30.11.2018 D: Konzepte und Politik Dittmann: Beitrag D37-2018

Bessere Sicherung bei Erwerbsminderung – Gesetzesentwurf zur besseren Absicherung bei Erwerbsminderung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales

Im vorliegenden Beitrag fasst René Dittmann die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung sowie der schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen zum Regierungsentwurf des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz zusammen. Mit diesem Gesetz wird unter anderem das Ziel verfolgt, die finanzielle Absicherung des Risikos Erwerbsminderung zu verbessern, was unter den Sachverständigen weitgehend Anklang fand. Die Sachverständigen haben neben der Beurteilung der Leistungsverbesserung bei Erwerbsminderung zu den möglichen Anreizeffekten des Gesetzes, zu der Situation der bereits vor dem 01.01.2019 bewilligten Erwerbsminderungsrenten und zu den Abschlägen bei der Berechnung einer Erwerbsminderungsrente Stellung genommen. Zudem kamen weitergehende Reformvorschläge zur Sprache, die sich auf die Entkopplung der sozialen Absicherung bei Alter und Erwerbsminderung, die Rolle der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen oder die Möglichkeiten der Rehabilitation bei eingeschränkter Erwerbsfähigkeit bezogen. Abzuwarten bleibt, ob die Diskussion rund um die Erwerbsminderungsrente im Laufe der Wahlperiode weitergeführt wird.

(Zitiervorschlag: Dittmann: Bessere Sicherung bei Erwerbsminderung – Gesetzesentwurf zur besseren Absicherung bei Erwerbsminderung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales; Beitrag D37-2018 unter www.reha-recht.de; 30.11.2018)

I. Gesetzesentwurf zur besseren Absicherung bei Erwerbsminderung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz)

Am 28.08.2018 legte die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz)[1] vor. Neben Veränderungen bei der gesetzlichen Alterssicherung („doppelte Haltelinie“), der „Mütterrente“ und der bisherigen Gleitzone für Geringverdienende soll die finanzielle Sicherung bei Erwerbsminderung (EM) verbessert werden.

Bereits in der 18. Legislaturperiode waren mit dem RV-Leistungsverbesserungsgesetz[2] und dem EM-Leistungsverbesserungsgesetz[3] die Zurechnungszeiten für neu bewilligte Erwerbsminderungsrenten zwei Mal verlängert worden. Bei der Zurechnungszeit handelt es sich um eine Rechengröße, mit der Erwerbsgeminderte so gestellt werden sollen, als hätten sie mit dem bis zum Eintritt der Erwerbsminderung durchschnittlich erzielten Einkommen bis zu einem bestimmten Alter weitergearbeitet. Das RV-Leistungsverbesserungsgesetz verlängerte die Zurechnungszeit von 60 auf 62 Jahre, mit dem EM-Leistungsverbesserungsgesetz wurde sie schrittweise ab dem 01.01.2018 vom 62. auf das vollendete 65. Lebensjahr (ab dem 01.01.2024) erhöht.

Dennoch sind, so die Begründung des Gesetzentwurfs, Menschen, die „krankheitsbedingt vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden oder nur noch eingeschränkt erwerbstätig sein können, […] oftmals nicht gut genug abgesichert.“[4] Daher sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, „das Ende der Zurechnungszeit für Rentenzugänge im Jahr 2019 in einem Schritt auf das Alter von 65 Jahren und acht Monaten“ zu verlängern und „ab dem Jahr 2020 das Ende der Zurechnungszeit schrittweise auf das vollendete 67. Lebensjahr“[5] anzuheben.[6]

Der Regierungsentwurf des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes sowie darauf bezogene Fraktionsanträge[7] waren am 05.11.2018 Gegenstand der Sachverständigenanhörung im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales[8]. Im Zusammenhang mit der Erwerbsminderungsrente hat die Fraktion DIE LINKE in ihrem Antrag „Die Erwerbsminderung stärken“[9] u. a. die Abschaffung der Abschläge bei der Berechnung von Erwerbsminderungsrenten sowohl für Bestandsrenten als auch für Neuzugänge gefordert[10]. Dies wird von der Bundesregierung im Gesetzesentwurf abgelehnt, denn „[d]ie Abschläge haben sowohl bei den Renten wegen Erwerbsminderung als auch bei den vorzeitigen Altersrenten die Funktion, die längere Rentenlaufzeit auszugleichen.“[11]

Der Beitrag liefert eine Zusammenfassung der schriftlichen Stellungnahmen der eingeladenen (und nicht eingeladenen) Verbände und der Einzelsachverständigen[12] sowie der Sachverständigenanhörung zu der geplanten Gesetzesänderung der Erwerbsminderungsrente.

