: Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen; Beitrag E4-2024 unter www.reha-recht.de; 27.03.2024)
I. Einleitung
Diese Beitragsreihe widmet sich der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen und den hierzu geltenden rechtlichen Anforderungen. Nachdem in Beitragsteil I aufgezeigt wurde, was digitale Barrierefreiheit bedeutet, folgte eine Übersicht zu den Barrierefreiheitsanforderungen für Websites und mobile Anwendungen (Beitragsteil II) und den Maßnahmen zur Sicherstellung dieser Vorgaben (Beitragsteil III).
Dieser Beitrag befasst sich mit der digitalen Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen (insbesondere in den Bereichen eGovernment, eJustice und eHealth). Die Regelungen zur Barrierefreiheit von elektronischen Akten und Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung werden in Beitragsteil V behandelt. Schließlich werden in Beitragsteil VI die Anforderungen zur Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten und Formularen sowie die zukünftigen Herausforderungen der digitalen Barrierefreiheit in den Blick genommen.
II. Barrierefreiheit außerhalb von Websites und mobilen Anwendungen
1. eGovernment
Findet die elektronische Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung vom Antrag über die Vorlage von Unterlagen bis zum Bescheid (eGovernment) über das Internet statt, werden die öffentlichen Stellen von Bund, Ländern und Kommunen bereits durch § 12a Abs. 1 Satz 1 BGG des Bundes und die entsprechenden Vorschriften in den Behindertengleichstellungsgesetzen der Länder zur Barrierefreiheit verpflichtet. Aufgrund der verbindlichen Vorgaben der RL (EU) 2016/2102 müssen deshalb alle Inhalte, die für die aktiven Verwaltungsverfahren der von der betreffenden öffentlichen Stelle wahrgenommenen Aufgaben erforderlich sind, wie zum Beispiel elektronische Dokumente und Formulare, barrierefrei zugänglich und nutzbar sein (so auch Art. 1 Abs. 4 lit. a und h RL (EU) 2016/2102). Das gilt auch für Inhalte von Dritten, wie beispielsweise elektronische Bezahlverfahren, die der Kontrolle der betreffenden öffentlichen Stelle unterliegen, bzw. von ihr finanziert oder entwickelt wurden (Art. 1 Abs. 4 lit. e RL (EU) 2016/2102). In jedem Fall muss mindestens ein barrierefreies elektronisches Bezahlverfahren angeboten werden.
Soweit die elektronische Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürger nicht über das Internet erfolgt, ergibt sich für die Bundesbehörden zudem aus § 16 des E-Government-Gesetzes (EGovG) des Bundes eine Verpflichtung, die elektronische Kommunikation und die elektronischen Dokumente barrierefrei zu gestalten. Allerdings blieb die Vorschrift aus dem Jahr 2013 bisher hinter den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention zurück. Der Bundesrat hatte aus diesem Grund schon bei der Verabschiedung des Gesetzes gefordert, das Gesetz in Sachen Barrierefreiheit bei künftigen Gesetzesvorhaben nachzubessern.[1] Nach dem bereits erwähnten Entwurf der Bundesregierung zur Novellierung des OZG vom Mai 2023 soll § 16 EGovG deshalb die folgende Fassung erhalten:[2] „Die Behörden des Bundes gestalten die elektronische Kommunikation und die elektronischen Dokumente nutzerfreundlich und barrierefrei. Für die barrierefreie Gestaltung gilt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung entsprechend.“[3]
