13.09.2024 Rechtsprechung
Verfassungsblog: Gleichberechtigter Zugang intellektuell beeinträchtigter Menschen zur Justiz
Im Herbst 2020 hatte die Beschäftigte einer Werkstatt (WfbM) Anzeige gegen ihren Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung erstattet. Nachdem das Ermittlungsverfahren (Az. 80/22) durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingestellt worden war, kam der Verfassungsgerichtshof Berlin (Berl VerfGH) am 19. Juni 2024 zu dem Schluss, dass diese Einstellung verfassungswidrig war. Im Portal „Verfassungsblog“ hat sich die Juristin Prof. Dr. Julia Zinsmeister mit der Entscheidung auseinandergesetzt.
In ihrer Besprechung skizziert die Autorin zunächst den konkreten Sachverhalt und widmet sich sodann seiner generellen Aussagekraft. Die Beschwerdeführerin hatte sich dagegen gewehrt, dass die Berliner Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hatte mit der Begründung, sie sei nicht fähig eine Aussage zu machen. Aufgrund ihrer geistigen Einschränkungen sei sie nicht ausreichend fähig, „Handlungen vom Komplexitätsgrad der verfahrensgegenständlichen Handlungen wahrzunehmen, zu erinnern und sprachlich wiederzugeben“, so die Berliner Strafjustiz konkret. Die Rechtsanwältinnen der Beschwerdeführerin kritisierten gravierende fachliche Mängel in der Begutachtung und sahen in der fehlenden Würdigung der Aussage ihrer Mandantin und ihrer Behandlung im Ermittlungsverfahren eine strukturelle Diskriminierung gegen Frauen mit Behinderungen. Der sechste Strafsenat habe die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin (VvB) verletzt, urteilte nun auch der VerfGH in Berlin. Das Verfahren wurde an das Kammergericht zurückverwiesen mit dem Hinweis, dass sich spezifische Verpflichtungen für die diskriminierungsfreie Ausgestaltung und Durchführung des Verfahrens ergeben. Diese gingen aus dem Verbot der Geschlechterdiskriminierung (Art. 10 Abs. 2 VvB), dem Gleichstellungsgebot (Art. 10 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 VvB), dem Verbot der Diskriminierung wegen der Behinderung und der Verpflichtung des Landes Berlin, gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung zu schaffen (Art. 11 Satz 1 und 2 VvB) hervor. Um die Rechtsweggarantie des Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB zu sichern, habe die Berliner Strafjustiz gemäß Art. 13 Abs. 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) dafür Sorge zu tragen, dass die Beschwerdeführerin gleichberechtigten Zugang zum Gerichtsverfahren erhalte, und zwar in sämtlichen Phasen des Strafverfahrens.
Einstellungsbedingte Barrieren
Zinsmeister beruft sich auf Ergebnisse einer Untersuchung des Schweizer Kompetenzzentrums Gewalt, Devianz und Opferschutz mit dem vielsagenden Titel „Juristen könnten genauso gut würfeln: zur Situation geistig behinderter Opfer sexueller Gewalt im Strafverfahren“, wenn sie von „einstellungsbedingten Barrieren“ spricht. Hier ermittelten Forschende im Wege der qualitativen Auswertung von 57 Strafverfahrensakten, welche Vorannahmen Polizistinnen und Polizisten, Juristinnen und Juristen, Gutachterinnen und Gutachter sowie Sozialarbeiterinnen und -arbeiter bezogen auf Verfahrensbeteiligte mit der Diagnose einer „geistigen Behinderung“ mitbringen und wie sich diese Kenntnisse und Einstellungen auf ihre Beurteilung der angezeigten Fälle im Verfahren auswirken. „In jeder fünften Verfahrensakte fanden sich Hinweise auf den zweifachen Fehlschluss von Verfahrensbeteiligten, dass ‚geistig behinderte‘ Zeug*innen unattraktiv und deshalb seltener von sexualisierter Gewalt bedroht seien.“ Dies verleitete sie dazu, die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Zeuginnen und Zeugen an deren (mutmaßlicher) Attraktivität zu messen. Im Übrigen lehnten Betroffene die Bezeichnung „geistig behindert“ vielfach als diskriminierend ab und forderten, als „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ oder „anderen Lernmöglichkeiten“ bezeichnet zu werden, erläutert Zinsmeister.
Im Berliner Verfahren hatte die anwaltliche Vertretung der Beschwerdeführerin die Ermittlungsbehörden und die Gutachterin frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Zeugin Leichte Sprache benötigt. „Können die bestehenden Kommunikationsbarrieren nicht abgebaut werden, sieht Nr. 21 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) die Möglichkeit vor, eine Vertrauensperson der Zeug*innen als Sprachmittlerin hinzuzuziehen“, erklärt Zinsmeister. Äußern sich kognitiv beeinträchtige Zeuginnen und Zeugen knapp, oberflächlich und detailarm zum Tatverlauf oder den -umständen, ließen sich daraus noch keine Rückschlüsse auf die (mangelnde) Erlebnisbegründetheit der Aussage ziehen, sondern dies könne auf ihren eingeschränkten Wortschatz oder ihre eingeschränkte zeitliche oder räumliche Orientierung zurückzuführen sein.
Angepasstes Zeitmanagement und andere angemessene Vorkehrungen
Notwendig aus Sicht der Autorin und überdies gesetzlich vorgesehen sind angemessene Vorkehrungen. Ihre Verweigerung stelle eine Diskriminierung dar (§ 5 LGBG). „Zu den Maßnahmen, die im Strafverfahren beansprucht werden können, zählen der Abbau konkreter Barrieren aber auch ein angepasstes Zeitmanagement: Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten brauchen meist mehr Zeit, um Informationen zu verarbeiten, und ggf. auch längere Pausen.“ Verschiedene Studien wiesen zudem darauf hin, wie wichtig offen formulierte Fragen seien. Sehe sich die Strafjustiz nicht in der Lage, die Aussagen kognitiv beeinträchtigter Zeuginnen und Zeugen richtig einzuordnen, könne und solle sie sich dazu der besonderen Sachkunde von psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen bedienen. In dem konkreten Fall war dies geschehen, allerdings beschreibt Zinsmeister auch hier gravierende Mängel.
Schließlich spricht sich Julia Zinsmeister für die Etablierung einheitlicher Standards durch Überarbeitung der RiStBV und Schulungen von im Justizwesen tätigen Personen aus, zu deren Förderung Art. 13 Abs. 2 UN-BRK die Vertragsstaaten auch verpflichte. Der zuständige UN-Fachausschuss habe 2023 kritisiert, dass Deutschland diese Pflicht bisher nur mangelhaft umsetze.
Zum Beitrag auf verfassungsblog.de
(Quelle: Verfassungsblog)
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