II. Aspekte des Gesetzesentwurfes und jeweilige Stellungnahmen

1. Leistungsverbesserung bei Erwerbsminderungsrenten durch die Anhebung der Zurechnungszeit

Fast alle Sachverständigen begrüßen die beschleunigte Anhebung der Zurechnungszeiten bei der Erwerbsminderungsrente[13]. Prof. Dr. Felix Welti (Kassel) weist darauf hin, dass ein angemessenes soziales Sicherungsniveau bei Erwerbsminderung aufgrund sozialpolitischer, verfassungs- und völkerrechtlicher Erwägungen geboten sei. Die Sozialpolitik habe die Aufgabe durch den Ausgleich von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit die politische Legitimation und rechtliche Legitimität des Rentenversicherungssystems zu gewährleisten. Diese seien jedoch durch Reformen seit 1997 (z. B. Verzicht auf Mindestsicherungselemente in der Rentenversicherung und Anhebung des Renteneintrittsalters) gefährdet. Der Verweis auf private Vorsorge sei bei Erwerbsminderung problematisch, denn sie werde insbesondere von geringverdienenden Versicherten nur wenig genutzt und sei für gesundheitlich vorbelastete Personen und solche in gesundheitsgefährdenden Berufen unmöglich.[14] Prof. Dr. Martin Werding (Bochum) betont zudem, dass die Erwerbsminderungsrente zur Bewältigung der demographischen Alterung in der gesetzlichen Rentenversicherung notwendig sei. Es müsse berücksichtigt werden, dass Erwerbsminderungsrentenbezieher im Falle der Anhebung der Regelaltersgrenze keine Möglichkeit haben, ihr Erwerbsverhalten an die rechtlichen Anforderungen anzupassen. Diese Funktion sei daher durch Änderungen bei der Erwerbsminderungsrentenbemessung zu übernehmen.[15]

Hinsichtlich der Zurechnungszeit bestehe, so Welti, ein Missverhältnis zwischen den von der Rentenversicherung abgesicherten Risiken Alter und Erwerbsminderung, das durch die im Jahr 2014 und 2017 beschlossenen Anhebungen der Zurechnungszeit bei der Erwerbsminderungsrentenberechnung in einem ersten Schritt korrigiert wurde. Die nun geplante schnelle Anhebung auf die Regelaltersgrenze sei ein wichtiger und konsequenter Schritt zu einer angemessenen Sicherung des Risikos der Erwerbsminderung.[16] Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) betont in der Anhörung, dass die Anpassung der Zurechnungszeit an die Regelaltersgrenze den sozialen Ausgleich stärken werde und für die gesetzliche Rentenversicherung sachgerecht sei, denn für die einzelnen Erwerbsgeminderten könne eine Lohnersatzleistung angeboten werden. Laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) komme durch die geplante Reform eine Erhöhung der Erwerbsminderungsrente von 7,5 % bis 10,5 % in Betracht.[17] Nach einer Berechnung der DRV Bund bekomme eine Person, der ein Beschäftigungsbeginn ab dem 25. Lebensjahr, ein durchschnittlicher Gesamtleistungswert von 0,8 Entgeltpunkten und ein Renteneintrittsalter von 50 Jahren unterstellt wird, bei Erwerbsminderungsrentenbeginn im Jahr 2018 eine Bruttorente in Höhe von 850 €, bei Rentenbeginn im Jahr 2019 eine Bruttorente in Höhe von 930 €.

Nach Ansicht der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) schießt die Verbesserung der Erwerbsminderungsrenten über das vertretbare Maß hinaus, denn diese würden künftig bei vergleichbarer Versicherungsbiographie deutlich höher ausfallen als Altersrenten. Kritisiert wird, dass von der 2017 beschlossenen stufenweisen Anhebung der Zurechnungszeit von 62 auf 65 Jahre bis 2024 abgewichen, hingegen die stufenweise Anhebung der abschlagsfreien Altersgrenze (§ 264d SGB VI) beibehalten werde. Dies habe zur Folge, dass die Zurechnungszeit über die abschlagsfreie Altersgrenze angehoben werde und somit eine nicht vertretbare Ungleichbehandlung von Erwerbsminderungs- und Altersrenten entstehe. Insgesamt widerspreche die Anhebung auch dem Zweck der Zurechnungszeit, denn sie soll Erwerbsgeminderten eine Erwerbsbiografie unterstellen, wie sie bei nicht Erwerbsgeminderten üblich ist. Die Zurechnung einer längeren Erwerbsbiografie sei deshalb nicht begründet, weil das tatsächliche Erwerbsaustrittsalter im Durchschnitt bei 63 Jahren liege.