Neben § 9 EGovG Mecklenburg-Vorpommern enthalten auch andere Vorschriften im Landesrecht eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit beim eGovernment. So heißt es beispielsweise in § 52h LVwG Schleswig-Holstein: „Die Behörden sollen die elektronische Kommunikation und elektronische Dokumente durch angemessene Vorkehrungen nach dem Stand der Technik so ausgestalten, dass sie auch von Menschen mit Behinderung uneingeschränkt und barrierefrei genutzt werden können.“ Nach § 6 SächsEGovG gestalten die staatlichen Behörden und die Träger der Selbstverwaltung die elektronische Kommunikation und elektronische Dokumente schrittweise so, dass sie auch von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich uneingeschränkt und barrierefrei genutzt werden können. Ähnlich heißt es in § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung in Bremen (EGovG Bremen): „Die Behörden gestalten die elektronische Kommunikation und die Verwendung der elektronischen Dokumente schrittweise so, dass sie barrierefrei nach den Bestimmungen des Bremischen Behindertengleichstellungsgesetzes genutzt werden können.“ Beispielgebend ist auch das Berliner EGovG (vgl. §§ 15, 16, 18 Abs. 2 S. 4 EGovG Bln). Es normiert in § 2 Abs. 2 das Ziel, die barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Verwaltungsprozesse zu gewährleisten und sieht hierzu in § 12 Abs. 3 vor, dass auch die elektronischen Formulare der Verwaltung barrierefrei zugänglich zu machen sind. Und § 4 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung im Saarland lautet: „Die Behörden sollen bei der Einführung der elektronischen Verwaltung ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens Barrierefreiheit gewährleisten.“ Darüber hinaus gibt es weitere Vorschriften, die die Verwaltung zur Barrierefreiheit verpflichten (siehe zum Beispiel § 3a Abs. 2 Nr. 4 VwVfG).[4]
2. Vertrauensdienste (eSignatur)
Aus Art. 15 der Verordnung (EU) 910/2014 (eIDAS-VO)[5] ergibt sich zudem die Verpflichtung für Anbieter von Vertrauensdiensten, zu denen auch die qualifizierte elektronische Signatur gehört, ihre Vertrauensdienste und die zur Erbringung solcher Dienste verwendeten Endnutzerprodukte (z. B. Kartenlesegeräte) für Personen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar zu machen. Ergänzt wird diese Verpflichtung durch § 7 Abs. 1 Vertrauensdienstegesetz (VDG). Danach sind Anbieter von Vertrauensdiensten verpflichtet, soweit technisch möglich, auch mindestens ein marktübliches barrierefreies Endnutzerprodukt anzubieten.[6] Die näheren Anforderungen werden nach § 20 Abs. 1 VDG durch die Verordnung über Vertrauensdienste festgelegt (siehe deren § 1).[7] Nach § 7 Abs. 2 VDG haben die Anbieter von Vertrauensdiensten in ihrem Internetauftritt darüber zu informieren, welche Maßnahmen sie zur Barrierefreiheit der Vertrauensdienste und der zur Erbringung dieser Dienste verwendeten Endnutzerprodukte ergriffen haben. Zugleich haben sie dort Hinweise zu geben, die die Nutzung der von ihnen angebotenen Vertrauensdienste und der hierbei verwendeten Endnutzerprodukte durch Menschen mit Behinderungen erleichtern (§ 7 Abs. 2 Satz 1 VDG). Diese Hinweise sowie die Informationen, die sich an alle Verbraucher richten, müssen barrierefrei zugänglich und nutzbar sein (§ 7 Abs. 2 Satz 3 VDG). Außerdem sieht § 7 Abs. 3 VDG vor, dass Barrieren von jedermann der Aufsichtsstelle gem. § 2 VDG gemeldet werden können.
3. Elektronischer Personalausweis
Eine gesetzliche Verpflichtung zur Barrierefreiheit der Identifikationsfunktion des elektronischen Personalausweises (§ 18 PAuswG) fehlt noch immer, obwohl der DVBS e.V. und andere Verbände von Menschen mit Behinderungen eine solche Regelung seit mehr als 10 Jahren fordern.