Der DGB weist in der Sachverständigenanhörung darauf hin, dass Erwerbsgeminderte, anders als Menschen, die eine vorzeitige Altersrente in Anspruch nehmen, keine Wahlmöglichkeit bezüglich des Zeitpunkts des Leistungseintritts haben und es zudem Sinn der Zurechnungszeit sei, die eingeschränkte Erwerbsfähigkeit zu kompensieren und eine höhere Rente auszuzahlen als tatsächlich Rentenansprüche aufgebaut wurden.

2. Anreize zur vermehrten Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente

In ihren Stellungnahmen führen die DRV Bund sowie Werding aus, dass die neuen Bemessungsmodalitäten dazu führen können, dass mehr Erwerbsminderungsrenten beantragt werden könnten[18] und die Verwaltung dadurch mehr Aufwand haben könnte, denn eine ab dem 63. Lebensjahr in Anspruch genommene Erwerbsminderungsrente falle höher aus, als eine zur gleichen Zeit in Anspruch genommene vorgezogene Altersrente. Die Unterschiede in der Leistungshöhe seien jedoch grundsätzlich verständlich, denn anders als Altersrentner werden erwerbsgeminderte Versicherte aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert weitere Rentenanwartschaften zu erwerben.[19]

Der DGB findet diesen Vergleich sozialpolitisch unsinnig und kritisiert, dass damit eine dringend notwendige Leistungsverbesserung bei Erwerbsminderung bewusst in schlechtes Licht gestellt und obendrein den Betroffenen indirekt ein Missbrauch unterstellen wird. Ein solcher Vergleich könne zudem dazu führen, dass die Erwerbsminderungsrente an sich als ein Vorteil begriffen werde, da sie zu einem weit früheren Zeitpunkt beginnen kann. Auch ignorierten die Anreiz-Überlegungen, dass der Erwerbslohn viel höher liege als eine Erwerbsminderungsrente. Des Weiteren sei bereits heute schon ein Ausweichverhalten beobachtbar – allerdings in die andere Richtung. Hinter der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente anstelle einer Erwerbsminderungsrente stehe vielfach der Wunsch nach einem planbaren Übergang, statt eines langwierigen Verfahrens zur Feststellung der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit[20]. Insgesamt sei die Diskussion um ein Ausweichverhalten abwegig, zumal bei 95 % aller Versicherten die Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Lebensjahr beginne. Die Debatte lenke vom eigentlichen Problem ab, nämlich denjenigen Personen, die zu gesund für eine Erwerbsminderungsrente aber deutlich zu krank für den Arbeitsmarkt seien[21]. Es gelte, sich dieser Personengruppe zuzuwenden und keine Diskussion über Überholvorgänge zu führen.

3. Verbesserungen für bestehende Erwerbsminderungsrenten

Die Menschen, die schon bisher Erwerbsminderungsrente beziehen, bleiben von der geplanten Leistungsverbesserung ausgeschlossen. Dies könne dazu führen, so die DRV Bund, dass eine Erwerbsminderungsrente, die im Januar 2019 beginne um 100 € höher ausfalle als eine im Dezember 2018 beginnende Erwerbsminderungsrente. Trotz dieses erheblichen Unterschieds in der Leistungshöhe sei die Stichtagsregelung zulässig und sozialpolitisch nachvollziehbar.[22] Die anderen Sachverständigen sehen die Nicht-Berücksichtigung der Bestandsrenten kritisch und für die Betroffenen als schwer verständlich[23].

Erfreulicherweise stehe, so Welti, die gesamte Reformdiskussion im Zusammenhang mit der Frage, ob die Rentenversicherung ihre gesetzlichen Ziele erfülle, insbesondere ob Armut im Alter vermieden werden könne. Dieses Ziel werde bei Erwerbsminderungsrentnern, insbesondere bei denjenigen, die ab 2001 in Rente gegangen sind, häufig verfehlt. Neben den niedrigen Rentenzahlbeträgen, bestehe das Problem, dass häufig der gesamte Haushaltskontext prekär sei – auch deshalb, weil in vielen Fällen keine private Vorsorge möglich war. Die Verlängerung der Zurechnungszeit sei eine Maßnahme zur Armutsvermeidung, die allerdings eine große Lücke enthalte, wenn diejenigen nicht berücksichtigt werden, die schon eine Rente erhalten. Damit sei auch tendenziell ein verfassungsrechtliches Gleichbehandlungsproblem verbunden, denn betroffen seien vor allem diejenigen, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes keine Chance mehr haben, die Erwerbsminderungsrente auch nur vorübergehend zu verlassen. Allein ein Verweis auf finanzielle Stabilität legitimiere nicht die Ausnahme von Verbesserungen für eine besonders schlecht gestellte Gruppe. Welti fordert daher für Versicherte, die zwischen 2001 und 2018 in eine noch laufende Erwerbsminderungsrente oder in eine mittlerweile als Altersrente gezahlte Erwerbsminderungsrente gegangen sind, einen wirkungsgleichen Zuschlag (z. B. prozentual oder pauschal) zur Rente vorzusehen. Bei bereits in Altersrenten umgewandelte Erwerbsminderungsrenten komme ein Zuschlag auf Antrag in Betracht.[24] Der DGB sieht die praktikabelste Form in einem Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten. Die dafür aufzuwendenden Mehrkosten könnten, je nach Ausgestaltung, zwischen 1,5 und 7 Milliarden Euro pro Jahr liegen.

4. Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) begrüßt zwar die Anhebung der Zurechnungszeit, hält jedoch die Abschaffung der Abschläge[25] für besser, denn für Betroffene sei das System der Abschläge nicht verständlich und werde als Bestrafung für eine Situation empfunden, in die sie nicht freiwillig geraten seien.[26] Auch DGB[27], Sozialverband VdK Deutschland (VdK)[28], dbb beamtenbund und tarifunion[29] und AWO Bundesverband[30] fordern die Abschaffung der Abschläge, denn anders als bei Altersrenten sei die längere Rentenlaufzeit immanenter Zweck der Erwerbsminderungsrente. Der vorzeitige Renteneintritt ist das abgesicherte Risiko und könne nicht freiwillig gewählt werden. Auch Welti meint, Abschläge kämen allenfalls dann in Betracht, wenn die Erwerbsminderung in einem Alter eintritt, in dem auch eine vorzeitige Altersrente möglich ist.[31] Mit Blick auf die von DRV Bund benannten möglichen Effekte bei der Personengruppe der über 60-Jährigen wäre daher zu überlegen, die Abschläge nur für die Personen abzuschaffen, die wesentlich früher in Erwerbsminderungsrente gehen. Dort könnten Effekte einer Verhaltenssteuerung nicht eintreten und insbesondere bei dieser Gruppe seien die Abschläge systemwidrig.

Prof. Dr. Gerhard Bäcker (Duisburg) hält die Abschaffung der Abschläge hingegen nicht für sinnvoll. Bei einer Kombination von erhöhten Zurechnungszeiten und abgeschafften Abschlägen würden Erwerbsminderungsrentenempfänger bei der Höhe der Rente bessergestellt als Rentner, die zeitgleich eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen.[32] Die DRV Bund lehnt die Abschaffung der Abschläge ab, denn sie würden durch die Verlängerung der Zurechnungszeit kompensiert. Zudem wäre die Abschaffung mit Mehrausgaben von drei Milliarden Euro im Jahr 2019 verbunden.[33] Die Abschaffung der Abschläge für Jüngere, wie von Welti vorgeschlagen, müsste auf die damit verbundenen Effekte genauer geprüft und mit Blick auf das Äquivalenzprinzip bewertet werden.