4. eJustice
Vorschriften zur Barrierefreiheit gibt es auch für die elektronische Kommunikation mit der Justiz (eJustice). Das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten[8] aus dem Jahr 2013 sieht vor, dass alle Gerichte seit dem 1. Januar 2018 für die Kommunikation in gerichtlichen Verfahren elektronisch erreichbar sein müssen. Anwälte und Behörden sind verpflichtet, ihre Schriftsätze und Anträge nur noch als elektronische Dokumente bei Gericht einzureichen.[9] Für die elektronische Kommunikation mit den Gerichten hat jeder Anwalt ein eigenes elektronisches Anwaltspostfach erhalten (§ 31a Abs. 1 Satz 1 BRAO). Nach § 31a Abs. 3 Satz 5 soll dieses Postfach barrierefrei ausgestaltet sein. Einzelheiten dazu werden gem. § 31d Nr. 3 lit. b) in der Rechtsanwaltsverzeichnis- und ‑postfachverordnung (RAVPV) geregelt. Die dortigen §§ 6 Abs. 4 und 20 Abs. 2 wiederholen diese Sollvorschrift und verweisen auf die BITV (allerdings ohne Angabe der aktuellen Version). Weitere elektronische Übermittlungswege, die hinsichtlich der Integrität und Authentizität der übermittelten Daten als sicher angesehen werden, dürfen nur dann durch Rechtsverordnung zugelassen werden, wenn sie ebenfalls barrierefrei sind.[10] Die Verordnung zum elektronischen Rechtsverkehr und zum besonderen elektronischen Behördenpostfach vom 24. November 2017 sieht deshalb in § 6 Abs. 2 Nr. 3 ERVV vor, dass auch das neu geschaffene elektronische Behördenpostfach barrierefrei sein muss.[11] Außerdem sieht § 10 ERVV in der seit dem 1. Januar 2022 geltenden Fassung[12] ein neu zu errichtendes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach vor. Auch hier ist Barrierefreiheit zu gewährleisten (§ 10 Abs. 2 Nr. 3 ERVV).
Durch das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten wurde zugleich die Regelung in § 191a GVG neu gefasst. Seit dem 1.1.2018 sieht dessen Abs. 3 Satz 1 nunmehr für alle gerichtlichen Verfahren vor, dass elektronische Dokumente, deren Inhalt durch Schriftzeichen wiedergegeben wird, so zu gestalten sind, dass sie für blinde und sehbehinderte Personen barrierefrei zugänglich sind. Zudem normiert beispielsweise die für das Strafverfahren zu beachtende Dokumentenerstellungs- und Übermittlungsverordnung für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte in § 2 Abs. 4 DokErstÜbV, dass bei der Erstellung elektronischer Dokumente die Anforderungen an die Barrierefreiheit aus der BITV 2.0 beachtet werden sollen. Erfolgt die Übermittlung eines elektronischen Dokuments auf einem sicheren Übermittlungsweg, ist dieser barrierefrei auszugestalten (§ 191a Abs. 3 Satz 2 GVG). Wurden elektronische Formulare eingeführt (vgl. z. B. § 130c ZPO), sind diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen (§ 191a Abs. 3 Satz 3 GVG). Dabei sind die Standards aus § 3 BITV 2.0 in der jeweils geltenden Fassung maßgebend (§ 191a Abs. 3 Satz 4 GVG). Soweit ein Verfahrensbeteiligter oder ein Prozessbevollmächtigter Anspruch auf Akteneinsicht hat, ist auch diese barrierefrei zu gewähren (§ 191a Abs. 1 Satz 3 und 4 GVG). Soweit elektronische Dokumente in einem gerichtlichen Verfahren nicht ohnehin entsprechend der Verpflichtung aus § 191a Abs. 3 Satz 1 GVG barrierefrei zugänglich sind, hat eine blinde oder sehbehinderte Person, die in einem gerichtlichen Verfahren beteiligt ist oder als Prozessbevollmächtigter auftritt, ergänzend einen Anspruch auf Zugänglichmachung der elektronischen Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form nach § 191a Abs. 1 Satz 2 und 4 GVG i. V. m. §§ 1 ff. der Zugänglichmachungsverordnung (ZMV). Außerdem verlangt § 945b ZPO i. V. m. § 9 der Schutzschriftenregisterverordnung (SRV) die barrierefreie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit des elektronischen Schutzschriftenregisters.[13]
5. eHealth
Gerade für Menschen mit Behinderungen ist Barrierefreiheit im Gesundheitswesen von eminenter Bedeutung[14] – und das nicht nur im Hinblick auf räumliche Barrieren! Zu einer effektiven Nutzung ist in vielfältiger Ausprägung auch die Verwirklichung digitaler Barrierefreiheit erforderlich. Hierzu existieren im SGB V Vorschriften für die gesetzliche Krankenversicherung, die im Folgenden betrachtet werden.