5. Entkopplung der Absicherung der Risiken Alter und Erwerbsminderung

Grundsätzlicher Reformbedarf, der im Rahmen der von der Bundesregierung eingesetzten Rentenkommission sowie vom Bundestag wiederaufgegriffen werden sollte, besteht laut Welti bezüglich der Verknüpfung der Risiken Alter und Invalidität innerhalb eines Systems. Es sollte erwogen werden, das Risiko der Erwerbsminderung systematisch von der Altersrente zu entkoppeln.[34] In der Anhörung führte Welti aus, dass in anderen Ländern die Kopplung der beiden Risiken nicht oder nicht mehr besteht, weil sich die jeweiligen sozialpolitischen Steuerungsmechanismen auseinanderentwickelt haben. Dies scheine auch in Deutschland der Fall zu sein, mit der Folge eines besonderen Armutsproblems bei Erwerbsminderungsrentnern. Es könne daher darüber nachgedacht werden, ob das Risiko der Erwerbsminderung eher wie Krankheit und Arbeitslosigkeit abgesichert werden müsse – durch eine befristete Lohnersatzleistung („Erwerbsminderungsgeld“) mit Einkommensersatz- und Grundsicherungskomponente[35]. Ähnlich wie in den Niederlanden[36] könne dabei der Fokus auf die Befristung gestärkt werden, indem eine bessere wirtschaftliche Sicherung durch eine stärkere Ausrichtung auf Prävention und Rehabilitation zur Verhinderung der dauerhaften Erwerbsminderung ergänzt werde. Für ein solches Modell scheine eine Beitragsfinanzierung geeignet.

6. Weiterer Reformbedarf hinsichtlich der sozialen Sicherung bei Erwerbsminderung

Welti stellt die Frage, ob und wie die bisherigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Erwerbsminderungsrente beibehalten werden sollten, denn es liege eine Benachteiligung von Menschen vor, die von Geburt an oder seit der Jugend eine Behinderung haben und dadurch erwerbsgemindert sind. Der Weg in die rentenversicherte Solidargemeinschaft führe nur über eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM). Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen habe die Sonderstellung der WfbM-Beschäftigten beim Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu Recht als eine Barriere für einen inklusiven Arbeitsmarkt problematisiert.[37] [38]

Ein weiteres Problem sei, dass die Erwerbsminderungsrente regelhaft befristet gewährt werde, die übrigen Normen des Arbeits- und Sozialrechts[39] damit jedoch nicht abgestimmt seien.[40]

Die DRV Bund weist in der Sachverständigenanhörung auf das Problem der Rückkehr in die Arbeitswelt hin. 98 % der befristeten Erwerbsminderungsrentner würde eine Rückkehr nicht gelingen[41]. Notwendig sei laut Welti eine früh ansetzende, bedarfsgerechte Rehabilitation[42]. Allerdings sei während des befristeten Erwerbsminderungsrentenbezugs Rehabilitation nur eingeschränkt möglich. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation werden nicht vor Ablauf von vier Jahren nach Durchführung solcher oder ähnlicher Leistungen erbracht (§12 Abs. 2 SGB VI). Falls im Jahr vor der Berentung eine Rehabilitation in Anspruch genommen wurde, könne dies somit zum Leistungsausschluss während einer dreijährigen Befristung führen. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz könne zudem durch eine noch stärkere Nutzung der stufenweisen Wiedereingliederung sowie durch eine Stärkung des betrieblichen Eingliederungsmanagements unterstützt werden. Zudem müssten die existierenden Regelungen zur Kooperation, Koordination und Vereinheitlichung der Rehabilitationsleistungen[43] in der Praxis umgesetzt werden. Verbesserungspotential sieht Welti bei der Zusammenarbeit zwischen Rehabilitation und akuter Krankenbehandlung sowie bei der Anregung und Unterstützung von Rehabilitation durch Haus- und Fachärzte.[44]

III. Ausblick

Der Bundestag hat den Gesetzesentwurf der Bundesregierung über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der Rentenversicherung, in der vom Ausschuss für Arbeit und Soziales geänderten Fassung[45], am 08.11.2018 angenommen. Von den beschlossenen Änderungen des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Gesetzentwurf ist die Erwerbsminderungsrente nicht betroffen, d. h. wie von der Bundesregierung vorgeschlagen, wird für Erwerbsminderungsneurenten dem 01.01.2019 die Zurechnungszeit auf 65 Jahre und 8 Monate erhöht. Ab dem Jahr 2020 wird die Zurechnungszeit schrittweise auf das 67. Lebensjahr angehoben. Hinsichtlich der Rechtslage zu den Abschlägen ergeben sich keine Änderungen. Ob die Diskussion, wie von mehreren Sachverständigen nahegelegt, im Laufe der Wahlperiode noch einmal vom Gesetzgeber aufgenommen wird, bleibt zu beobachten.

Beitrag von René Dittmann, LL.M., Universität Kassel

Fußnoten

[1] Abrufbar unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-rv-leistungsverbesserungs-und-stabilisierungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=5. Seit dem 01.10.2018 als Bundestags-Drucksache 19/4668 verfügbar.

[2] Vom 23. Juni 2014, BGBl. I, S. 787; siehe dazu: https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/gesetz-ueber-leistungsverbesserungen-in-der-gesetzlichen-rentenversicherung-beschlossen/ (zuletzt abgerufen am 29.11.2018).

[3] Vom 17.07.2017, BGBl. I, S. 2509; siehe dazu: https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/anhoerung-zu-leistungen-bei-renten-wegen-verminderter-erwerbstaetigkeit/ (zuletzt abgerufen am 29.11.2018)

[4] Bundestags-Drucksache 19/4668, S. 1.

[5] Ebd., S. 2 f.

[6] Zu den Problemen im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung bei Erwerbsminderung: Welti/Groskreutz: Soziales Recht zum Ausgleich von Erwerbsminderung – Reformoptionen für betriebliche Prävention und Rehabilitation (Teil 1 und Teil 2); Forum D, Beitrag D8-2014 und D9-2014 unter www.reha-recht.de 05.05.2014.

[7] Bundestags-Drucksache 19/4843, Bundestags-Drucksache 19/29 und Bundestags-Drucksache 19/31.

[8] Eine Videoaufzeichnung der Anhörung ist abrufbar unter: https://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMTgva3c0NS1wYS1hcmJlaXQtc296aWFsZXMtcmVudGVudmVyc2ljaGVydW5nLzU3NTM0Ng==&mod=mod531790 (zuletzt abgerufen am 29.11.2018). Die elektronische Vorabfassung des Wortprotokolls ist abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/572494/8a2680205dd03b4e2b8040e82c4f59f3/wortprotokoll-vorabfassung-data.pdf (zuletzt abgerufen am 29.11.2018).

[9] Bundestags-Drucksache 19/31.

[10] Ebd. S. 2.

[11] Bundestags-Drucksache 19/4668, S. 3.

[12] Die Stellungnahmen sind abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/572490/5f0bba21e8a0f026f5988e4136a1cffc/materialzusammenstellung-data.pdf (Ausschussdrucksache 19(11)180neu), https://www.bundestag.de/blob/576832/0a8675bf008b84671aa4cae2fbe8cb1a/stellungnahme-dbb-data.pdf (Ausschussdrucksache 19(11)187) und https://www.bundestag.de/blob/576834/bab3e9ee56a4d4b2dbe62e597ae4baa4/stellungnahme-awo-bundesverband-data.pdf (Ausschussdrucksache 19(11)188).

[13] Siehe Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 22 (DGB), S. 32 f. (Welti), S. 40 (SoVD), S. 46 (Werding), S. 51 (Bomsdorf), S. 74 (VdK); Ausschussdrucksache 19(11)187, S. 2 (dbb beamtenbund und tarifunion); Ausschussdrucksache 19(11)188, S. 3 (AWO).

[14] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 32–34.

[15] Ebd., S. 46 f.

[16] Ebd., S. 32–34.

[17] Ebd., S. 22 f.

[18] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 47 und 64.

[19]  Ebd., S. 64.

[20] Siehe dazu: Dittmann: Erwerbsminderungsrenten – Ergebnis gescheiterter Biographien oder gescheiterter Institutionen?; Beitrag D9-2018 unter www.reha-recht.de; 13.04.2018, S. 2 f.; Brussig: Zur Organisation sozialmedizinischer Gutachten im Erwerbsminderungsrentenverfahren; Beitrag C4-2018 unter www.reha-recht.de; 08.06.2018

[21] Siehe dazu auch die Stellungnahme des DGB: Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 23.

[22] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 64

[23] Vgl. Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 29 (Bäcker), S. 40 (SoVD), S. 51f. (Bomsdorf), S. 59 (BDA), S. 74 (VdK), Ausschussdrucksache 19(11)187, S. 2 (dbb beamtenbund und tarifunion); Ausschussdrucksache 19(11)188, S. 4 (AWO).

[24] Vgl. Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 34.