Die elektronische Gesundheitskarte (§ 291 SGB V) ermöglicht den Austausch von digitalen Daten zwischen Arzt, Patient und weiteren Leistungserbringern im Gesundheitswesen (eHealth). Versicherten muss es hierzu möglich sein, auf diejenigen Inhalte zuzugreifen, die auf ihrer Gesundheitskarte gespeichert sind.[15] Nach § 311 Abs. 4 SGB V ist dabei die Einhaltung der Vorschriften zur Barrierefreiheit sicherzustellen.[16] Nach § 327 Abs. 1 Nr. 4 SGB V kann die Informations- und Kommunikationsstruktur über die Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte hinaus für weitere Anwendungen im Gesundheitswesen genutzt werden, wenn hierbei die Barrierefreiheit für den Versicherten gewährleistet ist.[17] Die elektronische Gesundheitskarte muss technisch geeignet sein, Authentifizierung, Verschlüsselung und elektronische Signatur barrierefrei zu ermöglichen (§ 291 Abs. 2 Nr. 1 SGB V).[18] Spätestens bei Versendung der elektronischen Gesundheitskarte an den Versicherten haben die Krankenkassen die Versicherten umfassend und in allgemein verständlicher, barrierefreier Form über deren Funktionsweise und Nutzungsmöglichkeiten zu informieren (§ 291 Abs. 4 SGB V). Gleichzeitig besteht die Verpflichtung, auch digitale Gesundheitsanwendungen barrierefrei zu gestalten[19] und über die elektronische Gesundheitskarte einen barrierefreien Zugriff hierauf zu ermöglichen (§ 336 Abs. 1 SGB V).
Nach § 341 Abs. 1 SGB V ist Versicherten von den Krankenkassen auf Antrag eine elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen. Mit ihr sollen den Versicherten auf Verlangen Informationen, insbesondere zu Befunden, Diagnosen, durchgeführten und geplanten Therapiemaßnahmen sowie zu Behandlungsberichten, für eine einrichtungs-, fach- und sektorenübergreifende Nutzung für Zwecke der Gesundheitsversorgung barrierefrei elektronisch bereitgestellt werden (§ 341 Abs. 1 Satz 3 SGB V).[20] Ergänzt wird dies durch § 343 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben die Krankenkassen den Versicherten zur elektronischen Patientenakte umfassendes und geeignetes Informationsmaterial in einer leicht zugänglichen und verständlichen Form barrierefrei zur Verfügung zu stellen.
Patienten, die Medikamente einnehmen, haben Anspruch auf einen Medikationsplan, der auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden kann (§ 358 Abs. 2 SGB V).[21] Er muss nach § 31a Abs. 2 Satz 2 SGB V den besonderen Belangen von blinden und sehbehinderten Patienten Rechnung tragen und deshalb barrierefrei sein.[22]
Darüber hinaus ergeben sich zahlreiche weitere Verpflichtungen, Informationen barrierefrei zur Verfügung zu stellen, aus §§ 132l Abs. 8, 219d Abs. 4, 391 Abs. 1, 358 Abs. 6, 65c Abs. 10 SGB V und § 21 Abs. 5 DiGAV.
Im Rahmen eines Modellprojektes können bei den Sozialversicherungswahlen im Jahr 2023 die Wahlen der Vertreter der Versicherten in einem elektronischen Wahlverfahren über das Internet (Online-Wahl) durchgeführt werden (§ 194a Abs. 1 SGB V); Voraussetzung ist, dass die jeweilige Krankenkasse dies auch in ihrer Satzung vorsieht. Nach § 194b Abs. 3 Nr. 9 SGB V haben Krankenkassen hierbei sicherzustellen, dass bei den Wahlen eine Stimmabgabe per Online-Wahl barrierefrei durchgeführt werden kann.
Beitrag von Uwe Boysen, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen i. R. und Diplomsozialwissenschaftler und Andreas Carstens, Richter am Finanzgericht Niedersachsen,
Vertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter
Fußnoten
Barrierefreiheit (digital), Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik (BITV 2.0), Zugänglichkeit, Digitalisierung, Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Europarecht (EU-Recht), Elektronische Information
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