[25] Von einem Abschlag bei der Erwerbsminderungsrente spricht man, wenn der Zugangsfaktor (§ 77 SGB VI) aufgrund einer vor dem 65. Lebensjahr in Anspruch genommenen Erwerbsminderungsrente reduziert wird. Der Zugangsfaktor bestimmt die Höhe der bei der Rentenberechnung zu berücksichtigenden persönlichen Entgeltpunkte (§ 66 Abs. 1 SGB VI). Die Abschläge sollen bei vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten die längere Rentenlaufzeit ausgleichen (vgl. von Koch, in: Kreikebohm SGB VI, Kommentar, 5. Auflage 2017, § 77, Rn. 2). Mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I, S. 1827) wurden die Abschläge auch für Erwerbsminderungsrenten eingeführt, um „Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit [entgegenzuwirken]“ (BundestagsDrucksache 14/4230, S. 26).

[26] Ausschussdrucksache 19(11)180neu., S. 40.

[27] Ebd., S. 22.

[28] Ebd., S. 74.

[29] Ausschussdrucksache 19(11)187, S. 2.

[30] Ausschussdrucksache 19(11)188, S. 3 f.

[31] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 34 f.

[32] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 29.

[33] Ebd., S. 64.

[34] Ebd., S. 37.

[35] Ebd.

[36] Siehe Mittag/Welti: Vergleich der sozialen Sicherung und beruflichen Wiedereingliederung bei Erwerbsminderung in drei europäischen Ländern (Deutschland, Niederlande und Finnland); Beitrag D2-2017 unter www.reha-recht.de; 25.01.2017; Reese/Mittag: Wiedereingliederung und soziale Sicherung bei Erwerbsminderung – Vergleichsstudie für die EU-Länder Niederlande und Deutschland (Teil 1 und Teil 2); Forum D, Beiträge D10-2014 und D11-2014 unter www.reha-recht.de, 06.05.2014.

[37] CRDP/C/DEU/CO/1, Nr. 49; siehe auch Schreiner, Sozialhistorischer Meilenstein oder soziale Isolation? – Werkstätten für behinderte Menschen im Zwielicht; Beitrag D49-2017 unter www.reha-recht.de; 20.10.2017, S. 4.; Zum arbeitsrechtlichen Status der Beschäftigten einer WfbM: EuGH, Urt. v. 26.03.2015, C-316/13 (Fenoll) sowie Wendt: Behinderte Menschen in europäischen Behindertenwerkstätten sind unionsrechtlich Arbeitnehmer – Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 26.03.2015, C-316/13 (Rs. Fenoll); Forum B, Beitrag B14-2015 unter www.reha-recht.de; 02.12.2015; Wendt: Ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse als Folge der Ausweitung der arbeitnehmerähnlichen Beschäftigung behinderter Menschen über den Bereich anerkannter WfbM hinaus; Forum D, Beitrag D11-2013 unter www.reha-recht.de 30.04.2013.

[38] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 35.

[39] Vgl. Deinert, Befristete Erwerbsminderungsrente und dann …?, Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 30–33 und  Welti, Befristete Erwerbsminderungsrente – und dann? – Sozialrechtliche Implikationen, Sozialrecht aktuell Sonderheft 2018, 34–37.

[40] Mehr dazu: Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 35.

[41] Zu den Barrieren der Rückkehr: Zschucke/Lippke/Hessel: Erwerbsminderungsrente und Rückkehr ins Erwerbsleben aus Sicht der Betroffenen; Beitrag D15-2017 unter www.reha-recht.de; 19.04.2017.

[42] Praktisch findet häufig keine Reha vor Rente statt: Mittag: Die Umsetzung des Grundsatzes „Reha vor Rente“ in der Domäne der Deutschen Rentenversicherung – Empirische Analyse der Zugänge zu Erwerbsminderungsrenten aus den Jahren 2005 bis 2009; Beitrag A14-2018 unter www.reha-recht.de; 10.09.2018.

[43] Siehe dazu: Fuchs: Intention des Gesetzgebers zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX und Begriffsbestimmung – Teil I und Teil II; Beiträge A16-2018 und A17-2018 unter www.reha-recht.de; 19.09.2018 und 21.09.2018; Heinisch: Mehr Koordination durch das Bundesteilhabegesetz?; Beitrag D13-2017 unter www.reha-recht.de; 04.04.2017.

[44] Ausschussdrucksache 19(11)180neu, S. 36.

[45] Bundestags-Drucksache 19/5586.


Stichwörter:

Erwerbsminderung, berufliche Wiedereingliederung, Anhörung, Sachverständigenaussage, Erwerbsminderungsrente, gesetzliche Rentenversicherung, Rentenreform, Zurechnungszeit, Abschläge


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